In der Sanduhr der Zeit

 Die Menschen ahnten die herannahende
Katastrophe nicht.
Norman Davies

 

In der Romanwelt von Dušan Šimkos Esterházys Lakaj (Dušan Šimko: Esterházys Lakai. Arco Verlag, Wuppertal 2005) findet keine Entwicklung statt. Sie ist vormodern abgeschlossen, beständig, ewig. Sie ist „die Wiederkehr ein und desselben“. Gegenüber dem Universum der aktuellen Welt stellt sie ein künstliches Glashaus dar (Andrej Stankovič). Sie ist eine Welt konventioneller Symbole, der Etikette und der Zeremonien, stellt eine inszenierte Welt dar.

Über diese Welt zu schreiben bedeutet nach Deleuze „dessen Landkarte zu erstellen“, sie mit räumlichen und zeitlichen Koordinaten zu versehen. Die Landkarte von Šimkos Roman bildet die Geometrie der Reisen des Fürsten Nikolaus Esterházy. Dessen Epizentrum ist das Schloss in Esterháza, ein „kleines Versailles“, neben einem Sumpf zwischen Sopron und dem Neusiedler See gelegen. Durch strahlenförmige Straßen ist diese künstlich erschaffene Welt mit Wien, Pressburg und Buda verbunden, in weiterer Ferne mit Neapel, Venedig, Frankfurt, Leyden, Paris sowie mit Siebenbürgen. So verzeichnet ihn pedantisch gleich zu Beginn des Romans Oberhofmeister Rahier in seinen Esterhazyschen Unterlagen.

Das Komplement zur räumlichen Landkarte bilden deren zeitliche Koordinaten. Esterházys Welt hat ihre eigene, unveränderliche Zeit, vermessen durch das Zeitmaß der Welt, das seine Ordnung hat und „eine riesige unsichtbare Uhr dort eine Stunde nach der anderen, einen Tag nach dem andern und eine Woche nach der anderen mit Hilfe des Chronometers abschneidet, das durch seine maschinelle Unbeirrbarkeit den Direktor des Esterhazyschen Theaters so sehr fasziniert.“
Die Welt in Šimkos Roman ist gerade dabei zu lernen, sich zu ordnen, d.h. sich zu vermessen und in Landkarten festzuhalten, die Ereignisse in die Kataster, Chroniken, Archive, jedoch auch in die persönlichen Tagebücher einzuschreiben, ähnlich wie Maria Theresia ihre Ehe mit der genauen Anzahl von Minuten, Stunden, Tagen, wochen, Monaten und Jahren angab.
Die Faszination der Geometrie, der Ordnung und Vermessbarkeit der Welt, der die Vorstellung von deren rationaler Beherrschung entspringt, hat jedoch in Šimkos Roman nicht nur thematische, sondern auch texterschaffende Gültigkeit. Sie kennzeichnet die raumzeitlichen Koordinaten des ganzen Romans.

Dies ist umso wichtiger, nachdem die Zeit in Šimkos Roman nicht chronologisch verrinnt, sondern wiederkehrend. Und auch die Orte kann man nicht räumlich mit einem Punkt angeben (nirgendwo im Roman finden wir zum Beispiel eine genaue geografische Verortung von Esterháza), sondern nur auf der Grundlage eines Netzes, das die Verbindungen einzelner Orte herausbilden.
Dies hat eine Schlüsselbedeutung für die grundlegende Orientierung im Roman. Sein Beginn datiert auf das Jahr 1769 mit der Ankunft des 17-jährigen Isaak Abeles in das „verbotene Paradies“ der Esterházyschen Welt, die Handlung kehrt zurück zum Tod von Kaiser Franz von Lothringen im Jahr 1765, verlagert sich ins Jahr 1773 zum Besuch Maria Theresias in Esterháza, kehrt erneut zu 1769 zurück, springt dann vorwärts in die Jahre 1779-1780 und endet mit einem kurzen Epilog 1790.

