„Wissen kann heilen, aber das Wissen war hinter den Türen des Archivs versiegelt“ – Sergej Lebedew im Gespräch mit novinki

Der in Moskau geborene und derzeit in Potsdam lebende Sergej Lebedew ist einer der populärsten und meistübersetzten russischen Gegenwartsautoren im Westen. In Russland wurde er jedoch von der Literaturkritik wie auch vom Lesepublikum weitgehend übersehen. Lebedew ist ein entschiedener Gegner des Putin-Regimes. Seiner Meinung nach gibt es eine klare Linie zwischen der Strafflosigkeit der sowjetischen Verbrechen und dem heutigen russischen Überfall auf die Ukraine. Daher scheint sein 2011 erschienener Debütroman Предел забвения (deutsche Ausgabe: Der Himmel auf ihren Schultern, übersetzt von Franziska Zwerg) im heutigen Kontext neue Relevanz zu bekommen, denn er behandelt die Fragen der Verantwortung und der Aufarbeitung von Russlands repressiver Vergangenheit. In einem Interview für novinki erläutert Sergej Lebedew seinen Debütroman aus heutiger Sicht und teilt seine Überlegungen zur globalen Wahrnehmung der russischen Sprache und Literatur im Kontext des umfassenden Angriffskriegs auf die Ukraine.

 

Rezeptionen: Russland vs. anderswo

novinki: Es scheint, dass Sie hier im Westen viel populärer sind als in Russland – was glauben Sie, woran das liegt?

Sergej Lebedew: Als ich meinen ersten Roman Der Himmel auf ihren Schultern schrieb, dachte ich, dass dieses Buch nicht nur populär in Russland sein wird, sondern dass es eine Art Explosion auslösen wird, weil es meines Wissens der erste Roman war, der nicht aus der Perspektive des Opfers der sowjetischen staatlichen Repressionen geschrieben wurde, sondern auch die Täterschaft in den Blick nahm, und damit die Frage der Verantwortung aufwarf. Aber genau wegen dieser Frage wurde es in Russland wahrscheinlich nicht gerne gelesen und nicht breit diskutiert. Ich glaube nicht, dass es an meinem literarischen Versagen liegt, sondern einfach daran, dass unsere Gesellschaft nicht bereit war, diese Frage so zu stellen, wie sie gestellt werden sollte, und wir es vorziehen, dieses Thema zu vermeiden.

novinki: Wie fühlen Sie sich angesichts der mangelnden Aufmerksamkeit in Russland?

S.L.: Es kann ziemlich schmerzhaft sein, in seinem eigenen Land nicht richtig wahrgenommen zu werden, aber es hat mir auf jeden Fall geholfen, einige meiner eigenen Illusionen loszuwerden. Ich dachte wirklich, es reicht, das Buch zu schreiben, und das Buch wird als Institution funktionieren, aber es scheint, dass zuerst einige Institutionen und juristische Organe geschaffen werden sollten und erst dann die Literatur eingreifen kann.

Wenn der starke Wunsch, einige Dinge in Russland zu ändern, nicht akzeptiert wird, und man ausgeschlossen und kritisiert wird, kann man sogar die Inspiration verlieren. Aber da ich sah, dass die (Nicht-)Rezeption in Russland eine Ausnahme ist, während der Roman in anderen Ländern sehr viel gelesen wird, gab mir das die Hoffnung, dass diese Texte vielleicht eines Tages nach Russland und auch zur russischen Leserschaft zurückkehren werden.

„Durch meine Bücher spreche ich mit und für diejenigen, die nicht vertreten sind: mit denen, die vom Leben ausgeschlossen wurden und deren Biografien zensiert wurden, und für diejenigen, die nicht für sich selbst sprechen können.“

novinki: Würden Sie sagen, dass Ihre Arbeit für Menschen, die den Alltag in sozialistischen Ländern erlebt haben, verständlicher ist?

