Visibilität, Repräsentation, Aneignung: Aktionen in Solidarität mit Buča

Seitdem ab dem 2. April vermehrt die internationale Presse in den Gebieten bei Kyiv eintraf, die seit Anfang März von russischen Truppen besetzt gehalten worden waren, häufen sich Berichte über durch die russischen Besatzer verübte Folterungen, Vergewaltigungen und Erschießungen an der Zivilbevölkerung. Neben Irpin’, Motižin und Borodjanka ist dabei insbesondere die Stadt Buča, wo man zur Zeit von mehr als 400 zivilen Todesopfern ausgeht, zur metonymischen Bezeichnung für die von russischen Soldaten an der ukrainischen Bevölkerung verübten brutalen Kriegsverbrechen geworden.Die Aufnahmen aus den Orten und Kleinstädten in der Kyiver Oblast wurden Anlass für eine Reihe von Aktionen in Gedenken an und Solidarität mit den zivilen Opfern: Am 5. April veröffentlichte das russische Online-Magazin Cholod Bilder der Aktion „Buča-Moskva“, auf denen ein*e anonyme Aktivist*in an verschiedenen Orten im Zentrum Moskaus mit hinter dem Rücken zusammengebundenen Händen auf dem Boden liegend zu sehen ist. Tags darauf fanden in Berlin, Tbilissi, Vilnius und Warschau, etwas später auch in Almaty, Bratislava, Helsinki und Krasnodar Aktionen statt, bei denen die Teilnehmenden sich in Positionen, ähnlich denen, in denen die ermordeten Zivilist*innen gefunden wurden, ausgestreckt auf die Erde legten.

 

Trotz ihres gemeinsamen Bezugs auf die Verbrechen von und die Bilder aus Buča sind die Aktionen in ihrem Gehalt und ihren Implikationen keinesfalls eindeutig und nicht ohne weiteres einander gleichzusetzen, weshalb sie sich nur schwer auf einen gemeinsamen Begriff bringen lassen. In klarer Unterscheidung von den Ereignissen selbst, bei denen es sich entgegen der Behauptung der russischen Propaganda in keiner Weise um eine Inszenierung handelt, lassen sich die hier besprochenen Aktionen vielleicht als performances im Sinne bewusster symbolischer Handlungen fassen. Auf höchst unterschiedliche und nicht immer eindeutige Weise setzen sich darin verschiedene Akteure in Beziehung zu den Opfern und richten sich in spezifischer Weise an ein bestimmtes Publikum – etwa durch die Details der Inszenierung der symbolischen Akte, aber auch durch diskursives Framing im Titel oder kommentierenden Begleittext. Diese Akte stehen dabei innerhalb von historischen und bestehenden geopolitischen Machtverhältnissen und nehmen aktiv Bezug auf diese. Im Vordergrund stehen dabei meist diejenigen zwischen der Imperialmacht Russland und denjenigen Staaten und Gebieten, auf die Russland entweder als ‚Teil des eigenen Territoriums‘ oder als ‚Einflusssphäre‘ einen Imperialanspruch erhebt, den es aggressiv durchgesetzt hat, durchsetzt oder durchzusetzen versucht.

 

Die zahlenmäßig größte der Aktionen war diejenige, die in Berlin im Rahmen einer Kundgebung für ein sofortiges Energieembargo gegen Russland am 6. April stattfand: Die Organisator*innen Vitsche Berlin, eine zivilgesellschaftliche Assoziation von Ukrainer*innen, sprachen von 5000 Teilnehmenden. Für zehn Minuten legten diese sich auf den Boden vor dem Bundestag, während die Namen ukrainischer Städte, die unter Belagerung, Angriff oder Okkupation durch russische Truppen standen oder stehen, darunter mehrmals wiederholt Buča, verlesen wurden. Viele der Teilnehmenden waren in ukrainische Flaggen gehüllt und hielten auch während der Aktion ihre Plakate mit Forderungen nach einem Importverbot für russisches Gas und Öl in die Höhe. Hier ging es weniger um eine exakte Nachstellung der Bilder aus Buča als vielmehr um ein Zeichen der Solidarität, das seinen Effekt vor allem über die große Zahl der Teilnehmenden entfaltet und seine direkten Adressat*innen im Deutschen Bundestag hat, vor dem Kundgebung und Aktion stattfanden.

 

Solidarität mit den Opfern aus Buča, 06.04.2022, Berlin, © Filip Trubač.

