Wir sind’s, Edička! – Runder Tisch russischer Schriftsteller

Interview aus der Afiša, Nr. 127 (13.-26. März 2006)

 

Als Schriftsteller wird man nicht geboren – Schriftsteller muss man werden. Das Problem ist, dass jeder Schriftsteller zu einem solchen auf seine Art wird. Um überhaupt irgendwelche allgemeinen Gesetzmäßigkeiten aufstellen und all jenen helfen zu können, die sich der Schriftstellerei widmen möchten, hat unser Berichterstatter Lev Danilkin an einem runden Tisch fünf Schriftsteller versammelt, die noch am Anfang stehen, aber bereits von sich reden machten: Aleksandr Garros, Anna Kozlova, Katja Metelica, Arsen Revazov und Anna Starobinec. Während Sie über Honorare, das Problem der Suche nach einem Helden und den Einfluss Eduard Limonovs diskutierten, fotografierte sie Aleksej Kuz’micev.

 

Lev Danilkin: Ich glaube, dass Sie alle eher Glück hatten, denn in Russland gibt es ziemlich wenig Schriftsteller internationalen Standards, aber die Literatur hat einen hohen Status. Man kann der Teufel weiß was erreichen, wenn du Romane schreiben und sie präsentieren kannst. Wann haben Sie sich an die ersten Romane gesetzt, welche Höhen wollten Sie erreichen?

 

Anna Kozlova: Ich will ehrlich was zu meinem ersten Buch sagen – ich habe rein persönliche Ziele verfolgt. Ich hatte eigentlich gar nicht gedacht, dass das irgendwann mal gedruckt werden würde.

 

D: Aber als Sie sich überlegten, Schriftstellerin zu werden, wie, dachten Sie, könnte das alles mal enden?

 

Katja Metelica : Ich würde dazu gern was sagen. Ich möchte Salinger werden. Neun Erzählungen und vielleicht einen Roman schreiben, und das war’s. In völliger Abgeschiedenheit leben und eine Ikone sein.

Kozlova : Naja, eigentlich, ja, ist das eine gute Einstellung. Schreiben – das ist so eine Sache, die nicht sehr angenehm ist, nicht sehr dankbar, man will sich vor ihr immer drücken.

 

D: Und mit welchem Status hatten Sie gerechnet?

 

Kozlova: Mit welchem Status? Natürlich ist das nicht ganz ein literarischer Status – aber ein Status wie der Leni Riefenstahls würde mir recht sein.

 

D: Also Salinger, Leni Riefenstahl. Arsen?

 

Arsen Revazov : Arsen Revazov: Oh, also ich fühle mich so ganz wunderbar. Ich wollte eigentlich nie irgendwas. Weiß nicht…

 

D: Würden Sie gern Murakami sein?

 

Revazov: Nicht doch. Ich empfinde mich in keinster Weise als professioneller Schriftsteller und bin sogar ein bisschen froh darüber.

Anna Starobinec : Also mir… Na, mal ehrlich – Steven King natürlich, was denn sonst.

Aleksandr Garros : Also wenn sich schon alle Rollenmodelle aussuchen, dann würde ich gern Charles MacLean werden, über den alle Zeitschriften schreiben, dass er in seiner Freizeit Whisky-Bücher schreibt und begeistert Großfischerei betreibt. So ein Lebenstil gefällt mir. Aber ich bezweifle, dass das klappt.

 

D: Wie sieht’s mit dem Geld aus?

 

Revazov: Ich habe eigentlich nie das Geld gezählt, aber verdient habe ich unerwartet viel. Hauptsächlich nicht durch die Verkäufe in Russland, sondern durch die Auslandsverkäufe und den Verkauf der Filmrechte… Knapp 100 Tausend Dollar kamen heraus – sie tröpfeln ständig.

 

D: Wer bietet mehr? (Alle lachen.) Alle passen?

 

Garros: Ich fürchte, ja.

 

D: Also Anna Kozlovas erste Auflage hätte man fast verbrannt oder vernichtet…

 

Kozlova: Nein, ich hatte im Gegenteil gerade Glück gehabt. Gleich drei Verlage nacheinander wollten den Roman drucken. Zwei haben ihn dann abgelehnt, aber die Avance hatte man mir bezahlt, das heißt, letztlich habe ich jeweils fünfhundert Dollar in zwei Verlagen bekommen und eben diesen klassischen Tausender für das Buch selbst. Und erst dann übernahm der dritte Verlag auf diese Art die Auflage…

 

D: Hat das Ihre Erwartung überstiegen?