S.L.: Diejenigen, die in Polen, in Bulgarien, in der DDR gelebt haben, wissen sehr gut, wovon meine Bücher handeln: es ist ihre Erinnerung und ihre Erfahrung, während es in Frankreich oder in Italien häufiger als reine Fiktion gelesen wird. Das spüre ich auch in den Gesprächen mit meinen Leser:innen, weil man in Frankreich so viele Dinge erklären muss, die man in Polen nie gefragt wird.

novinki: Haben Sie ein bestimmtes Publikum vor Augen, wenn Sie mit dem Schreiben Ihrer Romane beginnen?

S.L.: Das habe ich, aber es ist nicht das Publikum der aktiven Leser:innen. Ich denke, ich schreibe für die Gemeinschaft derjenigen, die nicht mehr am Leben sind. Durch meine Bücher spreche ich mit und für diejenigen, die nicht vertreten sind: mit denen, die vom Leben ausgeschlossen wurden und deren Biografien zensiert wurden, und für diejenigen, die nicht für sich selbst sprechen können.

 

Schreibweisen: Zwischen Fiktion und Dokument

novinki: Glauben Sie, dass das riesige Territorium der Sowjetunion eine Rolle bei der Indifferenz der Menschen gegenüber den Opfern der sowjetischen Konzentrationslager spielt?

S.L.: Die Geografie, die Weite Russlands, gab Stalin und seinen Nachfolgern die einzigartige Möglichkeit, die Opfer unsichtbar zu machen. Selbst die Nazi-Konzentrationslager waren irgendwo in der Nähe, mitten in Europa, während die härtesten Gulag-Lager wirklich weit weg waren, in den nördlichsten Teilen Russlands. Das macht das Problem der Erinnerung noch schwieriger, denn die meisten Menschen können nicht dorthin gehen, können es nicht anfassen, können es nicht sehen: sie müssen sich auf die Vorstellungskraft verlassen und auf die Brücken, die nur durch Kunst, durch Texte, durch das Kino gebaut werden können.

Als ich zu meiner ersten geologischen Expedition aufbrach, dachte ich selbst ganz naiv, dass es da draußen im Norden nur unberührte Natur gibt, nur Taiga. Ich hätte nie gedacht, dass die Lager noch da sind. Ich habe schon prominente Schriftsteller wie Solženicyn oder Šalamov gelesen, aber ich hätte nie gedacht, dass wir uns immer noch im selben Raum, im selben Chronotop befinden.

novinki: Da Ihre Arbeit viele dokumentarische Elemente enthält, wie war es für Sie, zu versuchen, die Emotionen Ihrer Vorfahren zu erleben und zu erklären?

S.L.: Ich würde nicht sagen, dass ich ihre Emotionen nacherlebe. Ich denke, es ist etwas anders: Ich mache sie sichtbar. Die Geschichte, darunter auch die Familiengeschichte, wie wir sie geerbt haben, wurde aufgrund des Charakters der Sowjetmacht wahrscheinlich fünf oder sechs Mal neu geschrieben. All diese Veränderungen zu rekonstruieren und zu entschlüsseln bedeutet, die Realität selbst zu rekonstruieren. Vielleicht wende ich mich nicht einfach an meine Verwandten, vielleicht stelle ich ihre Realität wieder her.

 

Das Insistieren des sowjetischen Traumas

novinki: Warum widmen Sie sich in Ihrer Arbeit so sehr dem sowjetischen Trauma? Was bringt Sie dazu, immer wieder auf dieses Thema zurückzukommen?

S.L.: Ich suche mir meine Bücher nicht aus, sie suchen mich aus. Als ich über Der Himmel auf ihren Schultern als Text nachdachte, sagte ich zu mir selbst: „Nein, da will ich nicht hin.“ Stattdessen dachte ich, ich würde einen lyrischen Roman über eine Frau-Mann-Beziehung in, sagen wir, „Neurussland“ schreiben – wir unterscheiden uns sehr von unseren Eltern mit ihrer sozialistischen Erfahrung von Gefühlen und Beziehungen, also ist das ein interessantes Thema. Ich war begeistert von Marcel Proust und beschlos, ein „Dichter der Beziehungen“ zu werden. Und nachdem ich drei Seiten des Romans geschrieben hatte, wurde mir klar, dass ich nicht über Beziehungen schreibe, sondern über den Gulag.

