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Schlaflos an blutigen Ufern

Posted on 10. Januar 2007 by Thomas Weiler
Sonnenstadt der Träume also. Minsk. Das scheint nicht recht zusammenzugehen. Der letzte Diktator Europas residiert in der Sonnenstadt der Träume?

Sonnenstadt der Träume also. Minsk. Das scheint nicht recht zusammenzugehen. Der letzte Diktator Europas residiert in der Sonnenstadt der Träume?
Es ist Artur Klinaŭ hoch anzurechnen, dass er über sämtliche 55 Kapitel und 172 Seiten seines in der edition suhrkamp gerade erschienenen Textes Präsident Aljaksandr Lukašėnka nicht einmal erwähnt. Nur im Epilog hat ER einen Kurzauftritt, in der Uniform des Generalissimus, in der Einsamkeit seiner beginnenden dritten Amtszeit. Dabei hätte Klinaŭ Grund genug, explizit auf die allzu stabile politische Situation in seiner Heimat Weißrussland einzugehen. Macht er sich doch als Schriftsteller, der in seiner Muttersprache schreibt, als Künstler, Architekt und Herausgeber des landesweit einzigen Magazins für zeitgenössische Kunst pARTisan bei den politisch Mächtigen von vornherein verdächtig, ein Gefährlicher zu sein. Aber Klinaŭ lässt sich nicht politisieren. Er erklärt in seinem Buch die Stadt selbst zur zentralen Figur, die schlaflose Njamiha an den blutigen Ufern, die Realität gewordene Utopie, die Sonnenstadt der Träume.
Der Originaltitel des in den Monaten nach der Präsidentschaftswahl vom März 2006 geschriebenen Textes lautet Putevoditel’ po gorodu solnca (Reiseführer durch die Sonnenstadt). Keimzelle dieses Textes ist ein kurzer Essay in weißrussischer Sprache zu Klinaŭs Anfang 2006 im Minsker Lohvinaŭ Verlag erschienenem Fotoalbum Horad SONca. Vizual’naja paėma pra Minsk, den der Philosoph Valjancin Akudovič begeistert als einen der besten Essays über Minsk feierte. Klinaŭ selbst sieht sein Fotoalbum nur als kleinen Baustein eines ambitionierten sozio-mythologischen Projektes. Er träumt von einem Minsk-Mythos, der unter Einbeziehung vieler verschiedener Kunstformen entstehen soll und an dem auch in pARTisan fleißig gestrickt wird. So ist ein Ballett in Planung, auch multimediale Ausstellungen oder einen Sonnenstadt-Film wünscht sich der Autor, um der Stadt und ihren Bewohnern eine Idee, ein Selbst-Bewusstsein zu geben.

Dem von Volker Weichsel ins Deutsche übertragenen Band sind mehrere Schwarzweißfotografien aus der Sonnenstadt beigefügt, die das ohnehin vielschichtige Minskbild um eine zusätzliche Ebene erweitern und Klinaŭ als sensiblen Augenmenschen ausweisen. Anhand eines skizzierten Stadtplanes kann der Leser Straßen, Plätze und Paläste verorten, die ihm bei der Lektüre begegnen. Interessanterweise kommt dieser Plan ohne Windrose aus – ein Pfeil links weist nach Berlin, ein zweiter rechts nach Moscow, damit ist vieles gesagt. Auf die Legende zum Stadtplan folgt ein Abbildungsverzeichnis, beschlossen wird das Buch durch eine aufschlussreiche Nachbemerkung zur Entstehung des Textes, Problemen der Titelübersetzung und zum Motto.

Dem Übersetzer Volker Weichsel ist ein stimmiger, ein stimmungsvoller Text gelungen, der zwischen den verschiedenen Tonlagen und Perspektiven fein differenziert. Die Übersetzung kann leider nicht an der russischen Vorlage gemessen werden, da diese nicht vorliegt – der Text entstand im Auftrag des Suhrkamp Verlages, war also von vornherein für ein deutsches Lesepublikum bestimmt.

