Vom Nationaltheater über die Avantgarde und revolutionäre Kunstformen bis hin zur Kulturpolitik im Staatssozialismus. Der Theaterwissenschaftler und langjährige Chefdramaturg am Schauspiel Leipzig bettet die Entwicklung des osteuropäischen Theaters in einen breiteren kulturhistorischen Kontext ein.
Die Behauptung, Europas Kultur sei zum Maß der Dinge für die ganze Welt geworden, ist nicht neu. Genauso bekannt ist die Kritik des Eurozentrismus der Wissenschaften, der die Erscheinungen und Ereignisse außerhalb Europas Grenzen oft ignoriert. Fast könnte man meinen, dass jene Geschehnisse, die nicht in den Annalen dominierender Geschichtsschreiber_innen festgehalten sind, nicht existieren.
In ähnlicher Situation befindet sich seit langem Europas Osten. Der zwar in unmittelbarer Nähe dominierender Geschichtsschreiber_innen, aber immer noch am Rand der Interessen westeuropäischer medialer und wissenschaftlicher Diskurse steht. In dem die Völker unter der Besetzung imperialistischer Großmächte bis ins 20. Jahrhundert ihr bloßes Existenzrecht erkämpfen mussten. Dessen Erinnerungen und Erfahrungen während der sowjetischen Ära im Inneren verdrängt und im Ausland als graue Masse abgewertet wurden. Weshalb nach dem Fall der Sowjetunion durch den inneren und äußeren Drang, das kommunistische Erbe aus dem Blick zu schaffen, die Ergebnisse der jahrzehntelangen, so widersprüchlichen wie ereignisreichen Entwicklungen im gesellschaftlichen sowie kulturellen Leben aus dem Bereich des Sehens-, Lesens-, Wissenswerten verschwinden.
In diesem Sinne nimmt Wolfgang Kröplins Buch, erschienen im Königshausen & Neumann Verlag, einen besonderen Stellenwert ein, denn die Geschichte des Theaters in Europas Osten bekommt hier ihre längst zustehende Aufmerksamkeit. Der Autor formuliert eine tiefe und grenzübergreifende Kulturgeschichte dieser Region. Keine leichte Aufgabe, denn es handelt sich um einen hochgradig heterogenen, polyglotten, multikonfessionellen und multiethnischen Raum mit fließenden, instabilen, meist von den Großmächten beliebig gemalten Grenzen. Trotz aller Besonderheiten ist ‘seine’ Geschichte allerdings nicht von den westeuropäischen Entwicklungen zu trennen: Zwar oft verspätet und asynchron, dringen die Tendenzen wie die der Aufklärung, Modernisierung und Nationenbildungsprozesse in den Osten ein, wofür auch das Theater exemplarisch ist. Obwohl ein beachtlicher (und zum Ende verblassender) Teil des Buches der Geschichte der Region von den vormittelalterlichen Zeiten bis zum späten 18. Jahrhundert gewidmet ist, ist die Aufteilung der Erzählstruktur in drei “Akte der Schöpfungsgeschichte” osteuropäischen Theaters sehr übersichtlich.