Selbst wenn man den festen Entschluss fasst, nicht darüber zu schreiben, geht etwas, das man nicht selbst ist, in seine eigene Richtung. Es liegt also nicht an mir – vielleicht können wir sagen, dass ich dazu aufgefordert werde: es ist nicht klar von wem, vielleicht von der Sprache, von der Erinnerung, von der Geschichte, von den Verwandten selbst, vielleicht in Kombination. Aber so geschieht es.

novinki: Was Sie mit Ihren Romanen zu vermitteln versuchen, ist eine wichtige Botschaft. Wie kommt es, dass Sie sich entschieden haben, sie in Fiktion zu verpacken?

S.L.: Die russische Archivpolitik funktioniert so, dass Verwandte eines Opfers staatlicher Repressionen die persönlichen Akten des Opfers anfordern können. Als Verwandter eines Kriminellen kann man jedoch keine Akten beantragen – sie sind immer noch geheim. Auf diese Weise trägt die Archivierungspolitik dazu bei, dass die Verbrecher figurlos, gesichtslos und unbekannt bleiben, genau wie die Figur des „Großvaters II“ in meinem Roman Der Himmel auf ihren Schultern. Und dieses Ungleichgewicht war einer der Gründe, warum ich mich entschlossen habe, Fiktion zu schreiben. Wenn es keine Dokumente gibt, keine Möglichkeit, Beweise zu beschaffen, und wenn alle Zeug:innen verschwunden sind, gibt es keine Möglichkeit, Sachbücher zu schreiben, – und die Fiktion bleibt als letztes Mittel, wenn man mit diesem Thema arbeiten möchte.

Einer der Hauptgedanken von Der Himmel auf ihren Schultern war es nicht, diesen unbekannten Kreis von Verantwortlichen vor Gericht zu stellen, sondern sie wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, sie sichtbar zu machen.

 

Autobiographische Hintergründe

novinki: In Der Himmel auf ihren Schultern unternimmt der Protagonist/Erzähler eine psychologische Entdeckungsreise durch seine eigenen Erinnerungen sowie eine physische Reise in den Norden Russlands, um die Wahrheit über seinen Verwandten herauszufinden. Haben Sie eine ähnliche Reise hinter sich?

S.L.: Anders als der Protagonist/Erzähler habe ich meine Reisen vor der Entdeckung unternommen. Ich bin mit fünfzehn Jahren in den hohen Norden gegangen und habe acht Jahre lang an geologischen Expeditionen teilgenommen, hauptsächlich in den ehemaligen Gulag-Gebieten. Jeden Sommer wiederholte ich die Routine der Häftlinge, ging auf ihren Wegen, arbeitete in denselben Minen und wohnte in einem Zelt neben ihren Baracken. Ohne die entsprechenden Denkmäler sind diese Orte nicht als Orte des Terrors zu erkennen: Die Natur löscht die Erinnerung an die Opfer aus. Es bedarf also immer einer Anstrengung der Vorstellungskraft oder der körperlichen Erfahrung, um zu verstehen, wie ein Mensch dort durch Zwangsarbeit vernichtet und getötet werden konnte.

Als ich also einige Jahre nach diesen Expeditionen die Dokumente fand, die bewiesen, dass mein eigener Verwandter, der zweite Ehemann meiner Großmutter, der Kommandant eines solchen Lagers war, war ich zunächst sprachlos. Dann wurde mir klar, dass er sich sehr gut versteckt hatte. Wie ich bereits erwähnt habe, gibt es keine Möglichkeit, an seine Archivdokumente heranzukommen, und das würde es schwierig machen, über ihn zu schreiben. Aber etwas war in meiner Biografie, nämlich diese geologischen Expeditionen, die mir die Möglichkeit gaben, zu schreiben, denn ich habe sein Reich gesehen. Ich war dort und habe gesehen, wie es aussieht, habe gesehen, welche Spuren es hinterlassen hat – das war also meine Hintertür zum Buch.

novinki: Ihre Romane, vor allem der erste, Der Himmel auf ihren Schultern, scheinen als Plattform für die Trauer und die Verarbeitung des Todes derer zu dienen, die keine Chance hatten, ordnungsgemäß beerdigt zu werden. Wer sind diese Menschen? Und was bedeutet es für Sie, sich an sie zu erinnern?