Artur Klinaŭ stellt seinem Text ein Fragment aus Tommaso Campanellas Civitas Solis voran, das im Folgenden genauso immer wieder durchscheint wie Thomas Morus’ Utopia. So berichtet der Erzähler:
„Ich wurde in der Sonnenstadt der Träume geboren, in der es zwei Städte gab – eine Gesellschaft des Glücks, an die man glaubte, und die Stadt selbst. Die erste Stadt schmolz dahin, die zweite blieb als Monument des Strebens nach dem Unrealisierbaren, als grandioses Drehbuch für ein romantisches, erhabenes Stück mit dem Titel Glück. Die Utopie wurde Realität. Die Insel, die es nicht gibt, gibt es doch. Dafür stehen zwei Zeugen. Die Sonnenstadt und ich.“

Und Klinaŭ legt beredt Zeugnis ab, erweist sich als einfühlsamer und kompetenter Reiseführer, der dem Leser auf ganz verschiedenen Wegen Zugang zu seiner Stadt verschafft. Immer wieder öffnet er den Blick für überraschende Verbindungen. Etwa, wenn er die grausamen Bilder der Schlacht an der Njamiha 1067, wie sie der Chronist des Igorliedes schildert, in Beziehung setzt zu den Bildern von der Katastrophe im Sommer 1999 an gleicher Stelle, als fünfzig junge Menschen ums Leben kamen. Immer wieder spürt er doppelte Böden auf, verschafft er dem Gesehenen zusätzliche Resonanzräume.

„Über den verwilderten Hofparks hing eine Zeitlosigkeit wie über den entvölkerten Ruinen Karthagos, eine Utopie im Wortsinn. Ihre pseudoantiken Gipsvasen standen, von Kletten und Fliedergebüsch umrankt, in der unbekannten Zeit eines unbekannten Ortes. Durch die Wipfel der Pappeln schimmerten die Rückfassaden der Paläste mit ihren vereinzelten Renaissancefenstern, die aus den unverputzten Ziegelmauern hervorstachen, mit den verzierten Gesimsen, den abgebrochenen Karniesen, den eingefallenen Dächern der Balkonschuppen, den korinthischen Pilastern der auf den Platz führenden Bögen. Unter den Pappeln sprangen Kinder mit ihren Phantasiemaschinenpistolen herum und spielten Krieg, alte Männer mit roten Nasen gingen mit sehr realen Wodkaflaschen in der Hand vorbei, Hausfrauen hängten Wäsche auf.
Es entstand ein Eindruck von Ewigkeit und Zeitlosigkeit, als seien dies die Ruinen einer Zivilisation, deren Zeit in Fragmente zerfallen ist, die sich wie Glassteinchen eines Kaleidoskops zu seltsam bizarren Mustern zusammensetzen. Diese Muster waren real und gespenstisch zugleich. Man konnte zu einer Vase gehen und ihre rauhe, weiße Oberfläche berühren. Zugleich war sie aber auch eine Illusion, ihre Präsenz an diesem Ort hatte etwas Irreales, sie war in die Einsamkeit dieser schlafenden Stadt geworfen, aus einer unbekannten Kultur, aus einer unbekannten Zeit, aus einer Zivilisation, die es nicht gibt, aus einer Zeit, die es nicht gibt.“

Artur Klinaŭ hat die Gabe, mit unterschiedlichen Augen auf seine Stadt schauen zu können und ist daher auch in der Lage, ihre unterschiedlichen Verkörperungen zu erkennen und sie Wort werden zu lassen. Mit klinaŭschen Kinderaugen darf der Leser eine endlose Folge schier unüberwindlicher Betonplatten bestaunen, mit dem Blick des Fotografen bizarre Schatten und Orchideenorte entdecken oder als studierter Städtebauer auf der Suche nach den Zonen des Irrationalen durch die Straßen der Stadt und die verqueren Gehirnwindungen ihrer Planer wandeln. Dabei begegnen ihm so schillernde Figuren wie der armlose Felix, das fröhliche Kaninchen Stepaška, die kleine Frau Molekül, der geniale Kim Chadeev, die Flaschen sammelnde Enkelin Lenins oder der fliegende Schaumstoffmetaphysikus höchstselbst. Wie klein wird da ein Lukašėnka.

 

Artur Klinau: Minsk. Sonnenstadt der Träume. Aus dem Russischen von Volker Weichsel. edition suhrkamp. Frankfurt a.M. 2006.

