Zar und Gottes Mann â eine ausfĂŒhrliche Filmrezension zu Carâ / Der Zar (Russland 2009, Regie: Pavel Lungin)Â
Der letzte Film von Pavel Lungin, Carâ, kam auf DVD im Original zu mir. Das hĂ€tte in Deutschland höchstwahrscheinlich auch nicht anders passieren können. Vielleicht lĂ€uft Carâ irgendwann auf 3Sat oder Arte im Minderheiten-SpĂ€tprogramm, wer weiĂ, aber ins Kino wird er nicht kommen. Ich habe ihn mir also angeschaut, den âZarenâ von Pavel Lungin. Der Zar, also Ivan IV. (1530-1585) â besser bekannt als Ivan der Schreckliche (eigentlich â groznyj â der Strenge) â ist in diesem Fall PĂ«tr Mamonov, Film-Schauspieler (Taxi Blues, Ostrov â beide von Lungin), Dichter und SĂ€nger seiner Band Zvuki Mu. Dieser Zar hat sehr wenig ZĂ€hne und sieht ĂŒberhaupt aus, wie man sich einen Ivan den Schrecklichen vorstellt, nicht zuletzt, wenn man das GemĂ€lde von Ilja Repin im Kopf hat (den Blick dieses Zaren wird man so schnell nicht vergessen).
Aber nicht allein die verblĂŒffende Ăhnlichkeit mit Ilja Repins ikonischen Ivan rechtfertigt die Wahl PĂ«tr Mamonovs. Er verkörpert seinen Zaren auch darstellerisch sehr ĂŒberzeugend und hinterlĂ€sst einen ebenso nachhaltigen Eindruck wie Repins GemĂ€lde. So auch gleich in seiner ersten Szene: Ivan muss vor das Volk treten, scheut jedoch davor zurĂŒck wie ein Pferd, als hĂ€tte er selbst Angst vor seiner GröĂe, seine Getreuen mĂŒssen ihn schlieĂlich festhalten. Diese Szene ist vielleicht die interessanteste des gesamten Filmes, weckt sie doch gleich zu Beginn die Hoffnung, es mit einer Auseinandersetzung mit Ivan IV., dieser zwiespĂ€ltigen und fĂŒr die russische Geschichte so wichtigen Figur, zu tun zu haben. Noch frisch zudem ist die Erinnerung an Vladimir Sorokins Roman Tag des OpriÄniks, wo mit klarem Verweis auf die Zeit Ivan Groznyijs und auf Basis eines literarisch aufwendigen und dem Leser einiges abverlangenden historisierenden Verfahrens die Themen Autokratie und WillkĂŒrherrschaft auf eindringliche Weise fĂŒr das heutige Russland und seine nahe (allzu nahe?) Zukunft aktualisiert werden. Nun also drei Jahre spĂ€ter ein Historienfilm mit Ivan dem Schrecklichen als Hauptfigur â das weckt Erwartungen, gerade auch weil sich die politische Situation in Russland kaum verĂ€ndert hat.
Aber leider werden diese Erwartungen enttĂ€uscht. Auch wenn man gleich in den ersten Minuten des Films sofort an Sorokins Roman denken muss: Auch hier fallen wie im Roman die OpriÄniki, Ivans âOMON-Truppenâ ĂŒber ein Gut her und massakrieren den in Ungnade gefallenen Hausherrn. Doch wĂ€hrend bei Sorokin letzterer erschlagen und seine Frau vergewaltigt wird, ausfĂŒhrlich und detailreich geschildert, gerĂ€t bei Lungin inmitten des grausamen Geschehens ein kleines MĂ€dchen in den Fokus, das auĂerdem den Hof unbemerkt verlassen kann. Da ihr die Kamera folgt, werden uns Zuschauer_innen die nun auf dem Hof stattfindenden Grausamkeiten erspart. Aber es kommt noch besser â das MĂ€dchen rennt gradewegs in die Arme eines zufĂ€llig des Weges kommenden und gĂŒtig wie der Weihnachtsmann aussehenden Popen. Und das ist, wie sich herausstellen wird, natĂŒrlich kein Zufall. Denn dieser Pope ist Filip, Abt des Soloveckij-Klosters (zu ihm gleich mehr).