AKT 1. THEATER IN POLITISCHER FUNKTION: Volkstradition im Dienste der Nationenbildung
Aus Kröplins historischer Analyse geht hervor, dass das osteuropäische Theater grundsätzlich ähnliche Entwicklungsstadien durchlaufen ist, wie das westeuropäische: Obwohl die Theatertraditionen von Land zu Land sich unterschiedlich entwickelten, reichen die meisten zu den frühmittelalterlichen karnevalesken Spieltraditionen zurück, die später von den allgemein verbreiteten christlichen Mysterienspielen und Lehrstücken und schließlich vom Drama in Nationalsprachen ersetzt werden. Das Nationaltheater, diese im Westen dominierende historische Form, erscheint auch im Osten, wobei die zahlreichen Amateurtheatergruppen der Entstehung professioneller Bühnen vorausgehen. Gehindert durch die fünf Jahrhundert lange Besetzung durch die imperialen Großmächte und allgegenwärtige Fremdbestimmung, vielerorts späte Kodifizierung der Nationalsprachen sowie die Konkurrenz mit wandernden Theatertruppen aus dem Ausland und festen Theatern der herrschenden fremdsprachigen Eliten, entwickeln sich die Nationaltheater im Osten ungleichmäßig und vorwiegend im 19. Jahrhundert. Im Gegensatz zum westeuropäischen “disziplinierten”, rationalen, wirklichkeitstreuen, logozentrischen und ‘sittenstiftenden’ Theater, das auf der Basis des Bürgertums und der Ideen der Aufklärung zum Instrument moralischer Bildung und Verbreitung bürgerlicher Werte wurde, hatte das Theater im Osten andere Ziele, andere Trägerschaften – und schließlich seine eigenen künstlerischen und thematischen Ansätze. An dieser wie an anderen Stellen wird der methodologischer Ansatz Kröplins deutlich: die Entwicklung des Theaters und seiner Formen in Verbindung sowohl mit den gesellschaftlichen Verhältnissen als auch der prägenden Ideologie zu betrachten.
Da das Theater im osteuropäischen Kontext eng mit den Nationsbildungsprozessen, allgemeiner politischer und kultureller Emanzipation sowie mit der Suche nach Identität und Legitimation der Eigenstaatlichkeit der mittel-, südost- und osteuropäischen Völker verbunden war, haben historisches Drama und Lustspiele besondere Verbreitung bekommen. Während ersteres die Suche nach Gründungsmythen unterstützte, taugte zweiteres zur Alltagskritik. Bemerkenswert und fast klassen-nivellierend waren die “Wirkungsstrategien” und Methoden solchen Theaters, das im Gegensatz zu hegemonialen Kulturen der imperialistischen Großmächte keinen elitären Charakter haben sollte, um breitere Bevölkerungsschichten zu erreichen. Durch diese “Wirkungsstrategien” ist zu erklären, dass die älteren Traditionen des Jahrmarkttheaters sowie das Volkstümliche, Karnevaleske, Märchenhafte, Phantastische, Irrationale, die aus dem westeuropäischen Theater verdrängt wurden, auf den osteuropäischen Bühnen bis zum Machtantritt des Realismus ihren Platz gefunden haben. Der Reichweite und “Kritikfähigkeit” dieses Theaters ist zu verdanken, dass z.B. die Aufführungen der Puppenspiele in Balkanländern oft zu Störungen der öffentlichen Ordnung führten. Oft wurden die Veranstaltungen der Lesevereine im Süd-Osten oder Gesangsvereine in baltischen Ländern “zu Monsteraufführungen”, die neben dem gemeinsamen Gesang oder Rezitationen patriotischer Texte kleine Theaterstücke, Volkstanz und sogar Akrobatik einbeziehen konnten.
Unter solchen Bedingungen machte sich das Theater, das vielerorts noch nicht professionell oder institutionalisiert war, eine politische, gar politisierende Funktion zu eigen und wurde zum Sprachrohr sowohl für die Kritik der alltäglichen Ungerechtigkeit als auch der generellen politischen Fremdbestimmung und kulturellen Hegemonie. Dabei ist interessant, dass in den Diskussionen über Ästhetik “weniger der Streit und die Differenz verschiedener Konzepte der Ausdifferenzierung zum Tragen kommen als vielmehr ihre historisch-kritische Beziehung auf- und zueinander”, was das osteuropäische Theater von dem westeuropäischen prinzipiell unterscheidet.
