Mit dem Angriff auf die Ukraine führt Putin ebenfalls Krieg gegen deren Kultur. Umso dringlicher ist es, diese zu schützen. Galeristin Cornélia Marang-Schmidmayr erklärt im Gespräch mit novinki, wie dies gelingen kann. Angefangen von der Betreuung ukrainischer Kunstsammlungen über die Organisation von Ausstellungen mit Werken, die von der Grausamkeit des Krieges erzählen, bis hin zur moralischen Verpflichtung gegenüber den Künstler*innen ihrer Galerie.
Wände aus rotem Backstein, Türme mit Spitzdächern und kunstvoll geschnitzte Holzbalken. Was von außen anmutet, wie ein Schloss aus verwunschenen Zeiten, ist der Sitz einer der innovativsten Institutionen der modernen Kunstszene Berlins. „Art East Gallery – Berlin Kyiv“ prangt auf dem Schild am Eisenzaun und verweist dabei auf die Mission der Galerie in fünf knappen Worten: eine Brücke bauen zwischen Berlin und Kyjiv, Deutschland und der Ukraine, West- und Osteuropa – und das alles mit Hilfe der Kunst.
Die Gründerinnen der Galerie, Cornélia Marang-Schmidmayr and Ivanna Bertrand, haben sich 2014 in Kyjiv kenngelernt. Ivanna Bertrand, die künstlerische Leiterin der Galerie, ist Ukrainerin mit französischen Wurzeln; nach ihrem Studium in Kyjiv verbrachte sie mehrere Jahre im Ausland. Nach ihrer Rückkehr in die Ukraine war sie 2017 Mitgründerin der Photo Kyiv, der größten internationalen Kunstmesse der Ukraine, die sich mit zeitgenössischer Fotografie auseinandersetzt. Die Deutsch-Französin Cornélia Marang-Schmidmayr studierte Politikwissenschaften und Europäisches Recht in Paris. Begeistert von der ukrainischen Kunst organisierte sie bereits in Kyjiv erste Ausstellungen und kulturelle Projekte, die auf solch eine positive Resonanz trafen, dass 2021 die Eröffnung der eigenen Galerien in Berlin und Kyjiv folgte.
Dass die Wahl des Ortes neben Kyjiv auf die deutsche Hauptstadt fiel, ist kein bloßer Zufall. „Berlin war als Standort für unsere Galerie perfekt, nicht nur durch die reiche Kunst- und Kulturszene, sondern besonders durch seine bewegte Geschichte. Damit meine ich nicht unbedingt den Faschismus und den Zweiten Weltkrieg, sondern vor allem die Teilung der Stadt in Ost- und Westberlin. Berlin hat dadurch ein besonderes Verständnis für die osteuropäische Kultur. Ich bin in Paris aufgewachsen, aufgrund meiner deutschen Wurzeln wurde ich in Frankreich oft auf die deutsche Kriegsvergangenheit angesprochen, die in Frankreich viel präsenter scheint als die deutsche Teilung. Als ich dann aber in den 1990ern auf Wunsch meiner Mutter meine Ferien in Deutschland verbrachte, genauer gesagt in Königs Wusterhausen, habe ich aber das genaue Gegenteil erlebt. Hier war die DDR-Geschichte noch deutlich spürbar. Vieles von damals ist sehr vergleichbar mit dem Leben in der Ukraine, auch zwanzig Jahre später“, so die Geschäftsführerin der Galerie Marang-Schmidmayr.
Zunächst sollte es bei der Art East Gallery nicht ausschließlich nur um ukrainische Kunst gehen, sondern um Kunst aus Osteuropa im Allgemeinen. „Als ich in Kyjiv gelebt habe, war ich erstaunt, wie wenig von der Kunst und Kultur Osteuropas im Westen bekannt ist, trotz ihrer hohen Qualität. Was mich besonders beeindruckt hat, war die Kraft des subjektiven Ausdrucks in der osteuropäischen und vor allem auch der ukrainischen Kunst, welches ich in der zeitgenössischen westlichen Kunst immer öfter vermisse. Jede Generation in Osteuropa hat so viel durchgemacht und erlebt, ob Revolutionen, Unterdrückung, Befreiung oder Krieg – und diese Traumata drücken sich in der Kunst aus. Ich begann Ausstellungen und Veranstaltungen mit osteuropäischer Kunst in Kyjiv zu organisieren, die extrem positiv aufgenommen wurden und bei denen wir auch Werke verkaufen konnten. Es war offensichtlich, dass hier eine Leerstelle im Kunstmarkt besteht.“
Danach ist das Projekt immer weiter gewachsen bis hin zu den Galerien in Berlin und Kyjiv. Heute vertreten Bertrand und Marang-Schmidmayr fast ausschließlich ukrainische Kunst. „Es ist nicht mehr so wie am Anfang. Nach Beginn der umfassenden Invasion ist es zu einem ukrainischen Projekt geworden“, erklärt Marang-Schmidmayr.
