Inmitten der Zeitflussschleife. Olga Martynovas erster Roman Sogar Papageien überleben uns

Gattungen sind Sprachen: Sie kennen bestimmte Tonlagen, ihr eigenes Gedächtnis und ihre eigenen Unaussprechlichkeiten. Vielleicht ist es darum kein Zufall, dass die in Deutschland lebende und bisher russischsprachige Lyrikerin Olga Martynova bei ihrem Wechsel in die Prosa auch die Sprache eintauschte, oder umgekehrt: dass sie den Eintritt in die deutsche Sprache zum Anlass nahm, sich eine neue Gattung anzueignen. Ihr 2010 erschienener Roman Sogar Papageien überleben uns macht sie auf jeden Fall zu einer der wenigen wirklich zweisprachigen oder, wie man neuerdings sagt, interkulturellen Autorinnen. Deshalb wurde ihr auch gerade erst der Förderpreis der Robert-Bosch-Stiftung (Adalbert-von-Chamisso-Preis) verliehen.

Martynovas Roman ist ein Erinnerungsbuch. Es beginnt mit einer Kindheitserinnerung: In den Armen der Mutter, des „Zeitflussweibs“, in der Mitte eines Gebirgsbaches. Schon bald kehrt die Erzählung zurück in die Mitte eines Flusses – diesmal ist es die gefrorene Newa, auf der die Erzählerin als Leningrader Studentin den ersten Abend mit dem deutschen Austauschstudenten Andreas verbringt. Und letztlich kommt das Buch aus diesem Fluss der Zeit und des Erzählens nicht mehr heraus. In vielleicht nicht zufällig genau 88 träumerisch assoziativen und zugleich minimalistisch konzentrierten Kapiteln trägt die Erzählerin den Leser spielerisch durch einen beträchtlichen Geschichtsraum. In diesem Erinnerungsfluss – unterbrochen und kommentiert durch Zwischenrufe, poetologische Einwände und Zitate – wird aus einem Satz schnell eine ganze Seite. Zur Orientierung ist das Erzählprogramm, die „Zeitflussschleife“, zu einem Zeitstrahl geronnen und jedem Kapitel mit einigen fett gedruckten Jahreszahlen graphisch vorangesetzt, sodass der Leser sogleich weiß, wo er sich befindet: nämlich immer zugleich in der Gegenwart, im Jahr 2006, und in einem der Kindheits- oder Jugendjahre.

Dabei wird das erzählende Erinnern von einem gewissen Bedauern der Unumkehrbarkeit des Zeit-Flusses grundiert. Es ist als handele es sich um den Versuch, mittels einer vom Handwerk der Literatur gestützten Erinnerung die Zeit zu überwinden, einzufrieren oder in ihr „zu baden“. Die Momente der Einfrierung des Flusses, wie im Falle der winterlichen Newa, scheinen die glücklichsten zu sein, der Traum, von dem dieses Schreiben getrieben ist. „Ich wollte die Zeit verlängern. Die Zeit eines idiotischen Lächelns des Verliebtseins.“

Die aus der eigenen Vergangenheit auftauchenden Bilder werden multipliziert durch Erinnerungen an Erinnerungen, vermittelt etwa durch die Großmutter, eine „ägyptische Gottheit“. So führt das Buch in Szenen zurück, welche die Lebenszeit der Protagonistin weit überschreiten: etwa die Abschaffung der als gefährlich erachteten Tannenbäume durch die „neuen Menschen“ in den 1920er Jahren oder der in Stalingrad liegen gebliebene Arm von Andreas Vater. Als Dichterin befindet sich die Erzählerin in einem überindividuellen literarischen Gedächtnis: Sie denkt an Marina Malitsch, die durch das zerbombte Berlin irrende Witwe von Daniil Charms, über den sie eine Promotion schreibt, oder an den Todesvogel, der sich im Berliner Zoo auf die Schulter von Witold Gombrowicz gesetzt hat. Eine riesige Vor-Vergangenheit taucht auf: hungernde Leningrader, die während der Belagerung Katzen essen, und manchmal ganz Unerwartetes, zum Beispiel ein Stalin, der die Geistlichen aller Konfessionen während des Zweiten Weltkriegs gebeten hat, für den Sieg zu beten.
Am Kreuzungspunkt dieses literarischen Gedächtnisses und des individuellen der Erzählerin gräbt dieser Roman sich in das 20. Jahrhundert hinein. Aus dem Fluss der Zeit taucht eine ziemlich verrückte späte Sowjetzeit auf: Hasch rauchende Hippies, Expeditionen auf den Pamir zur Entdeckung des Schneemenschen, und vor allem eine Sibirienreise zum Baikalsee und nach Ulan Ude, wo die Erzählerin, umgeben von Nomaden, Schamanen und Lamas, den Zusammenbruch der Sowjetunion nur im Fernsehen erlebt. Als sie einige Tage später wieder nach Petersburg zurückkehrt, ist die Energie des Wandels schon erschlafft – die Revolution hat nicht statt gefunden. Die alte Welt jedoch, aus der sie ausbrechen wollte, wird trotzdem verschwinden.

