Warnung vor der Epidemie „der falschen Mythen“: der Roman „Kontraendorfin“ von Svetislav Basara

Seit mehr als einem Jahr kämpft man mit der Pandemie und pendelt dabei zwischen Verzweiflung und Quarantäne, in der Hoffnung auf bessere Zeiten. Auf eine ähnliche Weise versucht der Protagonist des Romans Kontraendorfin, einen Weg aus der eigenen epidemischen Lage, der Epidemie falscher Geschichtsinterpretationen, zu finden, die in Serbien grassieren.

 

Der mit dem NIN-Literaturpreis für das Jahr 2020 ausgezeichnete Roman Kontraendorfin von Svetislav Basara schildert den jahrzehntelangen Kampf eines Menschen namens Kaloperović gegen eine zerteilte Welt auf dem Balkan, in der historische Ereignisse fragwürdig dargestellt und Nationszugehörigkeiten kritisch beleuchtet werden. Um die weitere Verbreitung der Unwahrhaftigkeit zu verhindern, in der sich Serbien befindet,  nimmt Kaloperović die biblische Warnung „mene, tekel, ufarsin“ („gezählt, gewogen, zerteilt“) ernst und rechnet mit den historischen Mythen skrupellos ab. Diese prophezeienden Worte, die im Roman aus dem Munde von Kaloperovićs im Sterben liegenden Seelenverwandten kommen, deuten auf die Zukunft des Landes hin, in dem die geschichtlichen Verstrickungen und der ansteckende Nationalismus ein Problem darstellen.

 

Mit seinem jüngsten Buch bereichert Basara durch einzigartige Wortwahl seine begeisterten Anhänger_innen erneut und setzt die Darstellung des Unmöglichen aus dem Roman Andrićs Leiter der Schrecklichkeit (Andrićeva lestvica užasa) fort. Sowohl in diesem als auch im vorherigen Werk liegt der Schwerpunkt dabei nicht auf Andrić, wie einige Kritiker_innen annahmen, sondern auf „der kollektiven serbischen Adoration von Andrić“wie Basaras langjähriger Freund und Schriftstellerkollege Miljenko Jergović es schlicht formulierte. Andrić stellt in Kontraendorfin nur einen der zu entlarvenden serbischen Mythen dar, die der Roman sich vornimmt.

 

„Kontraendorfin“ als Auslöser für Verbrechen und eine existenzgefährdende Lebensart

 

Durch die Genreangabe „Disseration“ wird dem Lesepublikum schon von Anfang an aufgezeigt, dass es sich hierbei nicht um ein unkompliziertes Werk handelt, sondern um eine umfangreiche ‚Streitschrift‘. Basaras literarische ‚Dissertation‘ beruht auf der zunächst aufgestellten, dann begründeten und bewiesenen These über das irrationale Verhalten der serbischen Gesellschaft, die von einer zutiefst nationalistischen Doktrin geleitet wird. Die Ursache für diese Irrationalität identifiziert der Autor in einer übermäßigen Ausscheidung des Hormons ‚Kontraendorfin‘, das als Gegenstück zum Glückshormon Endorphin fungiert. Die Folgen der überschüssigen Sekretion dieses Hormons sind irrationale Erschießungen, blutige Kriege, die rücksichtlose Aneignung fremder Nobelpreisträger (nicht einmal, sondern zweimal!: Andrić und Handke werden als serbische Literaten gefeiert) und deren Verehrung mithilfe von staatlichen Auszeichnungen, Lauschaktionen und der Infragestellung der Loyalität der eigenen Bürgerinnen und Bürger, der Ermordung des eigenen Premierministers, der Schaffung von Schund und Kitsch… mit einem Wort zusammengefasst ein „Krpež-trpež“-Leben („ein Flickwerk, eine kaum zu ertragende Lebenslast“). Der Autor selbst erklärt seinen Neologismus als „Folge der Misere, in die Serbien geraten ist“, und erwähnt ihn sehr oft in seinen Kolumnen in der Zeitung Danas, für die er elf Jahre, drei Monate und elf Tage geschrieben hat, bevor er kurz vor der NIN-Preisverleihung auf eine populistische Zeitung umstieg. Ist Basaras Wechsel zu einer regimefreundlichen Massenzeitung als Folge der kaum zu ertragenden Lebenslast zu deuten? Das wird sich mit der Zeit zeigen.