S.L.: Wir sprechen hier nicht von einem natürlichen Prozess, nicht von Menschen, die auf natürliche Weise an Altersschwäche gestorben sind, wir sprechen von denen, die getötet wurden, von denen, die – willkürlich oder nicht – aus verschiedenen Gründen ausgewählt wurden, um eine Strafe zu erhalten, von denen, in deren Leben ein Verbrechen verübt wurde. Und ein Verbrechen ist nichts, das wir in den menschlichen Beziehungen als natürlich betrachten sollten. Es ist das Verbrechen, das der Erinnerung bedarf. Wenn wir anfangen, die Verbrechen zu vergessen, begeben wir uns in eine sehr gefährliche Zone der Abwesenheit von Moral.

Diese Menschen wurden gewaltsam aus dem Gedächtnis gelöscht, weil der sowjetische und später der russische Staat besondere Anstrengungen unternommen haben, um sie verschwinden zu lassen: von der nur zu gut bekannten Bearbeitung von Schulbüchern bis zur Einrichtung unbekannter Gräber im Norden. Wir haben es hier mit einer flächendeckenden „Entmemorialisierung“ zu tun – nicht mit einem natürlichen Prozess. Deshalb ist die einzige Möglichkeit, sich dagegen zu wehren, die Durchsetzung der Erinnerungspolitik. Das ist ein schwieriger Kampf, denn der Staat wollte nicht nur, dass sie getötet werden, sondern auch, dass sie ganz verschwinden. Wenn man also gegen das unterdrückerische Erbe des Staates kämpft, ist das Beste, was man tun kann, die Erinnerung an die Verschwundenen zu bewahren.

Ich würde sagen, dass zu viele Dinge in Russland, aber auch schon in der Sowjetunion – vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute – auf ebenjenem Gebot des „Vergessen wir es“ basieren, weil es zu schwierig ist, darüber zu sprechen. Meine Aufgabe als Schriftsteller, als Bürger, als Mensch ist es, mich dem entgegenzustellen, denn zu viele Dinge wurden gewaltsam vergessen.

„Um sich vom Trauma zu befreien, um frei zu atmen und sein eigenes Leben zu leben, muss man in die Vergangenheit gehen, man muss es aufdecken, sonst wird man sein Leben im Schatten dieses Erbes leben.“

novinki: In Ihrer eigenen Familiengeschichte gibt es nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Hatten Sie persönlich das Gefühl, dass diese Methode Ihnen geholfen hat, Ihre eigene Familiengeschichte zu verarbeiten – und haben Sie nach dem Schreiben darüber Klarheit oder Erleichterung verspürt?

S.L.: In dem Moment, da ich die Wahrheit über meinen Verwandten herausgefunden hatte und die Dokumente in den Händen hielt, die bewiesen, dass er der Kommandant eines Gulag-Lagers gewesen war, fühlte ich mich, nach den ersten Gefühlen von Schock und Überraschung, völlig hilflos. Es war, als wäre er an mich gekettet, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe versucht, von dort wegzukommen, nicht nur wegzulaufen, sondern auch, diese Situation zu verarbeiten. Es war ein Moment der Verzweiflung, ich wollte das nicht unverarbeitet lassen, aber ich wusste nicht, wie ich es verarbeiten sollte. Wissen kann heilen, aber das Wissen war hinter den Türen des Archivs versiegelt, und alle Zeug:innen sind verschwunden.