Im Herbst 2022 folgte mit Not a Dream dann auch die erste Ausstellung der Galerie, die sich direkt mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine auseinandersetzt. Gezeigt wurden Werke von Vlada Ralko und Vlodomyr Budnikov, die während des Krieges entstanden sind. Seit fast zehn Jahren arbeiten beide Künstler an Projekten, in denen sie sich mit Krieg und Gewalt auseinandersetzen. 2022 kam der Krieg in ihre Heimatstadt. Beide stammen aus Kyjiv, sind in der Ukraine schon seit langem etablierte und erfolgreiche Kunstschaffende. Sowohl in Ralkos Serie Lviv’s Diary (2022) als auch in Budnikovs Arbeiten wie Time of War (2022) dominieren düstere Farben im Kontrast zu stechendem Rot, das an frisch vergossenes Blut erinnert. Beide beschäftigen sich mit der Darstellung von Körpern und deren Fragmentierung. Geschundene und zerstückelte menschliche Gestalten neben Totenköpfen und Gerippe bilden die zentralen Motive der Zeichnungen, gelegentlich auch in Verbindung mit Hammer und Sichel oder diversen Kriegsgeräten. Die Linienführung wirkt dabei fast skizzenhaft, wie in aller Eile aufs Papier gebracht, und drückt damit umso mehr die enorme Emotionalität im Chaos des Krieges aus, für die Sprache und Worte nicht mehr ausreichen. „Ich drücke das, was ich gesehen habe, in meinen Werken aus: Viele der Dinge, die mir wichtig sind, lassen sich nicht in Worte fassen“, so Volodymyr Budnikov in einer Pressemitteilung zur gemeinsamen Ausstellung Issue of Language mit Vlada Ralko in Berlin-Reinickendorf im März dieses Jahres. Mit ihren Werken wollen sie ein tieferes Verständnis für die Leiden der Menschen in der Ukraine schaffen, das über die bloßen Kriegsnachrichten auf den Computer- und Handybildschirmen hinausgeht. Der Ausstellungstitel Not a Dream in der Art East Gallery referiert dabei die Grausamkeit der russischen Verbrechen in der Ukraine, die in unserer Lebensrealität unvorstellbar erscheint.
Dieses ständige In-Erinnerung-Rufen der aktuellen Kriegssituation ist die Hauptmotivation der Galeristinnen: „Als Putin von Entnazifizierung sprach, wussten wir, dass die Ukraine zerstört werden soll und wir handeln müssen. Binnen weniger Tagen haben wir ein Netzwerk zur Notarbeit aufgebaut, um vor allem Menschen und Kunstwerke aus dem Land zu schaffen. Denn Putin will auch die ukrainische Kultur zerstören, umso wichtiger ist es, diese zu schützen. Putin will, dass die Ukraine keine Kultur mehr hat – und damit auch keine Identität.“ Das Auslöschen der nationalen Kulturen hat eine sowjetische Vorgeschichte, die erst seit kurzer Zeit aufgearbeitet wird. „Die Dekolonisierung der Kunst ist ein Thema, das noch sehr viel Forschung und Aufarbeitung benötigt. So ändert man nun allmählich die Beschriftung der Kunstwerke in Museen und nennt statt ‚Sowjetunion‘ die genauen Geburtsorte der Künstler*innen. Selbst solche kleinen Details waren zuvor Argumente, um zu behaupten, osteuropäische Staaten wie zum Beispiel die Ukraine haben keine eigene Kultur.“
Um dem entgegenzuwirken und um zu zeigen, dass auch die zeitgenössische kreative Szene der Ukraine weiterhin unerschrocken an neuen und mutigen Projekten arbeitet, folgte im Frühjahr 2023 die Gruppenausstellung The Time Has Come in der Art East Gallery – ausschließlich mit ukrainischen Künstler*innen. Darunter vertreten war auch die Künstlerin Olesya Dzhurayeva, die neben ihren Linolschnitten, vor allem auch in ihren öffentlichen Briefen und Artikeln über das Leben in der Ukraine während des Krieges erzählt. „Eines Morgens, am 24. Februar 2022, wachst du zu einem Geräusch auf, welches du noch nie zuvor gehört hast. Dein Ehemann sagt ein Wort, welches du in diesem Moment kaum begreifen kannst: ‚KRIEG‘. Du bist verwirrt und fühlst dich taub. Warum passiert das? Was sollen wir jetzt tun und wo sollen wir hingehen? Du hast darauf keine Antworten. Du hast nur Wut gemischt mit Verzweiflung in dir. Das Land wird mit einem dicken Schleier des Horrors überdeckt. Das ist die Realität, in welcher wir uns wiederfanden und irgendwie mussten