Haben wir es also bei Sorokin mit einer Art abstraktem, fast schon comic-haftem Realismus zu tun, so entfaltet sich in Lungins Film von Anfang an die Ăsthetik (und auch Logik) eines historisierenden MĂ€rchenfilms. Das wĂ€re nicht weiter schlimm, wenn sich dieses im bunten Gewande historischen Geschehens erzĂ€hlte MĂ€rchen nicht schnell als plumpe Kirchen-Propaganda entpuppen wĂŒrde. Denn Carâ ist kein Film ĂŒber den Zaren. Die eigentliche Hauptfigur ist sein Gegenspieler: der eben bereits erwĂ€hnt orthodoxe Priester, genauer der im Jahre 1636 heilig gesprochene Metropolit Filip, dessen historisches Vorbild tatsĂ€chlich mit dem historischen Ivan in Widerspruch geriet. Anstatt sich auf die kĂŒnstlerisch Ă€uĂerst spannende Figur des Ivan Groznyj, dessen Zar- und Menschsein, dessen Konflikte, Vielschichtigkeit und seine Rolle in der russischen Landes- und Religionsgeschichte zu konzentrieren, und so das in Russland immer noch aktuelle Thema der âSelbstherrschaftâ in Form des Historiendramas zu behandeln, inszeniert Lungin ein unterkomplexes Gut- und Böse-Spiel, in dessen Schwarz-WeiĂ-Perspektive der Zar im Grunde nur als die Verkörperung des an und fĂŒr sich Bösen gebraucht wird, als Antichrist im Kreml, als Gegenspieler des absolut Guten, der heiligen russisch-orthodoxen Kirche, verkörpert in Filip, dessen Heiligen-Vita der eigentliche rote Faden des Filmes ist. Die ganze hervorragende darstellerische Leistung Mamonovs â Ivan ist hier ein von seinen DĂ€monen Getriebener, hin- und hergerissen zwischen Schuld, BuĂe, boden- und haltloser Selbstliebe, Selbsthass und Selbstvergebung â all das ist wirklich fĂŒr die Katz, auch wenn es aufwendig und manchmal auch sehr gelungen ins Bild gesetzt wird. All das ist hier nur dĂŒsterer Hintergrund, vor dem Filip als Vertreter des wahren Christentums umso heller leuchten soll.
Ich bin irritiert. Woher diese ideologische NĂ€he zur Russisch-Orthodoxen Kirche? Lungin ist doch jĂŒdischer Herkunft, denke ich. Habe ich etwas verpasst? Offenbar gehe ich von den falschen Voraussetzungen aus, habe vielleicht noch zu sehr Lungins Film Oligarch (2002) im Kopf (ein Mafia-Melodram, in dem ganz nebenbei der Aufstieg einer sehr an Putin erinnernden Figur erzĂ€hlt wird). Vor allem habe ich Lungins letzten und wohl erfolgreichsten Film noch nicht gesehen â Ostrov (2006). Schnell hole ich das nach und begreife, dass  Carâ und Ostrov in engem Zusammenhang stehen.
Ostrov gefĂ€llt mir, bei aller christlichen Ideologie, die auch dieser Film transportiert, weitaus besser als Carâ, auch ist der propagandistische Gehalt subtiler und damit weitaus wirksamer verpackt. An der Hauptfigur â ebenfalls sehr intensiv von PĂ«tr Mamonov dargestellt â statuiert Lungin das Exempel des gefallenen und wieder auferstandenen SĂŒnders, der als Mönch in ewiger BuĂe und selbst gewĂ€hlter Armut (und Einfalt) dem âSinn des Lebensâ nĂ€her ist, als alle seine Zeitgenossen, die sich eher den schnöden Dingen der Diesseitigkeit hingeben, und zu denen sowohl seine Mitmönche als auch der Abt des Klosters zĂ€hlen (und denen er natĂŒrlich allesamt Lektionen in Demut erteilt). Ostrov ist letztendlich ein filmisch-religiöser Traktat ĂŒber Schuld und Vergebung (respektive Gottes Gnade, der man sich natĂŒrlich bis zuletzt nicht sicher sein kann). Das Ă€uĂerst problematische utopische Element von Ostrov ist dessen ganz spezielle Sozialromantik, die auf so etwas wie den âgesunden Menschenverstandâ des einfachen russischen Menschen abhebt, der auf Gott und die russisch-orthodoxe Tradition und Religion vertraut. Tragendes kĂŒnstlerische Mittel zur Verbreitung dieser Botschaft ist ein klebriger Mystizismus, der sich wunderbar elegischer Naturbilder und der kreatĂŒrlichen IntensitĂ€t des Hauptdarstellers bedient und die Zuschauer_innen mit einem wohligen âHauch von Ahnungâ in ihre jeweils vielleicht gar nicht so elegische Welt zurĂŒckschickt. In Ă€sthetisch-kĂŒnstlerischer Hinsicht geht das Konzept von Ostrov also auf.