Bald wurde mir klar, dass es wahrscheinlich irgendwo in Russland in diesem Moment eine andere Person gibt, die gerade das Gleiche über ihre Verwandten herausgefunden hat und sich die gleichen Fragen stellt. Also beschloss ich, Der Himmel auf ihren Schultern als eine „Transformationsmaschine“ zu schreiben, nicht nur für mich selbst, sondern für alle, die unter der Vergangenheit ihrer Vorfahren leiden. Diese Maschine ermöglichte es mir, in das Land der Toten zu gehen und wieder zurückzukehren. Ich hatte dabei das Gefühl, dass zumindest ein kleiner Teil meines Bewusstseins, meiner Seele, meiner Integrität geheilt wurde. Ich kann jetzt damit umgehen, ohne es abzulehnen, aber auch ohne unkontrollierte Schuldgefühle zu haben. Wenn es ein Experiment war, dann war es ein erfolgreiches Experiment.

novinki: Welche Art von Erkenntnis hat diese „Transformationsmaschine“ für Sie und für Ihre Leser:innen gebracht?

S.L.: Als das Buch Der Himmel auf ihren Schultern in Russland veröffentlicht wurde, erhielt ich Briefe und Nachrichten von den Leser:innen. Plötzlich fingen sie an, sich alle zu ähneln. Die Leute schrieben mehr oder weniger den gleichen Text darüber, wie mein Buch ihnen geholfen hat, die Wahrheit über entfernte Verwandte in ihren eigenen Familien zu erkennen. Sie sagten, dass sie eine dunkle Energie spürten, die von diesen Verwandten ausging, aber sie waren nicht in der Lage, deren Ursprung zu erklären, und jetzt, mit meinem Buch, mit dem Porträt von „Großvater II“, sahen sie die gleiche Art der Emotionalität in ihrer eigenen Familie.

Ich würde sagen, dass es nicht nur das Trauma ist, sondern auch das Böse, das nicht erkannt wird. Es wird nicht direkt übertragen, man kann es nicht vererben, aber es bleibt als ein dunkles Rätsel, es bleibt als Grund für Störungen, es bleibt als etwas physisch ganz Reales. Und um sich davon zu befreien, um frei zu atmen und sein eigenes Leben zu leben, muss man in die Vergangenheit gehen, man muss es aufdecken, sonst wird man sein Leben im Schatten dieses Erbes leben.

Und natürlich ist es die Angst, die übertragen wird. Bevor ich selbst die Wahrheit über meinen Verwandten herausfand, wussten meine Eltern das schon – aber sie beschlossen, es mir nicht zu sagen. Ich glaube, es war aus Angst: Sie befürchteten, dass man ihnen die Schuld für das Zusammenleben mit ihm geben würde.

„Es lässt sich eine klare Linie von der Nichtbestrafung der sowjetischen Verbrechen bis zum aktuellen russischen Überfall auf die Ukraine ziehen. Und ich würde sagen, dass die schwierigste und tragischste Frage für die russische Gesellschaft in der Zukunft darin besteht, ob wir in der Lage sein werden, diejenigen zu bestrafen, die jetzt verantwortlich sind.“

Verdrängung: Wurzeln des heutigen Verhaltens Russlands

novinki: Welche Auswirkungen hat die mangelnde Aufarbeitung der Verbrechen des Stalinismus auf Russland heute?

S.L.: Die Straflosigkeit der staatlichen Verbrechen – buchstäblich, physisch, in unserer realen Welt, nicht in der Welt der Phantasie – macht den ersten, zweiten, nächsten Kreislauf der Gewalt möglich. Es lässt sich eine klare Linie von der Nichtbestrafung der sowjetischen Verbrechen bis zum aktuellen russischen Überfall auf die Ukraine ziehen. Und ich würde sagen, dass die schwierigste und tragischste Frage für die russische Gesellschaft in der Zukunft darin besteht, ob wir in der Lage sein werden, diejenigen zu bestrafen, die jetzt verantwortlich sind. Und ich sehe leider nur die mangelnde Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, über Verantwortung zu sprechen und zu versuchen, diese Verantwortung in bestimmten juristischen und politischen Maßnahmen umzusetzen.