Es ist die kreisende Zeit der Figuren und ihres epochalen Bewusstseins von der Unveränderlichkeit der Welt. Diese Zeit steht in einem seltsamen Spannungsverhältnis zur Zeit des Erzählens – denn wir wissen mit dem heutigen Erzähler des Romans, dass Maria Theresias Epoche eine Zeit vor dem Ausbruch war.
Dasselbe gilt vom Raum. Unser Raum ist ein anderer als jener der habsburgischen Monarchie. Er kennt andere territorialen Koordinaten, Grenzen,und hat eine davon unterscheidbare Topografie. Šimkos Roman oszilliert zwischen den Räumen und Zeiten der damaligen habsburgischen Monarchie und der heutigen Slowakei, und der Leser kann sich im Romanraum nur dann orientieren, wenn er die ursprünglichen raumzeitlichen Koordinaten kennt.

Sobald in Šimkos Roman die „Slowakei“ als Territoriumsbezeichnung in Alternation zu „Oberungarn“ auftaucht, und zwar in Gestalt der Nennungen von Prešporok, Muraner Glas, Kremnitzer Dukaten, oder von Juden, die nach Malacky einwanderten, ist dies in viel stärkerem Maß ein Ausdruck von Šimkos Bewusstsein der slowakischen Gegenwart in der ungarischen Geschichte des 18. Jh. als eine erzwungene Slowakisierung.
Šimko erstellte die Landkarte seines Romans aufgrund eines Spiels mit kartografischen Ähnlichkeiten und Unterschieden. Sie stellt ein Palimpsest dar, die Überschreibung einer Schreibschicht durch eine andere. Beide Schichten, die ursprüngliche und auch die heutige interferieren, überdecken und überschneiden sich, ein andermal unterscheiden sie sich anekdotisch voneinander oder blättern voneinander ab, wobei nicht immer die Vergangenheit die ironische Seite der beiden Schichten sein muss.
Šimkos Roman ist der Raum eines Paradieses. Zu Beginn ist es ein für Isaak Abeles verbotenes Paradies, zum Schluss ein verlorenes. Falls anfangs das Paradies ein naruthafter Ort war, ist es hier ein kultureller, gepflegter Ort. Es sind dies Raum und Ort des Rokoko, die sich zwischen dem tief gefühlsmäßigen Barock und der rationalen Aufklärung bewegen. So wie das ursprüngliche natürliche Paradies ist auch das kulturelle zum Untergang verurteilt; das Paradies der Technik und des Fortschritts tritt an, dessen Wesen und Entwicklung damals völlig unklar waren, uns hingegen bekannt sind, worin auch die Doppelperspektive des Romans beruht.
Es vereinigt Kultiviertheit mit Grausamkeit. Die signifikanteste Erscheinung dieser Verbindung ist im Roman die aufklärerische Aufnahme des Mulatten Angelo Soliman bei den Freimaurern und die heimliche Instruktion Maria Theresias, ihn als kreatürliches Exemplar der Gelehrsamkeit nach dessen Tod auszustopfen.

Die Welt des Rokoko verbindet jedoch auch die „spielerische Launenhaftigkeit“ mit dem menschlichen Bestreben „die höchsten Wahrheiten und die reinste Erkenntnis zu erlangen“, Leichtigkeit und Verführung mit Kontemplation und tiefer Verehrung, wie dies Mirko Očadlík über die Rokoko-Musik schrieb.
So ist auch Šimkos Romanwelt beschaffen. Thematisch überlappen sich darin das überfeinerte und grausame Rokoko mit den markanten Charakterzügen der aufkommenden Aufklärung, vom neuen Begriff des menschlichen Körpers in der medizinischen Forschung bis zur kontroversen Einführung des „Urbars“, eines Katasterverzeichnisses, zusammen mit den Beamten Henoch und Heigl, in gewisser Weise theresianischen Gespinsten späterer Kafkaesker Staatsdiener.
Es ist hier jedoch auch die niedere Strömung der Lasterhaftigkeit präsent, von der Norman Davies im Zusammenhang mit dem offiziellen Puritanismus des katholischen Österreich spricht, das es „unmöglich machte, aus der geschlechtlichen Verführung ein Thema gesellschaftlicher Unterhaltung zu machen“. Im Roman kommt er nicht wörtlich zum Ausdruck, sondern mittels des Tanzes und der schweigend geduldeten Legalisierung der Geliebten von Esterházy, Rahier, Haydn und Abeles, resp. des Geliebten der Sängerin Pozzio.