AKT 2. AVANTGARDE
War die Entwicklung des Theaters in Osteuropa im 19. Jahrhundert für die im Westen geschriebene Welttheatergeschichte eine unbemerkbare, eher lokal bedeutende und mit innenpolitischen Zielen verknüpfte Erscheinung, so ändert sich die Lage schlagartig zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Unzufrieden mit der Kunst der alten bürgerlichen Ordnung befanden sich die Kunstschaffenden in ganz Europa auf der Suche nach neuen universalen künstlerischen Formen und Methoden. Im polyzentrischen Entwicklungsprozess der Avantgarde wurde – in unterschiedlichem Maße – genau Europas Osten zu einem der Angelpunkte der Geschehnisse. Was in den lokalen Kunstszenen fragmentiert vorhanden war, wurde zum Teil einer gemeinsamen Strömung, die die ganze europäische Kultur verändert hat. Dazu gehören die kubistische “Skupina”-Gruppe in Prag, die ungarischen “Aktivist_innen” um Lajos Kassák, die Gruppe “Bunt” in Posen, die “Formisten” in Krakau, der in Wizebsk wirkende Marc Chagall, Ėl‘ Lisickij und Kasimir Malevič . Auch die Bauhaus-Bewegung ist beispielhaft: in der von Walter Gropius in Weimar gegründeten Kunstschule unterrichteten unter anderem Vasilij Kandinskij und László Moholy-Nagy. Als treibende Kraft spielte die Oktoberrevolution neben dem Krisenzustand des Ersten Weltkrieges eine besondere Rolle und setzte bahnbrechende Prozesse in Gang; “eine Zeit der tausendjährigen Hoffnung”, die es den Künsten erlaubte, zusammen mit den sozialrevolutionären politischen Kräften die Welt- und Lebensordnung neu zu gestalten und die Kunst in die Alltagspraxis einzuführen. In der Entwicklung der Avantgarde sieht Kröplin eine Möglichkeit der Befreiung osteuropäischer Künste aus der “befürchteten provinziellen Enge” und von dem Blick einschließlich in sich hinein – und unterstreicht dabei die Rolle der osteuropäischen Künstler_innen in der Erschaffung neuer international und universal geprägter ästhetischer Kanone.
Begeistert belegt Kröplin mit zahlreichen Beispielen, wie das Theaterleben schon während der verheerenden revolutionären Kämpfe, z.B. in der Sowjetunion, aufblühte. Dabei, so Bernhard Reich ganz im Sinne Kröplins, wurde “das Volk mit wirklicher Kunst (beileibe keinem Surrogat!)” versorgt, “bevor es genug Brot und Frieden hatte”. Volkstümliche, spontane und improvisierte Theaterformen kamen zurück auf die Bühne. Das bereits von Edward Gordon Craig und Adolphe Appia kritisierte logozentrische Theater wurde zugunsten der brachialen physischen Bühnensprache (wie Vsevolod Mejerchol‘ds Biomechanik) und den visuellen Elementen, einschließlich dem Film geliehener Montagetechnik (wie bei Erwin Piscator), von der Bühne gedrängt. Umgekippt wurde das Verhältnis zwischen den Kunstproduzent_innen und Rezipient_innen, wobei es zur aktiven Teilnahme der Zuschauer_innen am im Theater stattfindenden Kommunikationsprozess kam: Das naturalistische Vorspiel-Theater wurde durch das Mitdenk- und Mitspiel-Theater ersetzt. Dabei wurde die Enthüllung des Illusionscharakters der auf der Bühne dargestellten Realität und die Verabschiedung von der berühmten stanislawskischen vierten Wand zu einem der wichtigsten Merkmale der Theaterentwicklung jener Zeit, die sowohl bei Evgenij Vachtangov , selbst Schüler Konstantin Stanislavskijs , und Vsevolod Mejerchol’d als auch bei Erwin Piscator und später in der kristallisierten Form in Bertolt Brechts epischem Theater zu finden war. Vermutlich weil es bereits eine Vielzahl der Forschungswerke gibt, die sich mit diesen schon kanonisch gewordenen Theaterformen beschäftigen, gibt Kröplin lediglich eine kurze Einführung zu ihren ästhetischen Prinzipien, dafür aber eine umfangreiche Übersicht der ost-europäischen Künstler_innen und Künstler_innengruppen der Avantgarde und ihrer Positionen.