In der Sowjetunion hatte jeder Angst vor der Vergangenheit, sie verfolgte die Menschen; aber als Russland in die Phase des wirtschaftlichen Niedergangs eintrat, wurde die Zukunft plötzlich zu einer Bedrohung und einem Feld der Unsicherheit. Ich denke, dass diese Bedrohung durch die Zukunft auch die Notwendigkeit der Vergangenheitsbewältigung irgendwie verwischt hat.

 

Aufarbeitung statt Cancel-Culture: Aktuelle russische Literatur und Sprache aus globaler Perspektive

novinki: Seit dem Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges auf die Ukraine hat man begonnen, eine Menge imperialistischer und chauvinistischer Motive in der russischen Literatur zu bemerken. Würden Sie zustimmen, dass es in der russischen Literatur einige Elemente gibt, die für die heutige Situation verantwortlich sein könnten?

S.L.: Die Verantwortung liegt nicht bei der Literatur, sondern bei den russischen Akademiker:innen. Die imperialistischen und chauvinistischen Tendenzen sind in der Tat vorhanden, zum Beispiel in Puškins Erzählungen, und das hätte schon in der Vergangenheit ordentlich analysiert und entlarvt werden müssen. Puškin war Puškin zu seiner Zeit, aber es liegt nicht an ihm, sondern an den russischen intellektuellen Kreisen, die Puškin als heilige Figur aus der Kritik herausgehalten haben – und das ist das eigentliche kulturelle Versagen.

Teilweise lässt sich dies dadurch erklären, dass die Hochschulbildung in Russland dem Staat gehört, alles ist staatlich, und die Regierung will natürlich nicht, dass ihr heiliger Puškin dekonstruiert wird. Zweitens sollten wir natürlich verstehen, dass Puškin und andere große russische Autoren von der sowjetischen und russischen Regierung in hohem Maße politisch instrumentalisiert wurden, als Mittel der kulturellen Kolonisierung und Unterdrückung. Auch hier liegt die Schuld nicht bei den Autoren, aber man kann sie nicht von diesen symbolischen Bedeutungen trennen. Und wenn zum Beispiel die Puškin-Statuen in der Ukraine zerstört werden, habe ich dafür volles Verständnis, denn es sind nicht die Statuen des Dichters, sondern Symbole des Besitzes, sie markieren ein Territorium, und es ist durchaus vernünftig, sie zu entfernen.

Ich würde sagen, dass der Ruhm der russischen Literatur und Kultur, dieses Gefühl der Größe, das Russland hat, das in Wirklichkeit nicht weit von Chauvinismus und Rassismus entfernt ist, eines der Hauptprobleme ist. Und diese „Größe“, dieses glänzende Image der russischen Kultur loszuwerden, ist nicht nur notwendig, sondern sogar gesund für die Kultur selbst, weil sie dann nicht mehr als Erklärung oder Rechtfertigung für Gewalt benutzt werden kann.

„Daher glaube ich, dass der Prozess des Widerstands mit der Sprache beginnt, denn Putin und seine Regierung versuchen, die Menschen in eine Situation zu zwingen, in der ihre Sprache total ist. Sie versuchen, dieses Monopol aufrechtzuerhalten, und es ist sehr wichtig, dieses Monopol auf der Ebene der Erzählungen zu untergraben.“

novinki: Neben der Literatur wird seit dem Überfall sogar die russische Sprache kontrovers diskutiert und negativ bewertet. Sie schreiben aber weiterhin auf Russisch. Was halten Sie von den Versuchen, die russische Sprache aus der Ukraine zu entfernen?