 

Kozlova: Ich hatte keinerlei Illusionen, weil ich ja doch in einem ziemlich literarischen Umfeld verkehre. Also, mit Tausend hatte ich gerechnet, natürlich nicht mit mehr. Klar ist die Summe unter aller Sau. Aber wahrscheinlich liegt das Problem woanders. Teilweise wird mit dieser Summe von 1000 Dollar die Qualität der Literatur genau quittiert.

Revazov:: Nee, in Russland sind die Honorare sehr niedrig, unproportional niedrig. Ein Buch zu drucken kostet in Russland genauso viel wie in England. Aber in England bekommst du für ein Exemplar ein Pfund, in Russland – 10 Rubel, also fünfmal weniger.

Kozlova: Ich denke, bei uns wollen einfach sehr viele gedruckt werden. Und sind praktisch auch ohne Honorare dazu bereit.

Revazov: Ja! Das ist zum einen der Grund. Der zweite Grund sind die großen Preistreibereien. Wenn Ihr Euch das mal anschaut: mein Buch kostet im Geschäft, na, sagen wir mal 200 Rubel. Sehr gut. Im Druck hat es so um die 30 Rubel gekostet. Den Großhändlern wird es für 60-70 verkauft, die Großhändler geben es für 130-140 in den Einzelhandel. Und der Kunde bezahlt 200 dafür. Eine wahnsinniger Preisaufschlag.

 

D: Lasst uns jetzt mal zu folgendem Thema kommen – Sie würden alle gern Salinger, MacLean und so weiter sein. Niemand hat gesagt: ich möchte Gončarov oder Lev Tolstoj sein. Wenn Sie sich ihre schriftstellerische Strategie auswählen, sich überlegen, wie der erste Roman sein soll, orientieren Sie sich am ehesten an… ich sag nicht – am Verkauf im Westen, aber an der westlichen Tradition? Denn ich könnte, wenn der Wunsch besteht, hier allen westliche Etiketten anhängen, außer vielleicht Anna Kozlova…

 

Garros: Wahrscheinlich sagt das, dass du allen eher westliche Etiketten anhängen kannst, schon etwas aus. Tolstoj, Čechov oder vielleicht Dostoevskij – das liegt alles ziemlich fern. Aber wenn du versuchst, dich in Beziehung zur zeitgenössischen Literatur zu positionieren, dann kannst du das wegen der äußersten Armut an qualitativ hochwertiger Literatur in Russland nicht tun, indem du dich auf russische Analogien beziehst.

 

D: Das heißt, die westliche Tradition bedeutet für euch jetzt mehr als die russische?

 

Metelica: Ich denke, von den Verlagen wird sie aufgezwängt, weil das kommerziell sehr einfach ist. Und das ärgert mich schon: wenn von der „russischen Bridget Jones“ gesprochen wird, möchte ich mich am liebsten aufhängen…

Starobinec: Ich glaube, dass die Orientierung an der westlichen Literatur eigentlich ein zufälliger Fokus ist, weil die Tradition der russischen Literatur ja unterbrochen worden ist, die westliche aber ist nicht unterbrochen worden.

 

D: Was heißt unterbrochen?

 

Starobinec: Sie sagen Tolstoj, Dostoevskij, Gogol‘ – das ist alles 19. Jahrhundert. Zweifellos kann man auch jemand vom Beginn des 20. Jahrhunderts nennen – Nabokov, aber was letztlich weiter?

 

D: Das heißt, du empfindest einen Bruch zwischen Nabokov und Starobinec?

 

Starobinec: Ich empfinde den Sturz in ein schwarzes Loch…

Metelica: Wieso, und Limonov…

Garros: Nein, es ist wirklich schwierig, sich mit Lev Nikolaevič oder Fedor Michajlovič zu assoziieren. Du assoziierst dich mit jemandem, der dir von der Einstellung her nahe ist, von der Thematik, der Intonation her. Ich würde mich sehr gern mit jemanden von den sowjetischen Schriftstellern assoziieren. Mit den Strugackij-Brüdern, die mir als Leser sehr viel gegeben haben. Ich kann auch Aksenov nennen, wir schreiben auf ganz andere Weise als er, und Limonov, dem wir vielleicht manchmal ein bisschen ähneln. Naja, aber weiter kann ich fast niemanden nennen.