 

Das „Delirium tremens“ („durch Alkoholmissbrauch ausgelöste Psychose“) als Weg zur Befreiung

 

Basaras Werk folgt dem Protagonisten nicht nur auf seinem Weg zur Befreiung von diesem Hormon, sondern auch auf dem Weg der Verteidigung gegen seine Doppelgänger. Der Reiz des Buches findet sich gerade in der Vervielfältigung und Mischung von Erzählperspektiven und in der Verschränkung der anachronistischen Elemente, die in Verbindung mit dem Alkoholmissbrauch des Protagonisten entstehen. Wann und wo berichtet wird, wer gerade erzählt, ist es nun der Maler Miro Glavurtić oder der Maler Mihailo Milovanović oder der Politiker Milovan Đilas, das ist nicht immer klar. Zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens kommen ins Spiel, um das Lesepublikum vom ursprünglichen Ziel des Ich-Erzählers abzulenken. Sie tauchen plötzlich mitten im Satz auf, unterbrechen den Handlungsablauf, verweilen in manchen Szenen und verabschieden sich, als ob ihr Erscheinen unwichtig gewesen wäre. Dadurch schafft der Autor ein desillusioniertes Bild seines Protagonisten, das einem delirischen Zustand entspricht und Versuche, die Erzählperspektive zu bestimmen, in Frage stellt. In mehreren Interviews erläutert Basara, dass diese Persönlichkeiten in direktem Bezug zu seinem eigenen Leben zu betrachten seien.

 

In dieser Hinsicht trägt Kontraendorfin zusätzlich Züge einer Autobiographie. Darauf weise auch Stojkovićs Rolle hin, die für die Deutung dieser ‚Dissertation‘ entscheidend sei. Der Maler Desimir Stojković steht nicht nur als Pendant zum Protagonisten, sondern auch zu jedem einzelnen Menschen, der Serbien wegen der Suche nach einem besseren Leben, nach seinem eigenen Sumatra, verlassen hat. Stojković, der „im Ausland nichts anderes außer dem Teufel gefunden hat“, ist Bestandteil des Wesens Kaloperovićs. Ähnlich wie in den Werken von Miloš Crnjanski kommt die Frage nach der Identität auch bei Basara zum Ausdruck. Während Crnjanskis Protagonist im Tagebuch über Čarnojević mit seinem widersprechenden Selbst konfrontiert wird, trifft Kaloperović in Kontraendorfin im Zustand des „delirium tremens“ mit seinem Doppelgänger zusammen. Dabei weist der Doppelgänger auf die frevelhaften Ereignisse der serbischen Geschichte hin, sehr oft auch auf eine degoutante Art und Weise. Der Ich-Erzähler wagt sich nicht, Desanka Maksimović, eine vom Teil der serbischen Bevölkerung glorifizierte Persönlichkeit, zu beleidigen, wie das Stojković im Roman hemmungslos tut.

 

Basara verwendet eine Vielzahl an sprachlichen Mitteln, einschließlich skandalöser Vergleiche und Vulgarismen, um die Hauptfigur von der noch in den Schulbänken (wo, wenn nicht hier?) eingeprägten Doktrin zu befreien. Gnadenlos schwenkt er vom Fürsten Miloš über Karađorđe, Gavrilo Princip, König Aleksandar, über Ivo Andrić, der im Roman als „enigmatischer“ Mensch dargestellt wird, der mit seinem „schwarzen Notizbuch inkognito“ durch Belgrad flaniert, bis hin zu Titos Angehörigen. Die von Basara entlarvten, polarisierend argumentierenden Geschichten „werfen die Leser_innen aus der eigenen Komfortzone hinaus“, wie Teofil Pančić, Journalist und Präsident der Jury des NIN-Preises, feststellt. Gerade wegen seines Verlassens der eigenen Komfortzone ist Basaras Roman bei einem Teil des Lesepublikums auf ein negatives Echo gestoßen. Dieses befasst sich immer wieder mehr mit den politischen Hintergründen als mit der literarischen Kunst des Autors, was wiederum einen Schatten auf den NIN-Preis-Gewinner Kontranendorfin wirft.