Die Überlegungen Kröplins zum abrupten Ende der Avantgarde und des Theateroktobers sowie dem Übergang mit der sozialistischen Transformation in der Sowjetunion der 1930er Jahre sind besonders wichtig. Obgleich die Diskussion über den Niedergang der revolutionären Künste in der Sowjetunion oft auf den stalinistischen Terror reduziert wird, geht Kröplin einige Schritte weiter und nimmt die objektiven Bedingungen im jungen sowjetischen Staat und außerhalb seiner Grenzen unter die Lupe. Was oft als Unterwerfung der Künste dem stalinistischen Regime gesehen wird (wie z.B. im Streit über Dmitrij Šostakovič , der die Musikwissenschaftler_innen in zwei antagonistische Lager geteilt hat), ist für Kröplin “in seinem Wesen ein objektiver Funktionswandel und Adressatenwechsel”. Diese sind einerseits mit der Dringlichkeit, eine “politisch wie kulturell elementare Frontlinie gegen den aufkommenden Faschismus” in Europa zu bauen, zu erklären; andererseits mit den “komplizierten, langwierigen Aufgaben der Kulturrevolution beim Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion” sowie mit den fehlerhaften Denkmustern des Kultur- und Staatsapparats. Untermauert wurde dies 1934, als der sowjetische Ideologe Andrej Ždanov seine Thesen über den Sozialistischen Realismus als die einzig mögliche und verbindliche künstlerische Methode vortrug. Eine Methode, die die neue Lebensordnung und Denkweise in einer immer noch widersprüchlichen und “tief in kapitalistischen Vorstellungen gefangenen” Gesellschaft aufbauen und stabilisieren sollte, so Brecht. Dies resultierte in der Ächtung und Repression mehrerer Künstler_innen und Kunstströmungen im Kampf gegen Dekadenz, Formalismus und Modernismus, die zu Schimpfwörtern wurden, sowie im Rückgriff auf Methoden des Realismus des 19. Jahrhunderts, wobei jedwede Abweichung von den offiziellen Linien der Realitätsdarstellung nicht akzeptiert wurde. Im Gegenteil zu vielen Forscher_innen, z.B. Boris Groys, wird hier die Aufmerksamkeit nicht allein auf die Durchsetzung der Kunst nach den Vorbildern des Stalinismus zugespitzt. In seiner Analyse nimmt Kröplin eine breitere Perspektive ein und untersucht neben den globalen kulturhistorischen Prozessen auch die intrinsischen gesellschaftlichen und ideologischen Widersprüche, ohne dabei die dramatischen Folgen sowjetischer Kulturpolitik der 1930er zu rechtfertigen.
AKT 3. THEATER DES STAATSSOZIALISMUS UND SEINE PARALLELWELTEN
Nach den verheerenden Ereignissen des Zweiten Weltkrieges beginnt der dritte Akt der Kultur- und Theatergeschichte dieser Region. Nach der Gründung der sowjetischen Volksdemokratien gab es im Klima der allgemeinen Liberalisierung und Weltoffenheit einen “erstaunlichen Wildwuchs” der Kultur- und Theaterpraktiken, die Kröplin als nahezu pluralistisch bezeichnet. Es entstanden viele neue Theater, einschließlich auf den Sprachen der Minderheiten; die Repertoires waren bunt gemischt; dabei stieg die Anzahl der Zuschauer_innen rasant an. Das Theater, wie z.B. Piscator es sich erträumte, wurde zugänglich für breite Bevölkerungsschichten.