 

D: Das bedeutet, dass die sowjetische Literatur – Makanin, Bitov, Trifonov oder zum Beispiel Petr Proskurin – dass das alles jetzt keinerlei Bedeutung mehr hat. Wann brach denn dann die Tradition ab – grob gesagt -, 1917 oder 1991?

 

Garros: Ich denke, es ist nicht so, dass sie abbrach, sondern dass sie so einer Abtragung einzelner Schichten unterzogen worden ist und immer ärmer wurde. Und alle aufgezählten Namen – es ist nicht so, dass sie für mich als Leser gar nichts bedeuten…

 

D: Sie brach nicht ab, eher wurde sie wohl abgewertet… Niemand sagt über sich: „Ich bin der moderne Petr Proskurin“? Das erscheint Euch komisch, ja?

 

Revazov: Warum denn? Wichtig ist doch der Persönlichkeitsmaßstab. Und der Persönlichkeitsmaßstab wird 20-30-40 Jahre nach dem Tod richtig bestimmt. Nabokov ist jetzt wirklich die letzte Figur eines Maßstabs, wie ihn Gogol‘ und Tolstoj haben. Und Trifonov – niemand hat etwas gegen Trifonov, oder vielleicht Dumbadze, oder Čingiz Ajtmatov – alles wunderbar, aber nicht Nabokov.

Metelica: Aber Nabokov ist übrigens auch nicht Nabokov. Außer Lolita ist alles ziemlich durchschnittlich. Wenn man es genau nimmt, dürfte man nicht „Nabokov“ sagen, sondern nur Lolita.

Kozlova: Also mir ist hier Limonovs Sicht nah: die Literatur – altert. Dagegen kann man gar nichts machen, und Angst davor braucht man auch nicht zu haben. Na, was für einer ist Lev Tolstoj denn jetzt? Hier muss man erst mal klären, was wir überhaupt von der Literatur wollen, wie wir sie uns überhaupt vorstellen. Ehrlich gesagt fühle ich mich hier Černysevskijs Ansatz nahe – sie muss bestimmten Tendenzen der Zeit entsprechen.

 

D: Aber wir sprechen über die Tradition, an der sich ein junger Schriftsteller orientiert…

 

Kozlova: Na, wie kann man sich denn allen Ernstes an Dostoevskij oder Tolstoj orientieren, wenn es an sich schon schwer ist, sie zu lesen. Also Limonov ist jetzt wahrscheinlich wirklich das letzte Beispiel für eine Nachahmung… Wenn nicht 100%, so sind es doch 95% der Leute, die schreiben wollen, die sich an Limonov orientieren. Vielleicht ist das auch schlecht, dass er sehr vielen so den Kopf zugeschissen hat, aber es stimmt. Und ich gebe ganz ruhig zu, dass ich wirklich unter seinem sehr starken Einfluss stand.

 

D: Stimmt das? Ich würde nicht sagen, dass es 95% sind, aber eine große Zahl der Texte, die erscheinen, könnte von E.V.Limonov sein. Ist für eure Generation Limonov wirklich so wichtig?

 

Metelica: Ich finde, ja, er ist am besten. Er hat so eine absolute Natürlichkeit an sich – im Unterschied zu allem Anderen, was absolut künstlich ist. Aber Limonov hat einen riesigen Einfluss, weil es unmöglich ist, ihn nachzuahmen. Er beeinflusst einfach irgendwie das Gehirn, wir können ja nicht so sagen: jetzt mach ihn mal nach – schreib, was du fühlst.

Starobinec: Wirklich, eine sehr bequeme Methode: das Herz auf der Zunge, Aufrichtigkeit, das ist das Einfachste, was geht…

Metelica: Und noch ein Verschmelzen von dem, was du machst, und von dem, was du schreibst.

 

D: Aber es sind doch nicht alle Personen von einem Maßstab wie Limonov…

 

Starobinec: Richtig, deshalb klappt bei einer unbedeutenden – in Anführungszeichen – Person nur die Stilisierung. Das ist dann dasselbe wie ein Poet, der versucht, wie Brodskij zu schreiben.

Metelica: Übrigens, der Limonov in Ich bin’s, Edička – der fühlt sich nicht als jemand Großes, im Gegenteil – als jemand sehr Kleines, Unglückliches, Verlassenes.

Starobinec: Es geht nicht um Größe, es geht um die Interessantheit dieser Person.