Dagegen wirkt nun Carâ in vielerlei Hinsicht erheblich unausgegorener. Mal abgesehen von einigen wirklich groben handwerklichen Schnitzern â vor allem im Bereich der KamerafĂŒhrung und der Schnittfolge â, weiĂ der Film vor allem ĂŒberhaupt nichts mit seiner titelgebenden und mit PĂ«tr Mamonov kongenial besetzten Hauptfigur anzufangen. Aber dasselbe gilt auch im Prinzip fĂŒr Filip, der als als âganz und gar Guterâ herzlich eindimensional bleibt. Im GroĂen und Ganzen vergibt sich Lungin die Chance, aus dem Gegenspiel zweier wirklich interessanter historischer Figuren, die alle beide keine widerspruchsfreien Personen waren, ein spannendes und zugleich unterrichtendes Historiendrama zu machen und damit den Blick auf ein StĂŒck wirklich spannender russischer Geschichte frei zu legen. Denn der historische Filip, der als Asket angesehene Abt des Soloveckij-Klosters und zeitweilige Metropolit unter Ivan IV., war wie gesagt bestimmt keine widerspruchsfreie Person. Allein schon der Fakt, dass ein als Asket bekannter und verehrter Mönch und Abt, der eher fĂŒr eine innerliche, weltabgewandte ReligiositĂ€t steht, Metropolit wird und das unter Ivan IV. â zudem in einer Zeit, in der sich das Schicksal des VerhĂ€ltnisses von staatlicher Macht und Kirche entschied â das ist ein Stoff, den zu ĂŒbersehen man schon ein gerĂŒttelt MaĂ an Ignoranz haben muss.
Man darf nicht vergessen: Die russisch-orthodoxe Kirche war im 15. und 16. Jahrhundert nicht das monolithische Gebilde, als das sie sich heute so gerne, auch bis in ihre UrsprĂŒnge, sehen will. WĂ€hrend auf der machtkirchlichen Seite, die Idee von Moskau als dem Dritten Rom entwickelt wird (ihr wichtigster Vertreter und BegrĂŒnder ist Josif von Volokolamsk (um 1440-1515), dem eine Civitas Dei, die Vereinigung von Staat und Kirche vorschwebte, in der die Kirche in religiösen Fragen auch ĂŒber den Zaren gebot), entwickeln sich auf der anderen Seite (vor allem im Kloster) verschiedenste Vorstellungen vom religiösen Leben sowie grundlegend divergierende Auffassungen zur Ăberlieferung und zur Göttlichen Wahrheit.
Die wichtigste HĂ€resie ist dabei die sogenannte Novgoroder HĂ€resie, die man als ein Einbruch westlich-humanistischen Denkens in die russische Geisteswelt verstehen kann. Ihre Vertreter sind gebildet, haben Zugang zu bisher nicht rezipierten Schriften und provozieren mit einer ersten vollstĂ€ndigen kirchenslavischen BibelĂŒbersetzung. Sie kritisieren vor allen Dingen auch den ĂŒberreichen kirchlichen Grundbesitz, in dem sie eine Hauptursache fĂŒr die Verweltlichung der Kirche und auch die Hauptquelle der materiellen kirchlichen Macht sehen, der sie jede Berechtigung absprechen. Josif von Volokolamsk, der sein Reformwerk wesentlich ĂŒber die Reform des Klosterlebens verwirklichen wollte, indem er dort eine strenge hierarchische Ordnung ansetzte, die den einzelnen Mönch zu Besitzlosigkeit und unbedingtem Gehorsam verpflichtete und im Gegenzug dem Abt eine geradezu monarchische VerfĂŒgungsgewalt ĂŒbertrug (vorbildlich umgesetzt in dem von ihm 1479 selbst gegrĂŒndeten Kloster bei Volokolamsk), war natĂŒrlich ihr erbitterster Gegner. Ihm gegenĂŒber stand aber noch ein anderer Kirchenreformer, der zwar in der Frage des Kircheneigentums mit den Novgoroder HĂ€retikern ĂŒbereinstimmte, aber keine so radikale Abkehr von den Dogmen vertrat: Nil Sorskij (1433 â 1509). Er hatte in seiner Jugend den Kloster-Berg Athos in Griechenland besucht und nach seiner Heimkehr unweit des FlĂŒsschens Sora einen Skit, eine Einsiedelei gegrĂŒndet. WĂ€hrend das an sich noch kein ungewöhnlicher Vorgang war, in der Regel entstanden so die Klöster mit Grundbesitz und umliegenden Bauerndörfern, so unterschied sich das Leben im Skit doch erheblich von dem bis dato ĂŒblichen geschĂ€ftigen Treiben der Klosterwirtschaftsgemeinschaft. Kontemplation und die Reduzierung der sozialen Kontakte auf ein MindestmaĂ, vor allem auf die Gottesdienste, prĂ€gten das Leben innerhalb der kleinen Gemeinschaft der im Skit asketisch und fast wie Eremiten lebenden Mönche.
