„Gesammelte“ Werke der Petersburger Künstlerin Inna Pozina
„A-l-ja-ger – Kolomja-ger!“ – Erst verstand ich den Ausspruch nicht, mit dem mich Inna Pozina und ihr Vater Aleksandr Pozin begrüßten. Dann aber begriff ich: Mit Kolomjager sind die Bewohner des kleinen einstöckigen Holzhauses gemeint, das sich im Bezirk Kolomjagi im Norden von Sankt Petersburg befindet. Dorthin ist die Familie Pozin, wie auch andere Künstler, in den 80er Jahren gezogen – raus aus der Stadt in die Randbezirke, wo die ehemaligen Datschen der Intelligencija ideale Arbeits- und Wohnräume boten. Hier, zwischen Holzhäusern und Gärten, Öfen, Brennholzstapeln und Plumpsklo wuchsen nicht nur Inna und ihre Schwester Katja, sondern auch die Skulpturen der Eltern und des Großvaters.
Seit den 90er Jahren hat sich die Gegend stark verändert. Nur noch vereinzelte Holzhäuschen stehen da inmitten von Neubauten aus den 90er Jahren und Einfamilienhäusern, die von Überwachungskameras und Metallzäunen abgeschirmt werden. In dieser seltsamen Mischung aus Neubauten- und Neureichensiedlung bildet das Haus der Pozins, umgeben von einem Skulpturengarten, eine eigenwillige Oase – und einen gefährdeten Raum. Die Pozins rechnen damit, ihr Häuschen bald verlassen und einem Neubau weichen zu müssen. Jeder Tag sei ein Kampf. Viele Leute könnten nicht verstehen, weshalb es einen solchen Bereich braucht, der Künstlern und Skulpturen Raum bietet, mit dem kein Geld verdient werden kann. Nach weiterer Erläuterung verstand ich auch den ersten Teil des Ausspruchs. Das komme aus dem Französischen. Also: „à la guerre – Kolomjager!“
Wenn man hinter dem Haus steht, befinden sich die Neubauten im Rücken. Ungestört kann der Blick des Betrachters durch den Garten schweifen, in dem sich ein Brunnenbecken, ein Steintisch mit Bänken und die Werkstätten befinden. Und die Skulpturen von drei Generationen: von Lev Smorgon, dem Großvater von Inna, von Aleksandr Pozin und Marina Spivak, ihren Eltern, und ihre eigenen Werke. Beinahe ungestört: Von der kürzlich eröffnetenAutowaschanlage auf dem benachbarten Grundstück, dröhnen die neusten russischen Schlager herüber.
Im Haus selbst ist nichts zu merken von dieser raumgreifenden Gefährdung. Das einfache Holzhaus, in dem die 26jährige Inna jetzt alleine mit Hund und Katze lebt, dient zugleich als Atelier und Wohnraum. Die Eltern sind vor einiger Zeit zwei Strassen weitergezogen, nutzen aber noch die Werkstatt im Garten. Das Haus ist liebevoll eingerichtet. Jeder Gegenstand ist ein kleines Kunstwerk.
An den Wänden hängen Bilder, die Türen sind bemalt, in den Nischen stehen kleine Holzskulpturen. Den großen hölzernen Esstisch hat Inna zusammen mit ihrem Vater gezimmert. Im Winter, wenn es zu kalt ist, um draußen im Garten an Skulpturen zu arbeiten, bleibt Zeit, sich anderen Gegenständen zuzuwenden. Man merkt, hier wird Formen, Farben und Materialien eine besondere Beachtung geschenkt. Der Esstisch setzt sich aus unterschiedlichen Platten zusammen, die sich überlagern. Im Tisch steckt ein glatt geschliffener länglicher Stein, den man herausziehen kann. In die Platten gebohrte Löcher und längliche Vertiefungen verzieren den Tisch, so dass beim Essen Brotkrümel durch die Muster auf den Boden fallen können. Da, unter dem Tisch, liegt meistens der Hund Čen, der Begleiter und Wächter des Hauses. Im leise vor sich hinsummenden Kühlschrank neben dem Esstisch werden sowohl Filmrollen als auch Nahrungsmittel aufbewahrt. Darunter befinden sich auch Tomaten und Kartoffeln, die nicht für den Verzehr gedacht sind. Inna Pozina hat sie vor einigen Tagen auf dem Markt von einer babuška gekauft. Und das nur aufgrund der besonderen Formen. Zusammen mit ihrem Vater studiert sie aufmerksam die seltsamen Rundungen der Kartoffeln und Tomaten.
Laut Inna funktioniert der Künstler wie ein Spiegel. Er fängt ein Bild ein und gibt es dann als Abbild weiter. Das Mittel und die Art der Abbildung wählt jeder selber aus. Inna wurde in eine Künstlerfamilie hineingeboren. Das hat sie geprägt: „Wenn du daran gewöhnt bist, das, was dich umgibt genau zu beobachten und in Kunst umzusetzen, entsteht letztlich eine innere Notwendigkeit, darauf zu reagieren, was du siehst.“ Sie habe ihren Beruf nicht eigentlich gewählt. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, etwas anderes als Kunst zu machen.