Esterházys Lakai ist jedoch auch ein Roman des Todes. Es sterben darin sowohl die Berühmten, und damit Verewigten, als auch die Namenlosen. Kaiser Franz von Lothringen, Maria Theresia und auch Nikolaus Esterházy verabschieden sich in jene Ewigkeit, in der der Adler die Sense des Todes bricht; der Junge, den ein Balken erschlägt, der Husar, der ertrinkt, oder der Mann, der bei der Feuersbrunstt ums Leben kommt, verschwinden lediglich in die Namenlosigkeit. Es sind dies zeitgenössisch bezeichnende Tode, die das Zeremonielle monumentalisieren, doch auch gleichgültige und fatal ironische.

Die Welt von Esterháza ist eine isolierte Welt der Kultur, die den Kern von Šimkos Roman bildet. Der von ihm inszenierte Raum stellt eine Welt des Theaters und seiner Kulissen dar. Der zeitgenössische Lärm der Ideen klingt in ihm lediglich als schwaches Echo nach, wenn Fürst Esterházy Bücher von Rousseau und Diderot bestellt und Oberhofmeister Rahier sie mit großem Vergnügen liest, da sie im Unterschied zur frivolen Literatur von der Zensur außer Acht gelassen werden. Hatte doch schon Maria Theresia nach der negativen Erfahrung mit dem Vorschlag zu radikalen Reformen durch Adam František Kollár zur Kenntnis genommen, dass „in Ungarn ein anderes Zeitmaß gilt und jede Reform in Zukunft viel Feingefühl, juristische Spitzfindigkeit und diplomatisches Geschick erfordert“.

Die semiotischeSprache der Zeit beruht im Roman nicht auf dem Wort, sondern der Musik, die ein festes Symbol der Epoche darstellt. Deshalb ist der Roman ein in einem viel größeren Maß äußerlicher, öffentlicher Raum der Musik als des Worts. Das innere Wort erklingt hier wie ein Privatissimum – aus den Tagbüchern der Sängerin Pozzio, oder aus dem Einleitungsbrief von Rahier und dem Abschiedsbrief von Haydn, die einen ironischen Kontrapunkt zwischen dem Mann des Worts und jenes der Musik setzen. Die Beziehung zwischen dem äußeren und inneren, dem öffentlichen und privaten Raum kann man auch so versinnbildlichen, dass Joseph Haydn im Brief aus dem Jahr 1790 nicht über die Französische Revolution schreibt, sondern über Süßigkeiten.

Die Musik ist Ausdruck der theresianischen Zeit und ihres Österreichischseins. Nach Franz Heer ist sie nichts anderes als der „Ausdruck und die Verbindung von Gegensätzen, Abgründen und Schwierigkeiten, die kein systematisches philosophisches Denken und auch kein staatspolitisches Machtsystem zu beherrschen in der Lage war“.
Die Seele von Šimkos Esterháza ist der Komponist Haydn. Hier komponiert er im fürstlichen Auftrag seine Opern, inszeniert Salieri und Mozart, hier schreibt er seine Symphonien, die das Herzstück seines musikalischen Werks bilden. Deshalb ist es kein Zufall, dass auch Šimko sich für sein Werk die Struktur einer Symphonie wählt, mit vier Teilen sowie wiederkehrenden Motiven, die sich verbreitende, manchmal mäandernde Bedeutungskreise symphonischer Musik bilden, ähnlich wie Šimkos Text.
Šimko verlässt völlig die Illusion „einer Abbildung der Wirklichkeit“. Es wird nicht der Anschein erzeugt, dass seine Figuren direkt vor unseren Augen erzählen und handeln. Er zitiert, paraphrasiert, benutzt eine Menge reizvoller literarischer Anspielungen von Shakespeares Othello bis zu Goethes „verwandten Seelen“ aus den Wahlverwandschaften, Mignons Lied von den „blühenden Zitronenbäumen“, oder auch dessen nüchterne Beschreibung der pompösen Krönung des Kaisers Franz von Lothringen in Frankfurt im Mai 1764.