Dieses Modell machte Schule, vor allem in Nordrussland, und wurde zu einer Dauererscheinung in Gestalt der sogenannten âUneigennĂŒtzigenâ (ânestjaĆŸateliâ). So gesehen gab es in jener Zeit innerhalb der Russischen Kirche also mindestens von drei Seiten tiefgreifende Reformbestrebungen, wobei sich schlieĂlich die machtkirchliche Seite durchsetzen sollte. WĂ€hrend die HĂ€resie von Novgorod buchstĂ€blich mit ihren Vertretern ausgerottet wurde, war die kontemplativ-innerliche Richtung der Skits ein dauerhaftes und ernstzunehmendes PhĂ€nomen innerhalb des Mönchswesens, also auch der Kirche, und hatte auch nach Nil Sorskijs Tod einige aktive Vertreter, die sich speziell in der Frage des Kirchengrundbesitzes kirchenrechtliche und moralische Dispute mit den so genannten Josifljanern der Machtkirche lieferten. Die Frage des kirchlichen Grundbesitzes, an dem ja auch die GroĂfĂŒrsten groĂes Interesse hatten, war schlieĂlich die entscheidende. Auf einer Synode im Jahre 1503 wurde sie zugunsten der Machtkirche entschieden und der GroĂfĂŒrst von Moskau Ivan III. (Vater Ivan des IV.) lieh der Kirche seinen starken Arm zur blutigen Verfolgung der HĂ€retiker. Das Reformwerk der Josifljaner schien sich nun zu vollenden, der Staat unterstand einem gottesfĂŒrchtigen und kirchenhörigen Monarchen. Dem Moskauer GroĂfĂŒrsten sollte nun auch die Kaiserkrone nicht verwehrt werden. Dennoch sollte erst Ivans III. Sohn, Ivan IV. der Schreckliche, zum Zaren gekrönt werden. Die entsprechende Theorie â nĂ€mlich die vom Dritten Rom â lieferte aber bereits zu Zeiten Ivans III. ein Mönch namens Filofej aus Pskov. Entsprechende Legenden, die neben der Rechtsnachfolge durch die behauptete Ăbersendung kaiserlicher Insignien aus Byzanz sogar eine Abstammung aus den Linien der Kaiser des Ersten Roms behaupteten, flankierten das Ganze. Daneben wurde auch in der Folge der kirchenschriftliche Kanon systematisch im Sinne der Legitimierung und Umsetzung der Theorie vom Dritten Rom ausgebaut. Verantwortlich dafĂŒr zeichnete wiederum der josifljanische Metropolit Makarij (1542 – 1563), unter dessen Anleitung der junge Ivan IV., der in diese Situation hineingeboren wird, in machtkirchlichem Sinne erzogen wurde. Das mit Makarijs Tod entstandene Vakuum sollten seine Nachfolger dann nicht mehr fĂŒllen können, zu stark war dann Ivan IV., Selbstherrscher und selbsternannter oberster Diener Gottes.
Das ist also der kirchengeschichtliche und historische Hintergrund, vor dem sich die Begegnung von Ivan IV. und Filip, der wohl eher der Richtung des Nil Sorskij zuzurechnen ist, abspielt und die ja die HaupterzĂ€hlung des Filmes ist. Die Handlung spielt zudem in Ivans âböserâ Zeit, nach den Reformen, also nach der Errichtung der absolutistischen Macht, und nach der Einrichtung der OpriÄnina. Was hĂ€tte das also fĂŒr ein Stoff sein können, wenn dieser Filip als Figur etwas von diesen innerkirchlichen Auseinandersetzungen im Hintergrund gehabt hĂ€tte, wenn beide nicht nur der Gute und der Böse, sondern Protagonisten grundverschiedener Glaubens-, Macht- und GesellschaftsverstĂ€ndnisse, kurz gegensĂ€tzlicher ideologischer Systeme wĂ€ren und Filip selbst auch den nötigen Spagat zwischen seinem Machtanspruch und seiner religiösen Innerlichkeit hĂ€tte zeigen dĂŒrfen!