Metelica: Aber jetzt sind alle an durchschnittlichen Personen interessiert.

Kozlova: Wer ist denn an denen interessiert?

 

D: Katja hat eine Frage aufgeworfen, lasst uns mal darüber sprechen. Oft nehmen Schriftsteller, wenn sie sich Helden ausdenken, das Material aus sich selbst. Soweit ich Euch kenne, seid ihr alle eine bisschen Eure eigenen Helden.

 

Metelica: Ich habe Starobinec gelesen, welchen Helden hat sie aus sich selbst gemacht?

Garros: Ameisen?

 

D: Einen Topf Kohlsuppe?

 

Starobinec: Na klar, eigentlich assoziiere ich mich mit dem, was in einem Topf Kohlsuppe im Kühlschrank steht.

 

D: Katja hat gesagt, dass jetzt ein Durchschnittsheld interessant ist. Wie erfindet ihr eure Helden? Wie muss man ihn eurer Meinung nach erfinden, damit ein Roman erfolgreich sein wird? Wie muss man sie kochen, diese metapysische Kohlsuppe?

 

Starobinec: Ich werde natürlich nicht verneinen, dass nicht alles ausgedacht ist, wenn aus mir was herauskriecht, heißt das, dass es irgend so was gibt in meinem Kopf. Na, keine Ameisen, aber… Ich habe nicht das Ziel, einen Helden auszudenken. Eher kann ich mir die Verdrängung des Unterbewussten erlauben.

 

D: Aber könntest du abstrakt sagen, wie es richtig wäre? Also wenn zu dir ein Schriftsteller käme, der noch mehr am Anfang steht als du und auch einen Roman schreiben will. Wie soll man für ihn einen Helden erfinden?

 

Starobinec: Starobinec: Da gibt es doch wieder verschiedene Wege. Es gibt interessante Leute… Wenn du einen Andrej Rubanov hervorziehst, dann kann der es sich erlauben, von sich selbst zu schreiben, aber für jemand Anderen ist es vielleicht besser…

Kozlova: Das Problem ist, dass die im Leben interessanten Leute in Büchern absolut uninteressant sind… Aber uninteressante Leute – das ist eine bestimmte Tendenz. Jeder beliebige Mensch, egal, wer er ist oder was für ein trauriges Dasein er fristet, er neigt doch eigentlich dazu, den Fakt zu rechtfertigen, dass er überhaupt am Leben ist. Und mir scheint, diese Rechtfertigungen sind teilweise ziemlich interessant.

 

D: Nicht schlecht! Schaut mal: Im 19. Jahrhundert existierte in der russischen Literatur ein bestimmter Standardtyp. Und jetzt – welches ist das Heldenrezept? Warum hat einer einen Topf Kohlsuppe und ein anderer die Rodina-Partei?

 

Kozlova: Was denn für einen Topf Kohlsuppe!… Überhaupt, was ist jetzt ‚in‘ – die Heldin aus Sex in the City, ja? Also gestern zum Beispiel habe ich den Roman einer chinesischen Schriftstellerin entdeckt mit dem Titel Shanghai Baby, und was da rauskommt – ist wieder toll. „Ich und meine Freundinnen, wir wohnen in Shanghai“ – und alles ging in diese Richtung.

 

D: Ja? Katja?

 

Metelica: Ich weiß nicht. Ich lese sehr wenig.

 

D: Nicht doch, wir reden darüber, wie du schreibst. Wie hast du diese Heldin erfunden?

 

Metelica: Ganz zufällig. Man hatte mich für ein sehr geringes Honorar mit einer Kolumne beauftragt, und ich habe sie auf dem Weg des geringsten Widerstandes geschrieben. Danach dann wurde gesagt, dass das Bridget Jones ähneln würde, weil das bequem ist für Verleger und Agenten.

 

D: Hast du diese Heldin aus etwas synthetisiert? Hast du sie gesehen?

 

Metelica: Ich bin wie Emma Bovary. Ich synthetisiere praktisch mich und meine Freundinnen. Das ist der einfachste Weg, nicht der literarische, im Grunde genommen. Weil ich keine Schriftstellerin bin.

 

D: Jetzt ist es schon zu spät.