Schlaflos an blutigen Ufern - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Schlaflos an blu­tigen Ufern

Son­nen­stadt der Träume also. Minsk. Das scheint nicht recht zusam­men­zu­gehen. Der letzte Dik­tator Europas resi­diert in der Son­nen­stadt der Träume?
Es ist Artur Klinaŭ hoch anzu­rechnen, dass er über sämt­liche 55 Kapitel und 172 Seiten seines in der edi­tion suhr­kamp gerade erschie­nenen Textes Prä­si­dent Aljaksandr Lukašėnka nicht einmal erwähnt. Nur im Epilog hat ER einen Kurz­auf­tritt, in der Uni­form des Gene­ra­lis­simus, in der Ein­sam­keit seiner begin­nenden dritten Amts­zeit. Dabei hätte Klinaŭ Grund genug, explizit auf die allzu sta­bile poli­ti­sche Situa­tion in seiner Heimat Weiß­russ­land ein­zu­gehen. Macht er sich doch als Schrift­steller, der in seiner Mut­ter­sprache schreibt, als Künstler, Archi­tekt und Her­aus­geber des lan­des­weit ein­zigen Maga­zins für zeit­ge­nös­si­sche Kunst pAR­Tisan bei den poli­tisch Mäch­tigen von vorn­herein ver­dächtig, ein Gefähr­li­cher zu sein. Aber Klinaŭ lässt sich nicht poli­ti­sieren. Er erklärt in seinem Buch die Stadt selbst zur zen­tralen Figur, die schlaf­lose Nja­miha an den blu­tigen Ufern, die Rea­lität gewor­dene Utopie, die Son­nen­stadt der Träume.
Der Ori­gi­nal­titel des in den Monaten nach der Prä­si­dent­schafts­wahl vom März 2006 geschrie­benen Textes lautet Pute­vo­ditel’ po gorodu solnca (Rei­se­führer durch die Son­nen­stadt). Keim­zelle dieses Textes ist ein kurzer Essay in weiß­rus­si­scher Sprache zu Kli­naŭs Anfang 2006 im Minsker Loh­vinaŭ Verlag erschie­nenem Foto­album Horad SONca. Vizual’naja paėma pra Minsk, den der Phi­lo­soph Val­jancin Aku­dovič begeis­tert als einen der besten Essays über Minsk fei­erte. Klinaŭ selbst sieht sein Foto­album nur als kleinen Bau­stein eines ambi­tio­nierten sozio-mytho­lo­gi­schen Pro­jektes. Er träumt von einem Minsk-Mythos, der unter Ein­be­zie­hung vieler ver­schie­dener Kunst­formen ent­stehen soll und an dem auch in pAR­Tisan fleißig gestrickt wird. So ist ein Bal­lett in Pla­nung, auch mul­ti­me­diale Aus­stel­lungen oder einen Son­nen­stadt-Film wünscht sich der Autor, um der Stadt und ihren Bewoh­nern eine Idee, ein Selbst-Bewusst­sein zu geben.

Dem von Volker Weichsel ins Deut­sche über­tra­genen Band sind meh­rere Schwarz­weiß­fo­to­gra­fien aus der Son­nen­stadt bei­gefügt, die das ohnehin viel­schich­tige Minsk­bild um eine zusätz­liche Ebene erwei­tern und Klinaŭ als sen­si­blen Augen­men­schen aus­weisen. Anhand eines skiz­zierten Stadt­planes kann der Leser Straßen, Plätze und Paläste ver­orten, die ihm bei der Lek­türe begegnen. Inter­es­san­ter­weise kommt dieser Plan ohne Wind­rose aus – ein Pfeil links weist nach Berlin, ein zweiter rechts nach Moscow, damit ist vieles gesagt. Auf die Legende zum Stadt­plan folgt ein Abbil­dungs­ver­zeichnis, beschlossen wird das Buch durch eine auf­schluss­reiche Nach­be­mer­kung zur Ent­ste­hung des Textes, Pro­blemen der Titel­über­set­zung und zum Motto.

Dem Über­setzer Volker Weichsel ist ein stim­miger, ein stim­mungs­voller Text gelungen, der zwi­schen den ver­schie­denen Ton­lagen und Per­spek­tiven fein dif­fe­ren­ziert. Die Über­set­zung kann leider nicht an der rus­si­schen Vor­lage gemessen werden, da diese nicht vor­liegt – der Text ent­stand im Auf­trag des Suhr­kamp Ver­lages, war also von vorn­herein für ein deut­sches Lese­pu­blikum bestimmt.