Aber nichts dergleichen in diesem Film, nur die zeitlose und immer gleiche Begegnung von Gut und Böse. Alle Geschichtlichkeit wird ausgeblendet, sie darf sich auf das Setting, die Ausstattung zurĂŒckziehen und verkommt zum pseudohistorischen Rahmen, der mittels der AuthentizitĂ€t von Gold, Schmutz und Folklore historiografische GlaubwĂŒrdigkeit darstellen soll. Auch die Figuren sind alle mit Ausnahme von Mamonovs Ivan platt und klischeebeladen: von den bösen und natĂŒrlich hĂ€sslichen OpriÄniki ĂŒber die biederen, wohlfrisierten und wackeren blonden Recken des Landadels, die in patriotischer Gesinnung das Land gegen die Polen verteidigen, oder Ivans Frau, eine not- und gewaltgeile Hexe, quasi die Furie der OpriÄina, bis hin zu Filip, der von einer solch makellosen Rechtschaffenheit ist, dass man es kaum aushĂ€lt. An der EindimensionalitĂ€t Filips Ă€ndert auch die darstellerische Leistung des im Mai letzten Jahres (2008) verstorbenen Oleg Jankovskji wenig. Sein Filip ist warmherzig, klug, moralisch, bescheiden (und er hat selbstverstĂ€ndlich noch alle ZĂ€hne im Mund), aber wir erfahren ĂŒber ihn nichts, auĂer dass er gut ist. Weder wissen wir, warum er nach Moskau kommt, wo er dem Drehbuch gemÀà Ivan begegnet, noch welche Rolle er ĂŒberhaupt in Staat und Kirche spielt. Auch erfahren die Zuschauer_innen nichts ĂŒber seine VorgĂ€nger im Metropolitenamt unter Ivan IV., von denen der eine nach einem Jahr resignierte und der andere sofort, nachdem er die Abschaffung der OpriÄnina gefordert hatte, verjagt wurde.
Auch bleibt das VerhĂ€ltnis zwischen Ivan und Filip absolut rĂ€tselhaft. Im Film begegnen sie sich zum ersten Mal zufĂ€llig auf einer BrĂŒcke (an dieser Szene und den unmittelbar folgenden kann man ĂŒbrigens sehr anschaulich nachvollziehen, was man mit dem Wechsel von GroĂ- und Nahaufnahme, Countershot und Schnittrhythmus alles falsch machen kann). Unvermittelt trĂ€gt Ivan Filip an, âseinâ Metropolit in Moskau zu werden. Die beiden scheinen dabei vertraut, als wĂ€ren sie alte Freunde, aber man weiĂ nicht warum. Es kommt zu weiteren Begegnungen, immer geht es um die gleiche Frage, bis Filip schlieĂlich doch Metropolit wird. Letztlich strukturiert sich die ErzĂ€hlung des Films ganz im Sinne einer Heiligen-Vita an den wichtigen Lebenstationen Filips innerhalb des erzĂ€hlten Zeitabschnitts: von den ersten Begegnungen mit Ivan, das Ablehnen und Annehmen des Metropolitenamts, die SchutzgewĂ€hrung fĂŒr jene bereits erwĂ€hnten patriotischen Recken, die nach der Niederlage gegen die Polen Ivans Zorn zu fĂŒrchten haben, ĂŒber die Verweigerung, Ivan den Segen zu erteilen, bis zur Gefangenschaft im Kloster und Ermordung durch den Obersten der OpriÄniki. Auch fehlt es dabei nicht an Wundern: von einer Ikone, die den Verlauf einer Schlacht entscheidet ĂŒber die wundersame Sprengung der Ketten, in die man Filip im Klosterkerker gelegt hat, bis zur Sehendmachung von Blinden ist alles dabei.