Erzählt wird hauptsächlich die zwanzig Jahre zurückliegende Liebschaft der russischen Erzählerin mit dem deutschen Austauschstudenten Andreas: Eine zwanzig Jahre zurück liegende Kränkung strukturiert, ordnet, bündelt die Erinnerungen. Diese Kränkung, die damalige Abweisung, so scheint es, saugt den ganzen sowjetischen Erinnerungsschmerz auf, konzentriert ihn und befreit damit zugleich den ganzen Rest der Erinnerung von allzu großem Gewicht. Nach zwanzig Jahren ist die Petersburger Literaturprofessorin in Berlin zu einer Charms-Tagung und Andreas hat sich wieder gemeldet. Erzählt wird also eine der „zwischendurch unterirdisch fließenden Lebenslinien“, die mit einer Email und einem Heiratsantrag wieder auftaucht, der sich folgendermaßen anhört: „nach so vielen jahren von missverständnissen aller art könnten wir nun endlich einfach zusammen sein, zusammenziehen, ich meine, du könntest mich heiraten, denk darüber nach, bis bald, gruß.“ Vor diese Frage gestellt beginnt und endet das Buch. Im Angesicht der banal wirkenden Entscheidung erzählt das Buch, aus dem langen Moment eines einzigen Zauderns lässt sich das halbe Leben erinnern.

So korrespondieren zwischen Vergangenheit und Zukunft zwei Welten, die getrennt sind durch einen – da besteht kein Zweifel – unkittbaren Riss: „es ist zwanzig Jahre her, dass wir uns getroffen haben, in einer nicht mehr existierenden Welt, in einem nicht mehr existierenden Staat, in einer so nicht mehr existierenden Stadt, in einem ungewöhnlich verschneiten Leningrader Winter.“ Sogar Papageien überleben uns protokolliert also in impressionistischer Manier eine seelische Amputation, welche der Zerfall der Sowjetunion für Millionen von Menschen bedeutet hat. „Die runde, abgeschlossene Welt, in die ich geboren war, flog wie ein Luftballon fort.“ Es ist in der Tat eine Proustsche Suche nach der verlorenen Zeit, jedoch nicht im streng autobiographischen Sinn, sondern etwa so, wie Mamardašvili es einmal über Proust gesagt hat: Man muss sich ein „künstliches Gedächtnis schaffen“, einen „Eimer der Resonanz“, „man muss lügen, nicht die Memoiren schreiben“ (Merab Mamardašvili: Psichologičeskaja Topologija puti. M. Prust ‚V poiskach utračennogo vremeni‘, pod obščej redakziej Ju.P. Senokosova, Sankt-Peterburg 1997, S. 153, 268). Erst im künstlichen Gedächtnis des Romans kann bei Martynova in einem Atemzug die Suche und zugleich die sorg- und behutsame Zurückweisung der verlorenen Zeit stattfinden. Auch der Zeit von Andreas, jenem Mann aus der besseren westlichen Welt, die gemeinsam mit der sojwetischen gestorben ist oder ihren verheißungsvollen Status eingebüßt hat.Und was ist hier das Deutschland des neuen Jahrtausends? Modezeitschriften, Werbeplakate, Internetcafes, Fußballweltmeisterschaften, Schriftstellerkongresse, die Zeit von Internet und Google, „Sex on the Beach“ statt, wie früher, „Cuba Libre“, kurz eine Welt, deren S-Bahn-Fenster zumindest für dieses Buch lediglich als Erinnerungsbildschirm taugt und besonders eine Frage unbeantwortet lässt: „Was bedeutet das 21. Jahrhundert?“

In diesem deutschen Bildschirm steigen Bilder über Bilder auf, die Erinnerung als Bilderflut, welche verstärkt durch das Handwerk der Literatur die Bilderflut der massenmedialen Umwelt transzendieren kann und das vergessen macht, was man die traumatische Leere der Gegenwart nennen könnte. In jedem Fall ist es ein Erinnerungsbuch an das sowjetische Russland, dessen Erzählsubjekt – trotz des schmerzhaften Verlusts – weder traumatisiert noch depressiv ist. Im Gegenteil ist es die melancholische Leichtigkeit dieses Romans, die seine Lektüre zu einem so angenehmen Erlebnis macht. Ein Beispiel vielleicht auch für die wunderbare Leichtigkeit, die Prosa von LyrikerInnen haben kann. Und so gelingt der Kampf gegen die Unumkehrbarkeit des Zeitflusses letztendlich nicht schlecht. Sogar der Aralsee, dessen „Kadaver“ sie als Jugendliche noch besucht hat, „kommt zurück“, wie sie nun in der Zeitung lesen kann.

 

Olga Martynova: Sogar Papageien überleben uns, Literaturverlag Droschl, Graz u.a., 2010, 208 S.
Auf novinki finden Sie auch ein von Roman Widder verfasstes Portrait der Autorin, während auf dem novinki-Blog die Besprechung eines Literaturabends nachzulesen ist – von Miriam Finkelstein über Olga Martynova.

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