Über das größere Übel – Ljudmila Ulickajas Kurzroman „Eine Seuche in der Stadt“

„Seit Urzeiten ist die Menschheit mit schrecklichen, epidemisch auftretenden Krankheiten konfrontiert . Ebenfalls seit Urzeiten ist die Menschheit auch mit der Grausamkeit von Machtapparaten, die im Laufe der sozialen Entwicklung entstanden .“

Eine Seuche in der Stadt (russ. Čuma) beschreibt das Auftreten einer potenziell pandemischen Situation im Moskau der 1930er Jahre und wie das Ausarten derselben durch den NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) verhindert wird.

 

Die Geschichte wiederholt sich

Ljudmila Ulickajas ursprünglich als Drehbuch gedachtes, 2020 aber als fiktionaler Kurzroman basierend auf wahren Begebenheiten veröffentlichtes Werk lässt sich ohne weiteres Hinterfragen sofort in Bezug auf die momentane COVID-19 Situation lesen. Das Verwunderliche daran ist, dass Eine Seuche in der Stadt nicht im Zuge der Corona-Pandemie entstand, sondern bereits 1978 geschrieben wurde.

1939 bricht in Aserbaidschan, in der ehemaligen UdSSR, die Lungenpest aus und gelangt anschließend auch nach Moskau. Mit den wenigen Informationen, die Ulickaja durch eine Freundin, die Tochter eines damals in die Bekämpfung dieser Pest involvierten Pathologen, erhielt, konstruierte sie ein Pandemieausbruchs-Szenario in der Hauptstadt mit Fokus auf dem Partei- und Unterdrückungsapparat nach. Dieser überwachte und kontrollierte zur damaligen Zeit sämtliche, sowohl politische als auch private Geschicke innerhalb des Staates. In ihrem Nachwort schreibt die Autorin, dass es sich, bis auf den Pathologen Goldin, bei „alle handelnden Personen, auch wenn sie auf reale Vorbilder zurückgehen“, um fiktive Individuen handle und sie fügt lapidar hinzu, dass „das Ende erfunden ist“.

Das Thema des Buches ist ein ungewöhnliches, da das Auftreten der Lungenpest und die mit ihr einhergehenden pandemischen Zustände in der Sowjetunion 1939 in der Bevölkerung kaum bekannt waren. Betrachtet man aber die Biografie der Autorin, die 1943 geboren wurde und einen Abschluss in Biologie sowie eine Karriere als Genetikerin vorzuweisen hat, ist ihre Faszination für das Thema aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive nachvollziehbar.

 

Pest und Impfstoff

Die Geschichte ist ganz im Sinne eines Drehbuchs aus der Perspektive eines unbeteiligten Betrachters geschrieben, genauso bezeichnend ist die Art des szenischen Erzählens mit seinen teils langen Gesprächssequenzen in direkter Rede. Am Anfang des Kurzromans werden Personen in nur kurzen Abschnitten vorgestellt. Der Ausbruch der Pandemie in Moskau wird von einem Pest-Forscher namens Rudolf Mayer, der mit der Entwicklung eines Impfstoffs beschäftigt war und sich im Zuge der Herstellung infiziert hat, verursacht. Er reist in die Hauptstadt, um seine Fortschritte vor dem Kollegium des Volkskommissariats für Gesundheit zu präsentieren. Als noch am selben Abend Symptome auftreten und die Krankheit ausbricht, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Alle Kontaktpersonen des Forschers müssen isoliert werden. Es geht schnell: Bekannte, Zugpassgiere, Hotelangestelle werden verhaftet und müssen sich unmittelbar darauf in Quarantäne begeben.

 

„Die Pest zu Zeiten der politischen ‚Pest‘“

Das Hauptaugenmerk des Buches liegt auf der Macht- und Einflussnahme des NKWD, des sowjetischen „Innenministeriums“ bzw. des Geheimdienstes. Eine Seuche in der Stadt, weil ursprünglich als Drehbuch geschrieben, liest sich auch als solches. Allerdings ist die kurze, teils abgehackte und schnelle Aufeinanderfolge von Ereignissen bezeichnend für die Arbeit des NKWD. Anfangs wirkt diese Schreibweise noch störend, sobald die Verhaftungen durch die Geheimpolizei aber beginnen, vermittelt sie den Leser_innen ein Gefühl von Getriebenheit und Gehetztheit. Die schnelle Aufeinanderfolge dieser nüchternen Isolation möglicher Infizierter lässt den Überblick verlieren, gibt aber erbarmungslos Einsicht in Überwachung und Effizienz dieser nahezu allwissenden Institution.

In der Frage „Nur die Pest?“ einer Ehefrau, die ihren Mann aus der Quarantäne holen darf, zeigt sich am Ende des Buches der Gleichmut der Menschen gegenüber epidemischen Krankheiten, die vor dem Hintergrund der gefürchteten Verhaftungen durch den NKWD fast bedeutungslos erscheinen.

 

Die Bekämpfung einer Pandemie

In einem Interview antwortet Ljudmila Ulickaja auf die Frage, ob sie Parallelen zwischen dem, was damals, und dem, was heute passiert, sehe, damit, dass es damals sowie heute keine Offenheit gebe, momentan die Behörden aber völlig verwirrt wirken.

Die Frage, die sich beim Lesen von Eine Seuche in der Stadt aber zwangsläufig stellt, ist: Gibt es auch positive Seiten an einer solchen Überwachungsinstitution? Und, mit Blick auf das vergangene Jahr 2020/21 und die COVID-19 Pandemie: Hätte die Eskalation der Pandemie durch härteres Durchgreifen der Legislative und Exekutive verhindert werden können?

 

Literatur

Ulickaja, Ljudmila: Eine Seuche in der Stadt. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. München 2020.

 

Weiterführende Links

Ljudmila Ulickaja im Gespräch mit dem Kritiker Sergej Sdobnov in „Esquire“, 2020.

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