Zwischen diesen Stationen wird Ivan ausfĂŒhrlich als der Böse gezeigt, es ist ja auch seine spĂ€tere, dĂŒstere Zeit. Dabei gewinnt die Figur sogar unverhofft an Tiefe. In den Momenten des Zweifels â in seiner Innenpolitik stĂŒtzt sich Ivan nur noch auf Gewalt und Terror, seine AuĂenpolitik ist katastrophal â vollzieht sich an Ivan selbst die Logik des von ihm geschaffenen Monsters. Die OpriÄniki sind selbst eine Macht im Staate geworden, die nun auch ihrem Erschaffer und obersten Gebieter zusetzt. Er wird geradezu gezwungen, weiterhin der âSchrecklicheâ zu sein. Am Ende, nach all den Schreckenstaten (inklusive einer Kirchenverbrennung samt Insassen durch seine OpriÄniki) und schlieĂlich der Ermordung Filips, seines wandelnden schlechten Gewissens, ist er wortwörtlich ein von allen guten Geistern Verlassener: Er lĂ€sst sich nĂ€chtlich auf die StraĂen Moskaus tragen und ruft nach seinem Volke. Aber niemand kommt, er bleibt allein, einzig umgeben von seinen Getreuen, den OpriÄniki. Ende des Filmes.
Und da komme ich am Ende doch noch ins GrĂŒbeln â ist dies einsame Ende Ivans nun der kleine Wink, der kritische Fingerzeig fĂŒr die heute MĂ€chtigen, den ich so schmerzlich vermisst und die ganzen zwei Stunden dieses Filmes lang erwartet habe? Vielleicht. Aber was soll er letztlich bedeuten? Passt auf, dass Euch das Volk nicht davonlĂ€uft? Letztlich hat der Film ja auch noch eine andere klare Botschaft, nĂ€mlich wo das Volk hinlaufen soll: in die Kirche.
WĂ€hrend nĂ€mlich bei Ostrov der Verkehrtheit der Welt die scheinbare VerrĂŒcktheit intensiven Glaubenserlebens entgegengehalten wird, die sich in Wahrheit und in Demut eins weiĂ mit Gott und der Welt, so wird uns in Carâ durch die Figur Ivans die teuflische Gefahr der SelbstĂŒberhöhung, die SĂŒnde der Hybris, des Abfalls vom wahren Glauben, der Demut und Treue zum wirklichen Herrscher der Welt, vorgefĂŒhrt. Ivan interessiert nur als die Verkörperung dieser teuflischen Versuchung. Ihm wird der Heilige Filip gegenĂŒbergestellt, der sogar den MĂ€rtyrertod stirbt und stets als Vertreter der Kirche das an und fĂŒr sich Gute im Menschen verkörpert, was den einzigen Schluss zulĂ€sst, dass diese rechtglĂ€ubige nationale russische Kirche schon immer auf Seiten des an und fĂŒr sich Guten stand â in gehörigem Abstand zur weltlichen Macht natĂŒrlich (auch wenn man sich mit der auch einigen kann, wie die heutige Zeit zeigt, sie muss nur gottesfĂŒrchtig und rechtglĂ€ubig genug sein, um z.B. den kirchlichen Grundbesitz zurĂŒckzugeben oder steuerliche BegĂŒnstigungen fĂŒr kirchliche Handelsfirmen und andere wirtschaftliche BetĂ€tigungen zu gewĂ€hren). Soweit meines Erachtens das inhaltliche Konzept von Carâ.
Aber es geht so glatt nicht auf. Zu vielschichtig ist dieser Ivan, zu platt sein Gegenpart, zu unschlĂŒssig der Plot bei der Konzentration auf das, was erzĂ€hlt werden soll. Interessant ist zudem, dass Ivan und der kohleverschmierte Eremit aus Ostrov sich gar nicht so unĂ€hnlich sind. Das mag nun jeder interpretieren, wie er will. Das AnstöĂige an beiden Filmen ist aber ihr unverhohlenes PlĂ€doyer fĂŒr das, was man den minimalen und damit fast schon fundamentalistischen russisch-orthodoxen Grundkonsens nennen könnte: Seid brav, vertraut in Gott und in seine in seinem Lichte wandelnden Vertreter auf Erden! Und macht Euch nicht allzu viele Gedanken, auch keine religiös-theologischen, geht lieber beten! Achtung Religion! â möchte man da allenthalben ausrufen. Denn Religion soll auch im heutigen Russland wieder âOpium des Volkesâ sein, oder wie ein schlauer Russe mir einmal in den Neunzigern sagte: Wir bauen Kirchen um fĂŒr HĂ€user zu beten.