 

Metelica: Ja, ich bin reingeraten. Alle Verlage rufen mich an, schlagen unglaubliche Summen über 2000 Dollar vor, damit ich egal was schreibe. Ich sage: „Ich will nicht“ – in so einem bösen Ton. Doch sie sagen: „Aber warum denn? Zu uns kommen ehemalige Models, wollen ihr Buch herausgeben, weil das für sie eine wunderbare PR-Möglichkeit ist.“

 

D: Arsen, wie hast du deinen Iosif ausgerechnet?

 

Revazov: Bei mir war es nicht so, dass ich da was erfunden hätte. Zuerst habe ich irgendwelche Geschichten aufgeschrieben, aber die waren langweilig und uninteressant… und sogar nahestehenden Leute hätte ich die nicht gezeigt. Da habe ich beschlossen, dass ich einen Zahn zulegen und irgendwie aufdrehen muss, mich über Verschwörungstheorien lustig machen, mich amüsieren will… Das wuchs von selbst an – einen Helden habe ich überhaupt nicht erfunden. Ich habe nicht darüber nachgedacht, was für einen Helden ich machen sollte – einen großen oder kleinen, dicken oder dünnen…

 

D: Versteht ihr, ihr seid hier zu fünft, ihr seid ein Club der Eingeweihten, aber die anderen… ich zum Beispiel habe nicht so eine reiche Einbildungskraft.

 

Metelica: Wenn man keine reiche Einbildungskraft hat, muss man über sich schreiben.

 

D: Ich frage euch ja auch zu den Techniken. Sagt mir, einem Menschen von draußen, was darüber, wie das gemacht wird.

 

Revazov: Eigentlich finde ich, dass man schreiben muss, wenn man angefixt ist, wenn man beflügelt wird. Schreiben ist schwer genug, die Faulheit ist immer groß, und ohne das, dass man angefixt ist, klappt nichts. Eine gute Idee, hat mir sehr gefallen, – den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Ist es einfacher über dich selbst – dann schreib über dich selbst, ist es einfacher über Napoleon oder Cäsar – dann schreib über sie.

Metelica: Nun ja, sich die Lage eines Menschen vorzustellen, dem man eine Avance von über 2000 Dollar gegeben hat, und er ist verpflichtet, ein Buch zu schreiben, ist schrecklich. Das ist ein sklavisches, erniedrigendes Gefühl, wenn du nichts zu sagen hast, aber reden musst.

Starobinec: Das ist unterschiedlich, hängt vom Menschen ab – im Gegenteil werden manche davon angefixt, dass sie was schuldig sind.

Metelica: Eigentlich gibt es sehr viele Schriftsteller, die nichts zu sagen haben, und trotzdem reden sie. Weil das schon ihre Stellung ist, ihr Beruf – Schriftsteller, ja?

 

D: Lasst uns mal von der anderen Seite herangehen. Warum glaubte man in den 90er Jahren, Anfang 2000, dass ein Schriftsteller nur irgendein Genre zu wählen bräuchte und dann erfolgreich sein würde? Warum hat von Euch niemand das reine Genre gewählt? Warum seid ihr sozusagen im – na, ich benenne das mal nach Mainstream-Art – im Nicht-Genre geblieben?

 

Metelica: Ich habe ein reines Genre gewählt. Genauer gesagt, ich komme daher. Ich habe ein absolut sauberes Genre.

Revazov: Also ich habe mich über das reine Genre lustig gemacht. Das heißt, ich habe überhaupt nicht über ein Genre nachgedacht – ich wusste genau, dass es unbedingt eine Intrige, einen Mord geben muss. Ich wollte, dass es spannend ist, und daraus sind einige Genre-Elemente geworden.

 

D: Genre – das ist doch für einen am Anfang stehenden Schriftsteller eine Art eingefahrene Spur, die einen bestimmt herausführt.

 

Revazov: Ja, ein Krimi führt einen bestimmt heraus.

 

D: Warum verlasst ihr denn dann trotzdem diese Spur?

 

Garros: Das ist alles ziemlich einfach – wenn ein Mensch versucht zu schreiben, nicht, um ein bisschen Geld zu verdienen, sondern weil er etwas sagen möchte, dann sind die Rahmen eines reinen Genres für ihn zu eng. Man kann Genre-Techniken benutzen, und alle hier Anwesenden benutzen sie so oder so. Aber an irgendeiner einzelnen Technik festzuhalten, finde ich, ist einfach langweilig.

