Wenn die Trauer um die verstorbene Mutter internalisierten Sexismus und Mutterkomplexe offenbart: In She loved blossoms more (2024) fragt der griechische Regisseur Yannis Veslemes, was drei junge Männer antreibt, mit einer selbstgebauten Zeitmaschine ihre Mutter zurück ins Leben zu holen. Spoiler: Auf ödipale Weise können sie sich keine Welt ohne Mutter vorstellen.
Hedgehog erwacht aus dem unruhigen Schlaf eines Drogenrauschs. Er öffnet die Augen und sieht eine gewaltige Blume vor sich. Anstelle einer Blüte befindet sich eine Vulva am Ende des dicken Stiels, welche den Kopf des Wesens darstellt. Lippen und Schleimhäute der Vulva sind detailliert zu erkennen, man sieht, dass sie feucht ist und es scheint gleichzeitig so, als würde sie Hedgehog direkt ansehen. Ob Hedgehog halluziniert oder die Figur ihm tatsächlich erscheint, bleibt ungewiss. Jedenfalls beginnt sie zu sprechen, wobei sich ihre inneren Lippen wie ein Mund bewegen. Hedgehog erschreckt sich: die Blumen-Vulva hat die Stimme seiner Mutter. Sie schlägt ihm vor, dass er doch Sex mit Samantha haben solle, der Freundin seines Bruders. Nachdem sie wieder verschwunden ist, findet Hedgehog Samantha im dampfenden Gartenteich. Fieberhaft beginnen die beiden, sich zu berühren und Samantha befiehlt ihm, so hart in sie einzudringen, dass es wehtut.
Der griechische Film She loved blossoms more mit dem Originaltitel Agapouse ta louloudia perissotero, erschienen 2024 unter der Regie von Yannis Veslemes, handelt von drei Brüdern mit den Spitznamen Hedgehog, Dummy und Japan, gespielt von Aris Balis, Julio Katsis und Panos Papadopoulos. Die drei jungen Männer leben gemeinsam im Haus ihrer Eltern in Athen. Finanziert durch ihren Vater, der inzwischen nach Paris gezogen ist, arbeiten sie daran, aus dem alten Kleiderschrank ihrer verstorbenen Mutter eine Zeitmaschine zu bauen, um diese aus der Vergangenheit zurück ins Leben zu holen. Im chaotischen, dunklen Wohnzimmer stehen mehrere Computer, Tische und ein großer Kleiderschrank, welcher auch in leuchtenden Linien auf den Computern abgebildet wird. Verschiedene Tiere werden in den Schrank gesperrt, um sie in eine andere Dimension, beziehungsweise in die Vergangenheit zu transportieren. Ein Huhn verliert dabei seinen Kopf und hat nun eine klare Schnittkante am Hals, die in grünen Farben schimmert. Die Brüder sind davon unbeeindruckt und fokussieren sich einzig darauf, ihre Mutter lebendig von den Toten zurückzuholen. Die Trauer um sie ist allgegenwärtig, wobei nicht klar ist, wen sie mit ihrem Experiment zurückzuholen versuchen: ihre Mutter oder eine idealisierte Vorstellung von ihr?
Verlustbewältigung im Drogenrausch
Wenn die Zeitmaschine angeschaltet wird, erleuchtet das Wohnzimmer in einem bläulichen Licht, das flackernd an- und ausgeht. Die meisten Szenen aber werden von den Farben Rot und Grün dominiert: auf den Computern ist grüne „Matrix-Schrift” zu sehen und die Figuren sind in rotes und orangenes Licht getaucht. Der Kontrast zwischen Hühnerstall und technischen Geräten erzeugt eine retro-futuristische Ästhetik, welche durch eine übernatürlich wirkende Farbpalette eine hypnotisierende Atmosphäre erzeugt. Zudem sehen wir wiederholt Ausschnitte in 2D, die den Anschein erwecken, als sähe man aus einem schrägen Winkel auf den Bildschirm. Oder als befänden wir uns als Zuschauende in einer anderen Gegenwart und könnten nur von außen in die Zeitzone der Brüder blicken. Zwar wird immer wieder erwähnt, dass die Geschwister sich in Athen befinden, doch da sie nie das Grundstück verlassen, wirkt das Haus der Eltern – verstärkt durch den 2D Effekt und die eben beschriebene Darstellung des Drogenrauschs der Protagonist*innen – wie abgespalten von der Realität.