 

Der Anspruch, den Vitsche im die Bilder der Aktion begleitenden Kommentar formuliert, ist dementsprechend einer der (dezidiert auch politischen) Repräsentation: „5000 people laid down on the ground to represent the people killed, tortured and raped by russian soldiers.“ Die Differenz der teilnehmenden Demonstrant*innen zu den in Buča grausam Getöteten ist damit der Aktion explizit eingetragen. Wer aber kann und sollte einen Anspruch auf deren Repräsentation, deren Vertretung erheben? Nur die (in Berlin sehr zahlreich teilnehmenden) direkt vom derzeitigen russischen Angriffskrieg betroffenen Menschen aus der Ukraine? Oder in einem Akt der Solidarisierung auch andere: etwa Menschen in und aus Belarus, Russland, Deutschland etc.? Nur diejenigen, die sich schon 2014 gegen die Annexion der Krim durch Russland und im Folgenden gegen den Krieg im Donbass aussprachen und einsetzten? Jede*r, der*die sich jetzt aktiv dazu entscheidet? Dass einige Teilnehmende der Kundgebung zögerten, sich ebenfalls hinzulegen, und stattdessen während der Aktion am Rand stehenblieben, deutet vielleicht schon darauf hin, dass der Grat zwischen einer Solidarisierung mit den Opfern einerseits und einer Aneignung von deren Rolle andererseits ein schmaler ist. Denn während der Akt der Solidarisierung eine Verbundenheit über geteilte Ziele und Werte gerade unter Anerkennung dessen, dass man selbst nicht gleichermaßen betroffen ist, ausdrückt, liegt im Akt der Aneignung stets auch eine Anmaßung, die instrumentell sein kann.

 

Dies wird auch anhand der Aktion „Buča—Moskva“ deutlich, die wiederum ganz anders verfährt: Hier wurde ein bestimmtes Bild aus Buča herausgegriffen, das eine mit dem Gesicht nach unten auf der Straße liegende Person zeigt, der die Hände mit einer weißen Binde hinter dem Rücken gefesselt sind. Auf den Bildern aus Moskau liegt eine fast identische gekleidete Person mit ebenfalls zusammengebundenen Händen in ähnlicher Position auf dem Boden. Statt von Repräsentation ist hier fast schon von einer Imitation der Opfer zu sprechen. Im Kommentar zur Aktion, den Cholod zwei Tage später veröffentlichte, erklärt der*die anonyme Aktivist*in: „Als ich an diesem Tag die Fotos aus Buča anschaute , hatte ich nur ein Gefühl – dass auf diesen Aufnahmen ich liege, man mich vergewaltigt, gefoltert und ausgelöscht hat.“ Was möglicherweise als Ausdruck von Erschütterung und Empathie mit den Opfern intendiert ist, läuft letztlich auf eine Identifizierung mit diesen, vielleicht gar auf eine Usurpation von deren Position hinaus, die deshalb äußerst problematisch ist, weil die Aneignung der Opferrolle sowohl von jeglicher Mitverantwortung für die Verbrechen entlastet als auch die realen Opfer symbolisch verdrängen kann.

 

Angesichts der systematischen Angriffe des russischen Militärs auf die ukrainische Zivilbevölkerung (bei weitem nicht nur in der Kyiver Oblast) sowie des von der russischen Regierung und den russischen Staatsmedien propagierten Programms der „De-Ukrainisierung“ der Ukraine, das unter dem, wie Susanne Frank schreibt, „von jeder nachweisbaren Referentialität losgelöst“ Propagandabegriff der „Entnazifizierung“ nicht nur auf eine Auslöschung des ukrainischen Staates, sondern der eigenständigen ukrainischen Identität als solcher zielt, gehen viele Expert*innen mittlerweile von einer genozidalen Dimension dieser Verbrechen aus. Insbesondere deshalb scheint eine Loslösung der Opfer und damit auch der Verbrechen von eben dieser ukrainischen Identität extrem gefährlich.

 

Die Aktion vollzieht zugleich eine topologische Transposition der Verbrechen an die Orte der imperialen Macht: insbesondere die Aufnahmen vor der Christ-Erlöser-Kathedrale und den Mauern des Kremls als Zentralen dieser Macht führen die Opfer zurück ins „Zentrum“, von dem die Aggression ausgeht. Dies reproduziert einerseits das gewaltvolle hegemoniale Verhältnis von „Zentrum“ und „Peripherie“, konfrontiert andererseits symbolisch aber auch Opfer und Täter, wobei hier nicht nur die russische Regierung und die Russisch-Orthodoxe Kirche, sondern in den Passant*innen auch die russische Öffentlichkeit angesprochen ist. Die fast in Postkartenmanier eingefangenen Ansichten aus dem Zentrum Moskaus evozieren zudem unweigerlich den Vergleich mit den verwüsteten Straßen Bučas, auf denen nicht wie in Moskau Spaziergänger*innen, sondern weitere Tote zu sehen sind.