Revazov: Natürlich ist das langweilig. Sobald ich in diese Rahmen gerate, möchte ich sie sofort aufbrechen. Das ist eine Protestbekundung. Mich haben doch alle den russischen Dan Brown genannt, aber bei mir war es nicht nur so, dass ich ihn nicht gelesen hätte, ich habe mir im Laden fünf Minuten ein Buch von ihm angeschaut und verstanden, dass ich das überhaupt niemals sehen will. Mir wurde natürlich ins Gewissen geredet, ich habe mich gequält, aber dann habe ich gesagt: ist mir doch egal, Dan Brown – na gut.

Metelica: Das ist übrigens ein Rezept – man muss sich als jemand kommerziell Verwertbaren hinstellen, aber darunter was ganz Anderes anlegen. Meine Freundin hat das Buch von Arsen Revazov gelesen und buchstäblich eine solche Rezension abgegeben: „Weißt du, da gibt es sehr viel von dem, was dir nicht gefallen würde, – über Geschichte und sowas, aber ich habe es durchgelesen. Und ich habe mich in den Helden verliebt. Mach mich mit dem Revazov bekannt!“

Garros: Hier haben wir ja auch einen praktischen Nutzen unserer Versammlung.

Revazov: Da gab es mal eine geniale Frage im Rolling Stone: „Welche sexuellen Dividenden haben Sie durch Ihren Roman erhalten?“

 

D: In der Tat – stimmt es, dass ein Mensch, der einen Roman geschrieben hat, wirklich irgendeinen Segen davonträgt? Nicht unbedingt Sex, aber vielleicht Liebe?

 

Kozlova: Ja, natürlich tut er das. Das betrifft nicht nur die Literatur – jeder Mensch, der sich irgendwie in diesem Leben hervorgetan hat, erhält schon irgendwelche Dividenden… Wenn er sich eine Glatze rasiert und sich ein großes Tatoo auf dem Hinterkopf macht, dann trägt er auch einen bestimmten Segen davon. Und was kann man von einem jungen Menschen sagen, der ein Buch geschrieben hat. Alle sagen: guck mal, er hat ein Buch geschrieben.

Revazov: Ich habe nichts dergleichen gehabt, ich habe kein Flüstern hinter meinem Rücken gehört und werde es auch nicht hören. Klar, meine Freunde haben es gelesen, und meine Mama freut sich…

Starobinec: Und ich habe dem ganz entgegengesetzte Sachen davongetragen… In einer meiner Erzählungen gibt es einen Absatz, in dem ganz freundschaftlich, wie mir scheint, eine Redaktionssitzung der Zeitschrift Expert beschrieben wurde, wo ich gearbeitet habe. Und bei jeder Redaktionssitzung hat der Chefredakteur dann zu mir gesagt: „Na, Anna, holen Sie mal Ihren Schriftstellernotizblock heraus, schreiben Sie mit, vielleicht erzählen wir ja heute irgendwelchen Quatsch.“ Sie waren wohl irgendwie beleidigt, dass man sie, bedeutende Leute, die Staatsprobleme lösen, da zusammen mit irgendwelchen Ameisen… So war das mit Expert. Danach begannen einige meiner Bekannten auch ab und zu misstrauisch zu schauen, das merkt man sehr.

Metelica: Ja, manchmal wird was erzählt oder gesagt – schreib das bloß nicht auf.

 

D: Na, aber das Schlimmste ist, in ein Buch von Anna Kozlova zu geraten. Erzählen Sie mal von den Reaktionen?

 

Kozlova: Ich bin sehr verwundert über die Reaktion der Leute, besonders von völlig normalen Leuten. Meine ganze Familie ist sauer auf mich, obwohl ich überhaupt nicht verstanden habe, warum. Wenn es da eine Heldin gibt, sie ist so knapp dreißig Jahre alt, sie hat eine Schwester, eine Großmutter, dann beziehen meine Schwester und meine Großmutter die ganze Sache gleich auf sich…

 

D: Wirklich, weshalb denn?

 

Kozlova: Na, so nach dem Motto „wie kannst du nur“. Ich habe sogar gesagt: Wer wird sonst noch über euch schreiben, ihr solltet euch doch freuen, mit diesem Buch herumlaufen, es allen zeigen – schaut mal, ich bin der Held eines literarischen Werks. Kann es denn in unserem Leben ein strahlenderes Ereignis geben? Aber nein, irgendwie wollen sie das nicht und mögen es nicht.