wir handeln. Nachdem wir die Nacht in Kyjiv verbracht hatten, ist unsere Familie in ein kleines Haus in einem Dorf im zentralen Teil der Ukraine gezogen. Auf unserem Weg dorthin sahen wir Militärequipment, aber wir wussten nicht, zu wem es gehörte. Flugzeuge donnerten am Himmel“, heißt es in ihrem öffentlichen Brief mit dem programmatischen Namen Never Give Up, den sie im Juli 2022 auf ihrer Website veröffentlichte. Dabei betont sie besonders die Bedeutung der Kunst und Kreativität in Zeiten, in denen alles voller Schmerz und Trauer sei. So stellte sie während des Krieges, unter anderem auch bedingt durch die Knappheit an Zeichenmaterialien, ihren ersten Holzschnitt her, welchen sie Window of Hope nannte, gedruckt mit Erde und Wasser. „Window of Hope wurde zu meinem puren Gefühlsleben, ohne irgendwelche Ideen oder Gedanken dahinter. Jeder Druck war einzigartig. Und dieser Holzschnitt erfüllte mein Innerstes: Ich werde arbeiten, ich werde leben, ich werde kämpfen! Jetzt hatte ich ein Ziel.“ Wie schwer dieser Rückzug in eines kleines Dorf auf das Land für die Künstlerin gewesen sein mag, lässt sich neben ihren öffentlichen Briefen und Artikeln auch in ihren Kunstwerken erahnen. Zeigten ihre Linoleumschnitte zuvor vor allem Stadtlandschaften – egal ob Kyjiv, Stockholm, Paris oder Berlin – veränderte sich das Sujet ab 2022. Anstelle des urbanen Alltags europäischer Metropolen zeigen Werke wie Immerse yourself, Immersion into the landscape, Immersion into the moment nun eine radikale Rückbesinnung: auf sich selbst, die Landschaft und den Moment.
Der Notwendigkeit der Kunst in solch traumatischen und gänzlich hoffnungslos erscheinenden Situationen sind sich auch Ivanna Bertrand und Cornélia Marang-Schmidmayr mehr als bewusst. Unmittelbar nach Ausbruch des Krieges gründen sie die „Peace for Art Foundation“, die direkte Hilfe an ukrainische Kunstschaffende bereitstellt. Ihnen ist aber auch die direkte Verbindung mit den Künstler*innen der Galerie wichtig. Dazu gehören auch mal Waldspaziergänge und emotionale Hilfestellungen. „Es ist eine Mischung aus humanitärer Hilfe und Business“, beschreibt Marang-Schmidmayr die aktuelle Situation und merkt auch an: „Andere Galerien haben diese Probleme nicht. Uns ist es vor allem auch wichtig, Verständnis für die Leiden und die Emotionen unserer Künstler*innen aufzubringen und dieses auch in unserer Arbeit umzusetzen. So arbeiten wir momentan nicht mit russischen Künstler*innen zusammen, da dies für viele unserer ukrainischen Künstler*innen ein sehr schwieriges Thema ist. Wir verstehen das und haben uns entschieden, in der Zusammenarbeit mit russischen Künstler*innen zunächst eine Pause einzulegen.“
Neben der Galerie und der „Peace for Art Foundation“ haben Bertrand und Marang-Schmidmayr ihr Projekt abermals im letzten Jahr erweitert und nun die „Art East Art Agency“ gegründet. Dabei geht es darum, die Verbindung von West- und Osteuropa zu stärken und vor allem auch langfristige Verbindungen herzustellen. Darunter fallen professionelle Beratung im Umgang mit ukrainischer Kunst sowohl im Privatem aber auch für Institutionen und Museen, Hilfe bei der Betreuung von Ausstellungen ukrainischer Kunst, Organisation von Events für Unternehmen, um sie mit der osteuropäischen Kunstszene vertraut zu machen, aber auch Bildungsprojekte für Kinder und Jugendliche, denn Marang-Schmidmayer betont: „Weder kulturell noch topografisch sind wir gerade hier in Deutschland weit von Osteuropa entfernt.“
Momentan erleben wir einen wahren Boom an Ausstellungen ukrainischer Kunst. Dabei stellt sich die Frage, wie nachhaltig dieses Interesse wirklich ist und wie den Künstler*innen damit dauerhaft geholfen wird: „Ich bin mir sicher, dass das Interesse an ukrainischer Kunst nachlassen wird. Daher ist es für uns umso wichtiger, dass wir auch mit öffentlichen Institutionen und Museen arbeiten. Es geht uns vor allem darum, zu versuchen, Stabilität für die ukrainischen Künstler*innen und dauerhafte Verbindungen herzustellen, auch über den deutschen Markt hinaus. Weitere Standorte der Art East Art Agency sind Paris und Brüssel, aber auch in den USA sind wir momentan aktiv. So transportieren wir gerade Werke der ukrainischen Grafikkünstlerinnen Kristina Yarosh und Anna Khodkova nach Philadelphia, wo eine Ausstellung mit ihnen folgen wird. Auch in Paris im Vorfeld der olympischen Spiele sind mehrere Projekte geplant.“