 

Eine weitere Dimension, die allen diesen Aktionen gemein, im russischen Kontext aber noch einmal von besonderer Relevanz ist, ist die eines Sichtbarmachens der Opfer im öffentlichen Raum: Die russischen Behörden hatten die Aufnahmen aus der Kyiver Oblast zunächst als „Fake“ bezeichnet, die russische Medienaufsichts- und Zensurbehörde dann offenbar die entsprechenden Suchergebnisse aus dem RuNet getilgt, wie eine in den sozialen Medien kursierende Gegenüberstellung der für den Suchbegiff „Buča“ bei Yandex angezeigten Bilder mit den bei Google verfügbaren zeigt. Die Website von Cholod wurde schließlich am 9. April blockiert. Aktuell versuchen die russischen staatlichen Medien, die eigenen Verbrechen als die Taten von Vertretern der ukrainischen Staatsgewalt – entweder im Sinne einer „Provokation“ oder als „Säuberungen“ unter angeblich „prorussischen“ oder auch russischsprachigen Bürger*innen – darzustellen und diese damit in einer grotesken Verkehrung der Tatsachen gar im Hinblick auf das eigene zentrale Propagandanarrativ vom Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine zu instrumentalisieren.

 

Solidarität mit den Opfern aus Buča, 06.04.2022, Berlin, © Olexiy Bardadym.

Aber auch dort, wo Informationen und Bilder der in Buča verübten Verbrechen ohne weiteres abrufbar sind, spielt Visibilität und öffentliche Wahrnehmung eine Rolle, jedoch unter jeweils veränderten Vorzeichen: Neben der Aktion vor dem Bundestag fand in Berlin etwa auch eine kleinere Aktion unter dem Titel „Buča —Berlin“ statt, die ähnlich wie „Buča —Moskva“ die Verbrechen von Buča nach Berlin – etwa vor das Brandenburger Tor oder auf den Alexanderplatz – verlegte. Die Initiatorinnen ukraine_girls_berlin erklären: „Diese Fotos werden gemacht, damit die Leute sehen, was in der Ukraine passiert, und sich einig sind, dass es Bucha ist und morgen eine Lieblingsstadt der Europäischen Union sein könnte.“ Die Bilder sind auf Instagram unter dem Hashtag #heutewirmorgenihr zu finden. Die Aktion formuliert damit einen von Ukrainer*innen an deutsche Behörden und die deutsche Öffentlichkeit gerichteten Appell, die Ukraine im Kampf um ihre Freiheit und Existenz zu unterstützen. Dieser wird von der Warnung gestützt, auch Deutschland könnte bald von der Aggression Russlands betroffen sein, und fordert damit zur Identifikation oder Einfühlung auf, wobei zugleich eine (einstweilen) klare Trennung zwischen „wir“ und „ihr“ etabliert wird.

 

In Tbilissi stellt sich dieses Verhältnis noch einmal anders dar. Hier fand die Aktion vor dem Parlamentsgebäude statt, wo am 9. April 1989 eine friedliche Demonstration für die Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit Georgiens von Sondereinheiten der sowjetischen Armee brutal niedergeschlagen und 21 Menschen getötet wurden. Ein Video der Aktion, bei der die Teilnehmenden mit gefesselten Händen zu sehen sind, veröffentlichte Echo Kavkaza unter dem Titel „Wer wird der nächste sein?“ Die Frage scheint vor dem Hintergrund des Massakers von 1989, des Georgienkriegs 2008 sowie der kürzlichen Ankündigung des Präsidenten des völkerrechtlich zu Georgien gehörenden de facto-Staates Südossetien, Mitte April ein Referendum über die Eingliederung in die Russische Föderation abhalten zu wollen, fast rhetorisch. Die Solidarisierung mit der Ukraine ist hier zugleich auch ein Akt des Gedenkens an die eigenen Opfer eines aggressiven russischen Imperialanspruchs und geht mit der sehr realen Angst einher, selbst „der nächste zu sein“ – oder zum wiederholten Male zu werden. Hier zeigt sich auch eine grundsätzliche Spannung, die die Transpositionen dort, wo sie eine wenigstens relative Transferierbarkeit der Ereignisse implizieren, erzeugen: die zwischen einer Sensibilität für die Spezifik der Verbrechen von Buča innerhalb des spezifischen Imperialverhältnisses Russland/Ukraine sowie speziell des derzeitigen russischen Angriffskriegs auf der einen Seite und einem Aufzeigen von historischen Zusammenhängen und Kontinuitäten eines russischen Imperialismus (inklusive möglicher zukünftiger Konsequenzen), der letztlich aber immer auch historisch konkrete Betrachtung verlangt, auf der anderen Seite.