 

D: Aber ist das für einen Schriftsteller am Anfang überhaupt ein sozusagen exhibitionistisches Problem? Das Problem, über einen Bekannten die Wahrheit zu schreiben? Denn über wen soll man denn sonst schreiben…

 

Kozlova: Mir sagen alle Bekannte: Lass mich bloß in Ruhe, schreib über irgendwas anderes.

Revazov: Das Problem gibt es, aber es wird gelöst, denn ein Schriftsteller muss eine unheimlich abgebrühte Skrupellosigkeit besitzen.

Starobinec: „Spender“ braucht man unbedingt. Es ist schwer, sich so aus dem Nichts heraus etwas auszudenken, so oder so benutzen wir irgendjemanden, sowohl Menschen als auch Situationen. Und es gibt rein praktische Probleme: sagen wir mal, mein Kind hat eine wunderbare Kinderfrau, ich hätte gerne, dass sie weiter bei uns arbeitet. Aber wenn ich schreiben würde, dass sie ein künstliches Gebiss oder vielleicht unangenehme Hände hat, und wenn sie das liest, dann ist klar, dass wir uns von ihren Diensten verabschieden müssten. Und ich mache das alles, aber bin sehr unruhig dabei.

 

D: Das heißt, ein Mensch, der sich geniert, hat in der Literatur nichts zu suchen?

 

Metelica: Ja, ich denke, ja. Anders ist es doch langweilig zu lesen. Es gibt solche sehr hermetischen Romane, gute, meisterhafte, aber ich finde es langweilig, sie zu lesen.

Kozlova: Aber es gibt auch eine andere Seite: Romane beschreiben schon sehr wahrheitsgetreu die Leute eines solchen engeren Kreises, und die sind teilweise auch nicht interessant.

 

D: Apropos, zu diesem Thema. Ihr seid alle auf verschiedene Weise zur Literatur gekommen. Anna Kozlova, zum Beispiel, kommt aus einer Literatenfamilie und verbirgt das nicht. Der Großvater war Schriftsteller, der Vater war Schriftsteller. Und ein anderer kam aus der Journalistik, und noch jemand, könnte man sagen, aus der Wirtschaft.

 

Revazov: Ich bin da auch geblieben… erstmal.

 

D: Wie dem auch sei. Welcher ist der richtige Weg? Stimmt es, dass man, wenn man aus einer Literatenfamilie kommt, gleich in die vorhandenen Fußstapfen tritt?

 

Kozlova: Das ist absolut unmöglich, weder über Fußstapfen noch über Fußtapsen. Ich habe eine Schwester – und?

 

D: Und?

 

Kozlova: Sie hat nicht damit angefangen. Es gibt eine Masse Leute, genau solche Kinder von Schriftstellern, Dichtern, welche sich überhaupt nicht für Literatur interessieren, sich damit nicht beschäftigen und sogar im Gegenteil eine Art Abscheu davor empfinden.

 

D: Wenn Sie aus einer proletarischen Familie sein würden…

 

Kozlova: Das wäre sogar besser für mich. Manchmal bereue ich es sehr, dass ich nicht irgendwo in der Provinz auf die Welt gekommen bin, sondern in Moskau, nicht bei irgendwelchen Proletariern, sondern bei Schriftstellern. Ich denke, ich würde mehr… Durchschnittlichkeit haben.

Garros: Das ist ein wenig ein idealistisches Konzept, klingt wunderbar, aber es gibt einfache Alltagsrealien. Jemand, der irgendwo in Saratov in einer Proletarierfamilie geboren wurde, ist gezwungen, sein Brot mit schwerer, kräftezehrender, nichtintellektueller Arbeit zu verdienen. Und er hat sehr wenig Chancen, sich in was auch immer für eine Schriftstellerliga durchzuschlagen. Und wenn er noch soviel Energie hat.

 

D: Das stimmt nicht. Wenn er schreiben kann…

 

Garros: Er würde nicht mal die Chance haben, darüber nachzudenken.

 

D: Lasst uns mal von der Erfahrung sprechen. Stimmt es, dass Schriftsteller nur jemand sein kann, der eine reichhaltige Biografie hat? Jemand, der den ganzen Tag zu Hause sitzt, – ist der nicht dazu fähig, einen Roman zu schreiben?

 

Kozlova: Na, im Grunde gibt es Erfahrungen unterschiedlicher Art. Manchmal ist zu Hause sitzen auch eine Art Erfahrung.