Kristina Yarosh und Anna Khodkova gründeten 2016 das Druckstudio „Etchingroom“, welches zum festen Programm der Art East Gallery gehört. Gleich zwei Ausstellungen der Künstlerinnen zeigte die Galerie 2022. Die Ausstellung It was crowded yesterday ist dabei die direkte Auseinandersetzung der Künstlerinnen mit den Ereignissen in der Ukraine, ob Krieg, Flucht oder Widerstand. Der Titel der Ausstellung bezieht sich zum einen auf die Ukrainer und Ukrainerinnen, die sich zu Beginn des Krieges an Bahnsteigen versammelten, um aus dem Land zu fliehen. Aber auch auf den Moment, als sich Hunderte von Menschen in Kyjiv trafen, um sich trotz des Krieges ein Konzert im Untergrund anzuhören. Beide unmittelbaren Reaktionen der Menschen auf den Krieg zeigen die Werke der Grafikkünstlerinnen. Ihre Ästhetik zeichnet sich durch einen überquellenden Detailreichtum und einen Hang zur – manchmal karikaturistischen – Tragikomik. Dabei schaffen sie eine ungewöhnliche, beinahe paradoxe Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft. So sind in ihren Arbeiten moderne und futuristische Maschinen und Transportmittel, wie Flugzeuge oder auch fliegende Untertassen zu sehen, die im Medium der etwas altertümlichen Technik der Radierung seltsam anmuten. Bereits in ihren Werken aus dem Jahr 2021 sind Kriegsmaschinen wie Bomben oder U-Boote zentrale Motive ihrer Kunstwerke, die in üppig gestalteten Alltagszenen cartoonhaft wirken. Das Thema der Flucht und des Verlassens der Heimat wurde darauf abermals in der zweiten Ausstellung Point de départ aufgegriffen. Werke wie Shelter verdeutlichen die Tragik der Situation der ukrainischen Bevölkerung. Die gezeichneten Menschen im Bunker werden umrahmt vom tiefen Schwarz der vielen Erdschichten, das sie von der Oberwelt trennt. Sie scheinen wie Touristen angezogen zu sein, gewöhnliche Menschen auf dem Weg in den Ski- oder Strandurlaub. Mit Koffern und Rucksäcken sitzen sie auf dem Boden oder einer Bank im ungemütlichen Unterschlupf als würden sie auf den Bus in die Ferien warten. Über der Erde steht bereits ein vollbeladener Neuankömmling mitsamt Katze und geflicktem Koffer – er blickt auf den Boden unter dem sich seine neue Unterkunft für die nächsten Stunden, vielleicht auch Tage befindet. Die Münder der Menschen sind gerade Linien, kein Lächeln, aber auch kein zur Verzweiflung verzerrtes Gesicht, nicht Hoffnungslosigkeit prägt die Stimmung der Figuren im „Etchingroom“, sondern Resignation und vor allem Ungewissheit.
Viele der ukrainischen Künstler sind in der Ukraine geblieben und greifen aktiv in den Krieg ein. So kämpfen einige direkt an der Front; ein Künstler hat seine Drohnen, welche er sonst für die Produktion seiner Kunstwerke nutzt, nun dem ukrainischen Militär zu Verfügung gestellt, wie die Galeristin berichtet und hinzufügt: „Andere bewegen sich aber auch weiterhin in Westeuropa. Auch wenn Deutschland und Polen durch die topografische und kulturelle Nähe zur Ukraine für sie oft am günstigsten ist.“ Neben all der Hilfe für die zeitgenössischen Künstler*innen hebt Cornélia Marang-Schmidmayr auch hervor, wie wichtig es ist, die musealen Kunstwerke der Ukraine zu schützen. Das bedeutet konkret, diese aus dem Land heraus zu transportieren. Hier greift erneut das Ziel zu verhindern, dass die Kultur der Ukraine zerstört wird. So ist das Lagern der Kunstwerke eine ebenso wichtige Aufgabe wie die Finanzierung von Künstler*innen und Ausstellungen. In jedem Fall gilt es, die Kunst um jeden Preis zu schützen und zu bewahren. Denn wie Marang-Schmidmayr betont, „ist Kunst eine friedliche Sprache.“
Das Beitragsbild zeigt die Radierung The Bomb, © Etchingroom.