Artur Klinaŭ stellt seinem Text ein Frag­ment aus Tom­maso Cam­pa­nellas Civitas Solis voran, das im Fol­genden genauso immer wieder durch­scheint wie Thomas Morus’ Utopia. So berichtet der Erzähler:
„Ich wurde in der Son­nen­stadt der Träume geboren, in der es zwei Städte gab – eine Gesell­schaft des Glücks, an die man glaubte, und die Stadt selbst. Die erste Stadt schmolz dahin, die zweite blieb als Monu­ment des Stre­bens nach dem Unrea­li­sier­baren, als gran­dioses Dreh­buch für ein roman­ti­sches, erha­benes Stück mit dem Titel Glück. Die Utopie wurde Rea­lität. Die Insel, die es nicht gibt, gibt es doch. Dafür stehen zwei Zeugen. Die Son­nen­stadt und ich.“

Und Klinaŭ legt beredt Zeugnis ab, erweist sich als ein­fühl­samer und kom­pe­tenter Rei­se­führer, der dem Leser auf ganz ver­schie­denen Wegen Zugang zu seiner Stadt ver­schafft. Immer wieder öffnet er den Blick für über­ra­schende Ver­bin­dungen. Etwa, wenn er die grau­samen Bilder der Schlacht an der Nja­miha 1067, wie sie der Chro­nist des Igor­liedes schil­dert, in Bezie­hung setzt zu den Bil­dern von der Kata­strophe im Sommer 1999 an glei­cher Stelle, als fünfzig junge Men­schen ums Leben kamen. Immer wieder spürt er dop­pelte Böden auf, ver­schafft er dem Gese­henen zusätz­liche Resonanzräume.

„Über den ver­wil­derten Hof­parks hing eine Zeit­lo­sig­keit wie über den ent­völ­kerten Ruinen Kar­thagos, eine Utopie im Wort­sinn. Ihre pseu­do­an­tiken Gips­vasen standen, von Kletten und Flie­der­ge­büsch umrankt, in der unbe­kannten Zeit eines unbe­kannten Ortes. Durch die Wipfel der Pap­peln schim­merten die Rück­fas­saden der Paläste mit ihren ver­ein­zelten Renais­sance­fens­tern, die aus den unver­putzten Zie­gel­mauern her­vor­sta­chen, mit den ver­zierten Gesimsen, den abge­bro­chenen Kar­niesen, den ein­ge­fal­lenen Dächern der Bal­kon­schuppen, den korin­thi­schen Pilas­tern der auf den Platz füh­renden Bögen. Unter den Pap­peln sprangen Kinder mit ihren Phan­ta­sie­ma­schi­nen­pis­tolen herum und spielten Krieg, alte Männer mit roten Nasen gingen mit sehr realen Wod­ka­fla­schen in der Hand vorbei, Haus­frauen hängten Wäsche auf.
Es ent­stand ein Ein­druck von Ewig­keit und Zeit­lo­sig­keit, als seien dies die Ruinen einer Zivi­li­sa­tion, deren Zeit in Frag­mente zer­fallen ist, die sich wie Glas­stein­chen eines Kalei­do­skops zu seltsam bizarren Mus­tern zusam­men­setzen. Diese Muster waren real und gespens­tisch zugleich. Man konnte zu einer Vase gehen und ihre rauhe, weiße Ober­fläche berühren. Zugleich war sie aber auch eine Illu­sion, ihre Prä­senz an diesem Ort hatte etwas Irreales, sie war in die Ein­sam­keit dieser schla­fenden Stadt geworfen, aus einer unbe­kannten Kultur, aus einer unbe­kannten Zeit, aus einer Zivi­li­sa­tion, die es nicht gibt, aus einer Zeit, die es nicht gibt.“

Artur Klinaŭ hat die Gabe, mit unter­schied­li­chen Augen auf seine Stadt schauen zu können und ist daher auch in der Lage, ihre unter­schied­li­chen Ver­kör­pe­rungen zu erkennen und sie Wort werden zu lassen. Mit kli­naŭ­schen Kin­der­augen darf der Leser eine end­lose Folge schier unüber­wind­li­cher Beton­platten bestaunen, mit dem Blick des Foto­grafen bizarre Schatten und Orchi­dee­norte ent­de­cken oder als stu­dierter Städ­te­bauer auf der Suche nach den Zonen des Irra­tio­nalen durch die Straßen der Stadt und die ver­queren Gehirn­win­dungen ihrer Planer wan­deln. Dabei begegnen ihm so schil­lernde Figuren wie der arm­lose Felix, das fröh­liche Kanin­chen Ste­paška, die kleine Frau Molekül, der geniale Kim Cha­deev, die Fla­schen sam­melnde Enkelin Lenins oder der flie­gende Schaum­stoff­me­ta­phy­sikus höchst­selbst. Wie klein wird da ein Lukašėnka.

 

Artur Klinau: Minsk. Son­nen­stadt der Träume. Aus dem Rus­si­schen von Volker Weichsel. edi­tion suhr­kamp. Frank­furt a.M. 2006.