 

Mit Schonungslosigkeit und bissiger Sprache dringt das Werk, das vom Belgrader Verlag Laguna veröffentlicht wurde, tief in die Komplexität der kroatisch-serbischen Beziehungen vor, die sich in der Gestalt einer kroatischen Ärztin serbischer Herkunft widerspiegeln. Willentlich treibt die Ärztin den Ich-Erzähler in einen anaphylaktischen Schock, der aus Warte des Textes als Erlösung zu betrachten ist.

 

Ein anaphylaktischer Schock als Mittel der Erlösung                       

 

Basaras meisterhaftes Können, die Dinge zu banalisieren, kommt in der Auswahl der Orte zum Ausdruck, wobei es sich um Schauplätze handelt, an denen sich die Ausscheidung des überschüssigen Hormons ‚Kontraendorfin‘ abspielt. Von den luxuriösen Restaurants in Paris über die berühmten Belgrader Kneipen bis zu den trashigen Tankstellen in der Vojvodina, die nachts als Raststätte für Migrant_innen auf dem Weg in das gelobte Land dienen. Eine von diesen Tankstellen wird zum Ort, an dem der Protagonist seine eigene Katharsis in Form eines doppelten kosmischen Orgasmus erlebt, der seinen anaphylaktischen Schock auslöst. Dieser unansehnliche Ort ist die letzte Station auf seiner Reise zur Befreiung von der Epidemie „der falschen Mythen“. Durch dieses letzte Hindernis vor dem Ausgang aus dem Labyrinth der Hoffnungslosigkeit verwischt der Autor die Grenze zwischen der Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit und regt dadurch seine Leser_innen zum Hinterfragen der eigenen Geschichte an.

 

Kontraendorfin ist ein Roman, der starke Emotionen auslöst, indem er alles hinterfragt, woran man bisher fest geglaubt hat. Nach der Darstellung dieses Ausgangspunktes der ‚Dissertation‘ setzt sich die dramatische Handlung in Gang, die einen Menschen zum Wendepunkt seines Daseins treibt und zur Katharsis seiner Seele führt. Das mehrdeutige Handeln des oft nicht klar zu definierenden Protagonisten führt zur Befreiung von historischer Belastung und politischer Unmoral. Serbien steht der Ausgang aus dem Labyrinth der „falschen Mythen“ bevor. Ein Zeichen dafür ist „parthenos sylvia“, das ‘Schmetterling-Motiv’, durch das Basara eine klare Botschaft an die serbische Bevölkerung richtet, und zwar im Sinne von Goethes Metamorphose: „Stirb und werde!“ Alles, was dieses tun soll, um diese Metamorphose zu erreichen und sich von einer gewogenen und geteilten Welt zu befreien, ist, die eigene Katharsis zu finden.

 

Literatur:

Basara, Svetislav: Kontraendorfin. Beograd 2021.

Vučković, Tanja: Isečak našeg sveta prerađen u laboratoriji Basarinog temperamenta. Intervju sa Svetislavom Basarom, Bukmarker, Beograd 2021.

 

Weiterführende Links:

Basara, Svetislav: Filzofija bede. Danas 2019.

Jergović, Miljenko: Srbe i Hrvate držati odvojeno, na suhom i mračnom mjestu. Subotnja matineja 2016.
(Zitat: „Andrićeva lestvica užasa” nije roman o Andriću, premda je Andrić možda i najvažniji lik u knjizi. Ovo je roman o kolektivnom srpskom obožavanju Andrića, o tome kako je jedan genij javno konstituiran i konstatiran, a zatim likvidiran upravo tom odvratnom, neumjesnom i neprihvatljivom kolektivizacijom.“)

Pančić, Teofil: Svetislav Basara dobitnik Ninove nagrade za roman „Kontraendorfin“. knjižara roman 2021.
(Zitat: „Ovim romanom čitalac se izvodi iz zone komfora“)

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