S.L.: Ich kann sehr gut verstehen, dass Russisch nicht mehr willkommen ist. Ich kann es verstehen, weil meine Großmutter nie in der Lage war, in Ruhe Deutsch zu hören – die traumatische Erfahrung ist mit der Sprache verbunden. Aber ich kann die russische Sprache nicht denen überlassen, die sie jetzt missbrauchen. Und ich kann nicht tatenlos zusehen, wie die Sprache zur Waffe wird, zum Werkzeug der Gewalt, zum Werkzeug der Rechtfertigung.

Daher glaube ich, dass der Prozess des Widerstands mit der Sprache beginnt, denn Putin und seine Regierung versuchen, die Menschen in eine Situation zu zwingen, in der ihre Sprache total ist. Sie versuchen, dieses Monopol aufrechtzuerhalten, und es ist sehr wichtig, dieses Monopol auf der Ebene der Erzählungen zu untergraben. In der Sprache selbst liegt echte Macht, und ich glaube, dass die Sprache das einzige Mittel ist, das uns in die Zukunft bringen kann. Und die einzige wirkliche Zukunft besteht darin, Russland in einen sicheren und friedlichen Nachbarn zu verwandeln. Es geht nicht nur darum, einen Vertrag zu unterzeichnen, sondern Bewusstsein, Kultur und Sprache einem Wandel zu unterziehen. Und wie soll das geschehen? Welche Prozesse sollten wir in Gang setzen? Dies ist eine große philosophische, künstlerische und kulturelle Herausforderung. Es ist leicht zu sagen, dass wir später darüber nachdenken werden, oder zu sagen, dass es nur an der Sprache liegt – nein, das ist es nicht. Die Sprache selbst zu dekonstruieren und zu verstehen, wie sie mit diesen Tendenzen des Imperialismus und der Gewalt zusammenhängt, ist sehr wichtig.

novinki: Wie sieht Ihrer Meinung nach die Zukunft Russlands jetzt aus? Erwarten Sie große Veränderungen im Verhalten und Handeln der russischen Bürger:innen?

S.L.: Die Russen fühlen sich eindeutig schuldig, weil wir seit 2014 nicht genug getan haben. Selbst die liberalen oder oppositionellen Kreise Russlands sprachen mehr über Korruption als über den Krieg, und dieser Krieg ist nicht der erste, den Russland begonnen hat. Es gibt eine klare Linie von den Tschetschenienkriegen bis zum Überfall auf die Ukraine, und ich sehe darin ein intellektuelles Versagen von uns, von mir selbst.

Viele konzentrieren sich heute darauf, wie sich die Russen fühlen. Ich glaube nicht, dass das jetzt passend ist, denn es ist nicht die Zeit, in der wir unsere Gefühle offenlegen sollten. Es ist die Zeit, in der wir eine sehr schmerzhafte Lektion lernen und uns selbst mit den Augen der Ukrainer betrachten und sehen sollten, zum Beispiel, wie die russische Sprache schmerzen kann. Aber wir sollten auch weiter schauen, über die Grenzen der Ukraine hinaus: Diese groß angelegte Invasion hat in ganz Europa viele Erinnerungen an frühere Erfahrungen mit russischer oder sowjetischer Herrschaft, repressiver Politik, Invasionen usw. ausgelöst.

In Litauen, in Polen, in Finnland: Überall erinnern sich die Menschen an das, was die Russen bzw. die Sowjets getan haben. Auch mit diesem Erbe, mit der imperialen und kolonialen Rolle Russlands im 20. Jahrhundert, haben wir uns nie richtig auseinandergesetzt. Wir haben über unsere Opfer gesprochen, wir haben über die Repressionen gesprochen, aber darüber, dass wir ein halbes Jahrhundert lang Besatzungsmacht waren, zum Beispiel in Ost- und Mitteleuropa ‒ das war nie Hauptthema der Diskussion.

Wir sind Rückfalltäter, wir sind diejenigen, die das immer wieder tun. Und die einzige Hoffnung für unsere Zukunft ist, dass wir diese Lektion wirklich lernen werden.

 

Das Interview fand am 27. Juni 2023 via Zoom statt.

Das Beitragsbild, aufgenommen von James Hill, wurde von Sergej Lebedew bereitgestellt.

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