Allerdings folgte Ende der 1940er schon bald wieder das ‘Anziehen der Schrauben’ im gesellschaftlichen Leben, und bis nach Stalins Tod verwandelte sich das Theater ins Sprachrohr der staatlichen Ideologie. In den Versuchen des Staates, ein idealisiertes Bild der sozialistischen Realität und meist abstrakte ideologische Vorbilder durchzusetzen, sieht Kröplin die Verleugnung einer “kritischen und offenen Haltung zu den Widersprüchen der Realität” zugunsten dem ersehnten, jedoch “eher harmonisierenden Ideal”. Wie es Boris Groys harsch formulierte, das Kunstwerk stellte sich nicht “dem Urteil des Zuschauers, sondern vielmehr beurteilte – und verurteilte” (…) “den Zuschauer”, der sich fragen musste, ob er “inmitten dieses Kunstwerkes” leben konnte – und zu leben verdiente, “ohne seine Schönheit zu stören”. Erschwert wurde die Leugnung der immer noch präsenten, aber vertuschten kapitalistischen Verhältnisse durch die “linear-chiliastische Geschichtsauffassung” der Parteiführung, durch ihr mechanistisches, gar deterministisches Denken und die Vorstellung, dass “der radikale Aufbruch nun geradewegs ins “Goldene Zeitalter” oder künftige Paradies führe”, was Walter Benjamin schlicht als “sturen Fortschrittsglaube” bezeichnet hat. Diesen “Fortschrittsglaube” teilt Kröplin nicht und kritisiert dieses Denkmuster, das schon den Vordenkern des Marxismus und ihrer Überzeugung in der Unausweichlichkeit des Kommunismus als auf den Sozialismus folgende Entwicklungsstufe entstammt.
So wurde den Künsten – auch dem Theater – jegliche ernsthafte kritische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Entwicklungen sowie die Suche nach neuen Methoden untersagt. Verwandelt in das “monologische”, auf dem Sozialistischen Realismus basierende Vorspiel-Theater, blieb es in der Rolle als Instrument des Staates, auch bis nach Stalins Tod. Interessant ist, dass die sowjetische Kulturpolitik durch die “selektive Traditionsbestimmung” (hier und an anderen Stellen wäre ein vorsichtigerer Umgang mit politisch konnotierten Begriffen wünschenswert) gekennzeichnet wurde: Obwohl die Erfahrungen mehrerer Kunstströmungen, vor allem der Avantgarde, ausgelöscht wurden, fiel die Wahl auf den bürgerlich geprägten Realismus und seine Methoden (in großem Maße in der konservativen Auffassung von György Lukács) sowie – auch bemerkenswert selektiv – auf manche Elemente des naturalistischen Inszenierungskonzeptes Konstantin Stanislavskijs. Dabei tut Wolfgang Kröplin das Theater jener Epoche, entgegen anderer Stimmen, nicht als ein des Eintrages im Buch der Theatergeschichte unwertes Phänomen ab. Mit der Theorie unterschiedlicher Kultur- und Kommunikationskreisläufe – der offiziösen und der Parallel- oder Gegenkultur – gelingt es ihm, das Theaterleben in den Ostblock-Ländern – besonders nach der Entstalinisierung – als vielfältig und innovativ herauszuarbeiten.
Bereits im ersten Kreis der offiziösen Kultur hebt er neben dem staatskonformen Theater ein anderes “Segment” des Kulturlebens hervor. Dieses Randphänomen auf der Grenze des Erlaubten sind all jene Theaterschaffende, die versuchten, ihrer in institutionalisierten Häusern verwendeten Theatersprache eine unterschwellige kritische Note zu verleihen. Dieses Theater und seine Sprache war durch die verschlüsselte Kommunikation, das Groteske und Absurde, die Anspielungen und Andeutungen, Allusionen und Parabeln gekennzeichnet, die es den Künstler_innen erlaubten, kritische politische Perspektiven zu übermitteln, ohne dass es als offene Kritik entlarvt werden konnte. Schritt für Schritt haben die Theaterschaffenden ihre Spiel-Räume erweitert, bis schließlich Jerzy Grotowskis Armes Theater und Happenings-ähnliche Aufführungen mit starker Regiepräsenz von Tadeusz Kantor, Jurij Ljubimovs unterschwellige Gesellschaftskritik und Anatolij Vasilʹevs experimentelles Konzept des Theaterlaboratoriums in den 1970er und 1980er zur Welt kamen.