Ein behütetes, klassisches Familienleben ist wohl die größte Sehnsucht der drei Söhne. Doch sie scheinen jemanden zu vermissen, den es nie gegeben hat. Durch die unterbewussten Sehnsüchte nach einer behüteten Kindheit und den idealisierten Vorstellungen von einer „perfekten” Frau, haben sie in Gedanken eine neue Version ihrer Mutter erfunden. Was sie als Trauer deuten, ist womöglich eher ihr Irrglaube, einen Anspruch auf so eine Mutter zu haben. In Flashbacks sehen wir die namenlose Frau glücklich und stolz in einem Gewächshaus voller Rosen. Einer der Brüder erinnert sich gegen Ende des Films an die Rosen und kommt voller Trauer zu der Feststellung, dass seine Mutter Blüten mehr geliebt hätte als ihre Kinder. Eine übertriebene Sichtweise auf die Tatsache, dass die Frau neben ihren Kindern auch andere Interessen und Leidenschaften hatte. Doch Dummy, Hedgehog und Japan malen sie sich als klassische Hausfrau aus, für die ihre Kinder immer an erster Stelle gestanden hätten und die täglich kochen und putzen würde sowie überglücklich wäre, lebendig aus der Vergangenheit zurückzukehren, um ein konservatives Familienleben zu führen. Momentan haben sie aber nur einander, also versuchen sie halbherzig, jene Aufgaben zu übernehmen, die sie wohl von ihrer perfekten Mutter erwarten würden, wie zum Beispiel für weihnachtliche Stimmung zu sorgen: („We need to decorate the house, it’s fucking Christmas!”). Die bunt blinkenden Weihnachtslichterketten inmitten des Chaos führen jedoch nur dazu, dass das Haus noch gruseliger wirkt als zuvor, und das Essen, das Dummy für seine Brüder kocht, schmeckt nicht. Seine Bemühung ist der Versuch, eine familiäre Stimmung zu schaffen, auch wenn allen bewusst ist, dass es ihm nicht gelingen wird. Zum Glück ist die Zeitmaschine bald bereit, um eine echte Hausfrau zu erschaffen, die mit ihren „weiblichen Instinkten“ für eine wohlige Stimmung sorgen wird.
Zwei Frauen im Zentrum des Gefühlschaos
Eines Abends taucht tatsächlich eine Frau im Haus der Brüder auf. Samantha, die eine lockere Liebesbeziehung mit Dummy führt, lässt sich auf die Couch im Wohnzimmer fallen und beginnt, ihre mitgebrachten Drogen auszupacken. Als sie im oberen Stock zur Toilette gehen möchte, trifft sie auf das kopflose Huhn, das ebenfalls Samantha heißt. Die Sache mit der Zeitmaschine scheint sie nicht sonderlich zu beeindrucken, dennoch stellt sie ein paar Fragen, woraufhin Hedgehog vermutet, sie sei entweder sehr dumm oder aber super schlau. Mit Samanthas Erscheinen verändert sich die Stimmung im Haus grundlegend. Da die Brüder dieses Grundstück scheinbar so gut wie nie verlassen („No one ever leaves home”), sind sie auf diesen Raum beschränkt – und diesem auch ausgeliefert. Ihre eigenen Emotionen, Fehler und Irrtümer zirkulieren in einer ewigen Spirale, in der sich mittendrin der alte Kleiderschrank der Mutter und Samantha befinden. Samantha löst mit ihrer Anwesenheit ein Gefühlschaos bei den Brüdern aus. Außerdem kocht sie nun das Abendessen und trägt dabei dieselbe Schürze, die vorher Dummy in der Küche trug. Im Gegensatz zu seinem Gericht ist das von Samantha jedoch unglaublich lecker, was die Brüder glücklich betonen. Diese Szene macht besonders deutlich, dass die drei jungen Männer nie gelernt haben, ohne ihre Mutter ein selbstständiges Leben zu führen. Dass sie Samanthas Gericht so hoch loben, ist ein typisches Verhalten aus altmodischen, heteronormativen Ehen, in welchen versucht wird, die Frau an häusliche Tätigkeiten zu binden und sie darauf zu reduzieren. Die Zufriedenheit der Brüder über das leckere Essen ist weniger ein Kompliment an Samantha als vielmehr eine Eingrenzung ihrer Fähigkeiten um sicherzustellen, dass sie in ihrer patriarchalen Rolle bleibt. Gleichzeitig sind die Glücksgefühle der Brüder real, da sie seit dem Tod der Mutter auf sich und ihre fehlenden Haushaltskompetenzen gestellt waren. Zum ersten Mal „kümmert“ sich mal wieder jemand um sie, wodurch ihre Mutterkomplexe getriggert werden. Da sie mit wenigen Menschen Kontakt haben, ist es naheliegend, dass Samantha bei den dreien eine gewisse Assoziation mit der Mutter auslöst. Fast so, als seien die Mutter und Samantha die einzigen Frauen, die es auf der Welt gäbe.