 

Auch in Polen, dessen Staatlichkeit, Unabhängigkeit und territoriale Integrität in seiner Geschichte immer wieder existentiell bedroht wurde – längst nicht nur, aber neben dem Deutschen Reich maßgeblich auch durch das Russische Zarenreich und die Sowjetunion – ist die Sorge, „der nächste zu sein“ groß. Unter explizitem Bezug auf die von Russland verübten Kriegsverbrechen in der Ukraine gab der polnische Präsident Andrzej Duda kürzlich bekannt, das Massaker von Katyn, das symbolisch für die Ermordung von über 22.000 Polen durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD im Jahre 1940 steht, vor einem internationalen Gericht anklagen zu wollen. Erst Gorbatschow hatte im Jahre 1990 offiziell die sowjetische Verantwortung für die Massenerschießungen anerkannt, die Aufarbeitung wurde von Seiten Russlands 2004 wieder eingestellt.

 

Gleichzeitig ist die Ukraine immer wieder auch von polnischer Seite eher als eigenes „Grenzgebiet“ zu Russland denn als eigenständiger Staat und eigenständige Kultur wahrgenommen und zur Projektionsfläche für Fragen der polnischen nationalen Identität gerade in Abgrenzung zur russischen geworden, wie Marta Figlerowicz ausführt. Die Aktion in Warschau, bei der sich eine Person mit gefesselten Händen und dem Gesicht nach unten auf die Straße legte, ist durch die ukrainische Flagge, die die Person dabei in den Händen hält, jedoch explizit als Akt der Solidarisierung und nicht der Identifizierung mit den Opfern von Buča gekennzeichnet.

 

Was die Originalaufnahmen aus Buča, auf die in den Aktionen Bezug genommen wird, nicht zeigen, sind die Täter. Dass es russische Truppen waren, die dort gefoltert, vergewaltigt und gemordet haben, ist durch verschiedene unabhängige Quellen belegt. Auch welche Einheiten genau an den Verbrechen beteiligt waren, lässt sich etwa über Handydaten, Satellitenaufnahmen und Geheimdiensterkenntnisse rekonstruieren, sogar einzelne Personen sollen mittlerweile durch Aufnahmen von Überwachungskameras und Daten aus sozialen Netzwerken als Täter identifiziert worden sein. Darüber hinaus stellt sich aber auch die Frage nach Mitttäterschaft und ‑verantwortung nicht unmittelbar Beteiligter – nicht nur im russischen, sondern auch im europäischen Kontext. Und hier involvieren die Aktionen ganz entschieden auch ihr Publikum. Durch die Auswahl des Ortes innerhalb der verschiedenen Aktionen werden zunächst auch je verschiedene primäre Adressat*innen gewählt: Die Aktionen in Almaty, Bratislava und Helsinki etwa, die dort jeweils vor den Gebäuden der russischen Botschaft stattfanden, formulieren dadurch eine klare Anklage gegen den russischen Staat und seine Vertreter*innen. Die Aktion vor dem Bundestag erhebt gemeinsam mit ihrer Forderung nach einem Energiembargo gegen Russland auch den Vorwurf der Mittäterschaft gegen den deutschen Staat, der über Gas- und Ölimporte aus Russland dessen Kriegsführung bis dato mitfinanziert. In Krasnodar positionierte sich eine junge Frau vor einem Propagandaplakat mit der Aufschrift „Zа наших – Zа русский мир“ („Für die unseren – für die Russische Welt“) und adressiert damit die Ideologeme, in deren Zeichen der Krieg von russischer Seite geführt wird, und deren Träger*innen. Eine ‚Antwort‘ folgte hier auf dem Fuße: Ein Passant rief die Polizei, die Frau wurde – wie auch die Demonstrant*innen in Almaty – verhaftet. Allgemeiner aber stellen alle diese Aktionen, die im öffentlichen Raum die Verbrechen der russischen Truppen und deren Opfer sichtbar zu machen versuchen und die darüber hinaus in Form von Foto- und Videoaufnahmen über das Internet Verbreitung finden, auch die Frage nach der Mittäterschaft und ‑verantwortung eben jener Weltöffentlichkeit, vor deren Augen diese Morde begangen werden.

 

Quelle des Beitragsbildes: Ukraine-Solidarität vor dem Reichstag, 06.04.2022, © Sophie Tichinenko.

 

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