 

D: Also diese Kohlsuppe zu kochen…

 

Kozlova: Das ist manchmal interessanter und spannender, als irgendwelche Pseudoereignisse im Leben eines Menschen.

 

D: Gelasimov hat die Erzählung Durst über einen Soldaten geschrieben, der aus Tschetschenien zurückgekehrt ist. Man hat ihm vorgeworfen, dass er, der keinerlei Beziehung zum Thema Armee hat, sich erlauben würde, seine Nase in fremdes Leben zu stecken. Stimmt es, dass das für einen Schriftsteller eine Sünde ist?

 

Revazov: Also Tolstoj war im Jahr 1812 auch nicht im Krieg gewesen.

 

D: Er war in einem anderen Krieg – in Sevastopol.

 

Kozlova: Die überwiegende Mehrheit von Leuten, die einen Mord oder irgendwelche blutigen Szenen beschreiben, war doch bei so etwas auch nicht dabei gewesen.

Metelica: Aber wie oft haben sie es dafür im Kino gesehen. Das ist doch am einfachsten darzustellen.

Garros: Lasst uns mal unterschiedliche Dinge trennen. Jemand, der in einem Kriminalroman einen Mord beschreibt und versucht, dass glaubwürdig zu machen, der geht dafür gewöhnlich nicht raus und bringt zwei-drei Leute um. Das ist eine Sache, aber es gibt eine zweite – banale Stümperei. Wenn – mal grob gesagt – ein Autor eine Leiche beschreibt, die vier Tage im Wasser gelegen hat, und klar ist, dass er dabei kein einziges Mal eine gerichtsmedizinische Untersuchung aufgeschlagen hat, dann ist das peinlich.

 

D: Das sind verschiedene Sachen – Kenntnisstand und Erfahrung.

 

Revazov: Wenn es gut geworden ist – dann ist es nicht schlimm, dass du nicht dabei warst. Aber wenn es schlecht geworden ist – Entschuldigung. Wenn du übrigens dabei gewesen bist, und es ist schlecht geworden – wird man dir das auch nicht verzeihen.

Metelica: Eine Bekannte von mir – ein Wort zieht das andere nach sich – hat mal ihrem Mann einen Messerstich in den Bauch versetzt. Und irgendwie fing sie mal mitten in einem Telefongespräch an, mir das zu erzählen. Und das war so was von uninteressant, dass ich es gar nicht wiedergeben kann.

Revazov: Ich habe nicht im Gefängnis gesessen, wie ihr wahrscheinlich versteht. Aber die Gefängnisszenen in meinem Roman sind mit die besten – alle sagen mir das. Den Gefängnisjargon habe ich mit Internet-Wörterbüchern gemacht, na und?

 

D: Anna Kozlova, glaube ich, hat ganz am Anfang bemerkt, dass die Schriftstellerei keine sehr angenehme Beschäftigung sei. Im Leben gäbe es eine Menge anderer, amüsanterer Dinge. Man müsste sich disziplinieren, um zu schreiben. Habt ihr irgendwelche selbstdisziplinierenden Maßnahmen? Wie habt Ihr es geschafft, so viele Texte in eurem Leben zu schreiben?

 

Kozlova: Ich persönlich schreibe entweder, oder ich schreibe nicht, wie in Anfällen. Und in dieser Zeit stehe ich dann so um sechs auf und schreibe bis eins. Und dann, wenn ich zum Ende komme, vergeht mir alle Lust. Ehrlich gesagt bin ich in solchen Momenten so faul, dass ich das, was ich bereits geschrieben habe, gar nicht noch mal lektorieren möchte.

Starobinec: Und ich habe in einem Zustand totaler Hysterie geschrieben, als ich gerade erst die Geburt hinter mir hatte und mir die Zeit zwischen der Arbeit bei Expert und meinem Kind einteilen musste. Und dann, nachts, so ungefähr um zwölf, wenn es endlich eingeschlafen war und ich wusste, dass es bis drei sicher nicht mehr aufwacht, und das jetzt die einzigen drei Stunden sein würden, die ich für mein persönliches Leben hatte, – und dann also…

 

D: Die Nicht-Schriftsteller widmen diese Zeit dem Schlaf…

 

Starobinec: Na, damit habe ich mich selbst angestachelt: nein, ich lege mich nicht hin, ich gehe den Computer einschalten und werde schreiben.

 

 

Übersetzt von Anna Burck mit freundlicher Genehmigung der Afiša.

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