Šimko ist ein detailgenauer Leser der Botschaften aus Tapies Buch über Maria Theresia, der Literatur über Haydn oder auch historischer Archive. Mit einem Bein steht er im Innern des Geschehens, mit dem anderen draußen und versichert dem Leser, dass sich nichts so abgespielt hat, wie er es schreibt, denn er schreibt es als Palimpsest, als Geschriebenes über Geschriebenem – er ist kein Historiker, sondern Prosaiker, er schreibt Geschichten und keine Geschichte.
Esterházys Lakai ist ein Roman des vormodernen Raum und Zeit. Die Figuren darin treten aus den Tiefen des Hintergrunds in den theatralisch erleuchteten Vordergrund, erfüllen ihre Rolle und verschmelzen mit dem Hintergrund wie einzelne Motive einer musikalischen Symphonie. Sie sind noch nicht auf moderne Weise autonom, ihre Individualität befindet sich im Zustand des Werdens, in der Tat haben nur zwei davon ihr individuelles Schicksal.

Der konvertierte Jude Isaak Abeles und der Komponist Joseph Haydn erhalten identifizierbare biografische Geschichten. Das prosaische Schicksal von Isaak Abeles bildet dabei den Revers zur realen Geschichte eines Prager Konvertiten, des Jungen Abeles vom Beginn des 18. Jh., die mit dessen tragischem Tod endet.
Die Geschichte von Šimkos Abeles unterscheidet sich davon. Sie spielt sich kein ganzes Jahrhundert später und in einem anderen Raum ab. Abeles setzt in der künstlichen, kultivierten, aber abgeschlossenen Welt von Esterháza fest, verlässt sie am Ende aber, um in die offene, rauhe, rudimentäre, aber auch freie Amerikas zu fahren; Haydn reistnach England. Die Schicksale von Haydn und Abeles gleichen einander, und dann auch wieder nicht. Beide kehren Esterháza den Rücken, Haydn in Richtung des europäischen Ruhms, Abeles hin zu einer amerikanischen, prosaischen Welt des Gemüsehandels.
Die übrigen Figuren treten aus der Zeitlosigkeit in eine kreisförmige Raum-Zeit-Konstellation der Figuren einer Turmuhr und verlieren sich in einer namenlosen Zeit und einem nicht kartografierten Raum.
Manche sind schicksalslos, andere verfügen über ein Schicksal wie Rahier, die Sängerin Pozzio, oder auch Angelo Soliman, doch der Leser erfährt daraus nur Fragmente.

Šimkos Roman ist kein historisches Gemälde, und will es auch nicht sein. Er ist die Parallele zweier Zeiten, in der die Menschen „keine Ahnung von der herannahenden Katastrophe hatten“. In diesem Sinn stellt er keinen chirurgisch klaren Schnitt gegen die Illusion vom ewigen Fortbestehen der alten Welt dar, ist aber auch kein Selbstbetrug vom Fortschritt als einer beständigen Folge von Innovationen in der modernen Welt.
Das Leben in einer künstlichen Welt, in seiner wiederkehrenden Zeit und unveränderlichen Topografie, die in Kürze durch die hereinbrechende Revolution verschwinden würde, ging nicht nur mit Verlusten einher, sondern auch mit Entdeckungen im Bereich von Kultur und Kultiviertheit. Die Verluste der modernen Zeit kennen wir zur Genüge.

Auch unsere Epoche ist wie eine Sanduhr. Wie Wolken ziehen die Konturen der vergangenen Welt von Esterháza an uns vorüber, ebenso wie unsere heutige Welt, die zur zerfließenden Vergangenheit mit einer unscharfen Topografie wird und die zukünftige Welt, deren Verluste wir nur erahnen können.

 

Aus dem Slowakischen von Renata SakoHoess.

 

Dušan Šimko: Esterházys Lakai. Arco Verlag, Wuppertal 2005.

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