Liebesspiele gipfeln im Femizid
Ihre echten Persönlichkeiten rücken in den Hintergrund, sie verkörpern für die Brüder nur noch ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit. Samantha scheint durch all die Assoziationen zwischen sich und der Mutter eine gewisse Macht über die Männer zu haben, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sich nicht nur Dummy, sondern auch Hedgehog und Japan sexuell zu Samantha hingezogen fühlen. Sie können die Gefühle für ihre Mutter und Samantha nicht mehr auseinanderhalten, alles vermengt sich. Samantha scheint das Spiel zu genießen und lebt ihre sexuelle Macht aus, um der Reihe nach mit allen Brüdern Sex zu haben. Interessant ist hierbei, dass Hedgehog wohl nie vorgehabt hätte, etwas mit der Freundin seines Bruders anzufangen; auf diese Idee hat ihn erst die Vulva-Blume mit der Stimme seiner Mutter gebracht. Er hat auf den Rat seiner Erzeugerin, der Vulva, die ihm das Leben schenkte, gehört – und bevor er viel nachdenken konnte, wurde alles Weitere von Samantha initiiert. Es hat ihm offenbar gut gefallen, sich von den beiden Frauen leiten zu lassen. Das weist auf seine komplette Unselbständigkeit und Passivität hin, die sich nicht nur auf die Ordnung im Haus, sondern auch auf seine charakterlichen Eigenschaften auszuwirken scheint. Später findet Hedgehog Samantha im oberen Teil des Hauses, unter ihr liegt Japan, einen Joint rauchend, während sie stöhnend auf ihm sitzt und voller Genuss das Gefühl der Überlegenheit auslebt, wohl wissend, dass ihre Macht nicht echt ist. Hedgehog wird wütend, hat Streit mit Samantha, der darin eskaliert, dass er sie gewaltvoll in den Zeitmaschinen-Kleiderschrank stößt und diesen am Computer einschaltet. Samanthas Macht- und Liebesspiele haben sie nicht davor bewahrt, als Versuchsobjekt in eine tödliche Maschine gesperrt zu werden. Samantha hat mit allen Männern geschlafen, die im Haus leben und Hedgehogs darauffolgendes Handeln zeigt, dass er glaubt, sie dafür bestrafen zu müssen, wobei er sie wahrscheinlich auch zuvor schon nicht respektiert hat. Mit dieser Szene, in der er sie nun einer tödlichen Gefahr ausgesetzt wird, wird das Bild eines klassischen Femizids dargestellt. Samantha hat für alle drei Männer ihren Wert verloren. Sie taugt jetzt genauso viel wie das kopflose Huhn, das ihren Namen trägt.
Die Parallelen zwischen dem Verhalten der Brüder gegenüber Samantha und ihrer Sehnsucht nach der Mutter zeigen, dass es hier nicht um die beiden Personen als Individuen geht, sondern um das Frauenbild der drei Männer. Grenzen zwischen sexuellem Verlangen und Liebe zu ihrer Mutter verschwimmen; übrig bleiben eine Vulva und ein Weihnachtsessen. Ohne Zweifel ist es schmerzhaft, die eigene Mutter zu verlieren und sehr nachvollziehbar, dass man sich einen geliebten, verstorbenen Menschen am liebsten zurückholen würde. In diesem Fall wird aber kein echter Mensch vermisst. Drei erwachsene Männer glauben, Anspruch auf eine fürsorgliche, harmonievolle Frau zu haben, die sie mit endloser Liebe überschüttet und sich in deren Familienzuhause um aller Wohlbefinden kümmert. Auszuziehen und für sich selbst zu sorgen, scheint ihnen eine größere Herausforderung zu sein als eine Zeitmaschine zu bauen. Die Frage, wer ihre Mutter tatsächlich war, rückt auf Grund der Mutterkomplexe der Söhne völlig in den Hintergrund. Auf ödipale Weise können sie sich keine Welt ohne Mutter vorstellen.
In einer der letzten Szenen steigt die Mutter aus ihrem Grab. Sie wirkt wütend, als hätte sie die ganze Zeit gespürt, dass ihre Kinder versucht haben, sie zum Leben zu erwecken. Als sie nach oben zum Fenster schaut, wo ihr Sohn Hedgehog sie verängstigt beobachtet, erstrahlen ihre Augen als zwei rote Laser. Im Garten steht keine liebevolle, vor Glück über das Wiedersehen weinende Mutti. Doch das ist sie, wie Hedgehog jetzt vielleicht begreift, auch zu Lebzeiten nie gewesen.

She loved blossoms more (Originaltitel: Agapouse ta louloudia perissotero), Regie: Yannis Veslemes, Griechenland/Frankreich, 2024, 86 Min.
Quelle des Beitragsbilds: NIFFF, https://nifff.ch/en/prog/2024/film/she-loved-blossoms-more/. Quelle des Filmposters: Yellow Veil Pictures, https://yellowveilpictures.com/she-loved-blossoms-more/.