Im zweiten Kreislauf der Parallel- oder Gegenkultur findet man jedoch verbotene Underground-Kunst. In diesem Segment befanden sich sowohl diejenigen, die Kunst jeglicher Politisierung entziehen wollten und für ihre Freiheit plädierten als auch die, deren Kunst offene politische Kritik äußerte. Ein Paradebeispiel aus der Literatur ist der Samisdat. Das Theater dieses Segments ist, so Kröplin, noch wenig erforscht, dafür aber extrem vielseitig und innovativ, oft performativ und synästhetisch, repräsentiert nicht zuletzt durch Aktionen und Happenings, bei denen der Aktionscharakter und die Botschaften wichtiger waren, als das Kunstwerk selbst. Ein ergänzendes Beispiel außerhalb des Buches wäre die von Sergej Kurёchin gegründete, geleitete und dirigierte Pop-Mechanika -, (eigentlich) eine Musikgruppe, deren Auftritte so viele Elemente anderer Künste, einschließlich des Theaters, vereinigten, dass man es beinahe ein Underground-Gesamtkunstwerk nennen könnte. Allerdings merkt Kröplin bei solchen Kunstformen an, dass es keine feste Grenze zwischen den drei oben genannten Segmenten, sondern “zahlreiche Stadien des allmählichen Übergangs vom Untergrund zur offiziellen Anerkennung” gab (nach Krivulin). Eine satirische Aktion des bereits erwähnten Kurjёchins wenige Monate vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist ein Paradebeispiel davon, wie die inoffizielle Kultur schließlich den Damm brach: Bei einem Auftritt im Leningrader Fernsehen versuchte er mit seiner im verblüffend ernsthaften Ton und scheinbar in wissenschaftlicher Sprache gehaltenen Rede zu beweisen, Lenin sei eine Radiowelle und ein Pilz (und Pilzkonsument). So überzeugend war diese Farce, die dazu noch im staatlichen Fernsehen mit seinem Wahrheitsmonopol erschien, dass manche Zeitzeugen von offiziellen Gegenerklärungen der Regierung berichteten.
So zeigt Wolfgang Kröplin in seinem umfangreichen Werk auf, dass das Theater im Kontext politischer Unfreiheit nicht nur als wichtiges Instrument des politischen Kampfes funktionierte, sondern besonders als ästhetische Praxis fungierte und als solches evolutioniert hat. Generell ist die Breite seiner tiefgreifenden kulturhistorischen Analyse der der Werke Joachim Fiebachs nahe. Allerdings fehlt in diesem Buch, das das Theater sezierend-genau in seiner Genese vorzustellen versucht, ein vollständiges Literaturverzeichnis sowie Hinweise auf die Quellen, denen die bunte Vielfalt der Künstler_innen Osteuropas in Kröplins enzyklopädisch detaillierten Sektionen über Theater einzelner Länder oder Regionen entstammt.
Literatur
Kröplin, Wolfgang: Spiel-Zeiten und Spiel-Räume des Theaters in Europas Osten: Seiten einer Kulturgeschichte – von den Anfängen bis zum sozialistischen Ende. Würzburg 2020.
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Benjamin, Walter (1980): Über den Begriff der Geschichte. In: Goys, Boris; Tiedemann, Rolf (Hg.): Walter Benjamin, Abhandlungen, Gesammelte Schriften.
Bernhard Reich (1972): Einleitung. In: Hoffmann, Ludwig; Wardetzky, Dieter (Hg.): Theateroktober. Beiträge zur Entwicklung des sowjetischen Theaters.
Groys, Boris (2003): Massenkultur der Utopie. In: Groys, Boris; Hollein, Max (Hg.): Traumfabrik Kommunismus: Die visuelle Kultur der Stalinzeit.