Inna Pozina stützt die Ellbogen auf dem Tisch auf. Die junge Künstlerin arbeitet mit unterschiedlichen Materialien. Während des Gesprächs zieht sie den länglichen Stein aus dem Loch im Tisch und spielt mit ihm. Als ausgebildete Bildhauerin mag sie Stein, aber auch Holz, Tuch und Papier. Čen kommt unter dem Tisch hervorgekrochen. Und auch den Hund mag sie. Vor allem aber mag sie Licht und Schatten.Es fasziniert sie, wie sich farbige Stoffe verändern, wenn sie auf unterschiedliche Art beleuchtet werden. Zu diesem Thema sind einige Bilder und Installationen entstanden. Das Interesse an Veränderungen hat die junge Künstlerin – wie die Filmrollen im Kühlschrank vermuten lassen – zum Film geführt. Auf Zelluloid kann der Wandel des Lichts und der Farbe direkt festgehalten werden. Vor zwei Jahren hat Inna Kolomjažskaja utopija (Kolomjager Utopie) gedreht, einen ihrer ersten Filme, der auf der dokumentART 2004 ausgezeichnet wurde. Auch darin spielen Veränderungen eine große Rolle: zum einen der Wandel von Farbe und Licht, zum anderen der Perspektivenwechsel, die Fenster mal von innen, mal von außen zu zeigen. Auch auf inhaltlicher Ebene geht es im Film um Wandel: um die Veränderung der Landschaft ihrer Kindheit und Jugend im Bezirk Kolomjagi. „Zunächst verschwanden die Menschen und hinterließen mit Brettern zugenagelte Fenster. Dann verschwanden Fenster, Türen, Zäune. Löcher blieben zurück. Neubauten wuchsen an ihrer Stelle.“ Im Film bezeichnet sie diesen Ort als Utopie, als Ort, den es nicht (mehr) gibt. „Viele Häuser, die im Film auftauchen, stehen schon nicht mehr. Ich wollte diese Situation festhalten, wie sie früher war.“ Filmen ermögliche es, Erinnerungen einzufangen und zu bewahren. Sie einzusammeln in einer Weise, wie Herbarien gemacht werden, um sie dann im Winter anzuschauen. Und sich an den Sommer zu erinnern, meint Inna. Der Film also als Möglichkeit, Wandel und Veränderung zu dokumentieren und dadurch eine Konstante zu schaffen inmitten von Umbrüchen?
„Wir wuchsen in einer Zeit auf, in der ständig etwas zusammenbrach oder sich veränderte.“ Sich und ihre Altersgenossen sieht Inna als verlorene Generation, an der unterschiedliche Experimente durchgeführt wurden. Als Inna in den 90er Jahren Bildhauerei studierte, konnten viele nicht verstehen, wozu das nützlich sein sollte. „Das war eine Zeit des Verlorenseins, des völligen Sinnverlusts, des Verlusts der Motivation. Das war kein persönliches Gefühl, sondern eine allgemeine Tendenz und es war schwierig, seinen Platz darin suchen und finden zu können.“
In ihrem neusten Film hat sich Inna auf die Suche gemacht. V poiskach sčast´ja (Auf der Suche nach dem Glück) von 2006 war zunächst als Dokumentationsfilm über die Petersburger Band Nervenklinik gedacht. Diese plante eine Reise nach Deutschland, um dort ihr Glück zu versuchen. Die Tournee scheiterte und die „Suche“ erfuhr eine Wendung. Inna ging es darum, das zu zeigen, was ein Künstler durchmacht. Kunst ist für Inna nicht der Prozess, schöne Sachen herzustellen, sondern eine Sinnsuche. „Plötzlich siehst du den Sinn, nimmst ihn, machst etwas daraus und zeigst ihn. Manchmal ist man alleine auf der Suche und weiß überhaupt nicht, wohin es gehen soll.“ Das sei die wahre Kunst des Künstlers, weitergehen zu können, ohne zu wissen, ob sich etwas daraus ergibt.
Viele von Innas Freunden, die lange Zeit im Ausland gelebt haben, vor allem in Berlin, kehren nach Piter zurück. Dort vermuten sie mehr Freiräume und Möglichkeiten, künstlerisch tätig zu sein, obwohl der Kunstmarkt in Russland schlecht funktioniere und sich weniger Leute professionell mit Kunst beschäftigten. Viele Leute seien zu sehr mit dem eigenen Überleben beschäftigt, als dass sie sich für Kunst interessieren könnten. Inna lacht: Kunst sei etwas für Reiche oder für Kranke, die ohne sie nicht leben können.
Immer wieder korrigiert sie sich während des Gesprächs und relativiert ihre Einschätzungen. Sie wolle nicht sagen, dass in Russland alles schlecht sei. Es sehe nicht so düster aus, wie sie das schildere. Es komme ihr vor, als ob die Zeit des Stillstands vorbei sei, als ob etwas Neues entstehen würde. Es gäbe einige interessante Projekte und Ausstellungen.
Im September wurden im Muzej gorodskoj skulptury, Sankt-Peterburg (Städtisches Skulpturenmuseum, Sankt Petersburg) in der Ausstellung Sessja molodogo iskusstva (Ausstellung junger Kunst) Werke von ungefähr vierzig jungen, meist unbekannten Künstlern gezeigt, darunter auch zwei Arbeiten von Inna Pozina. So etwas habe es bisher in einem staatlichen Museum noch nie gegeben. Da habe sie gemerkt, dass es auch andere Menschen gebe, die sich mit vergleichbaren Fragen beschäftigen. „Und das nicht um Geld zu verdienen, sondern weil sie einfach auch darauf reagieren müssen, was sie sehen. Für wen das nützlich sein soll, das ist eine andere Frage.“ Die bunt gemischte Ausstellung war in zwei Räumen und außerdem im Hinterhof unter freiem Himmel untergebracht. Ein einheitliches Thema war nicht vorgegeben. Trotzdem tauchten auffällig oft verspielte Kindheitsmotive auf. Beispielsweise Glasmalereien in Form von Mädchenkleidern, in deren Taschen sich alte Busfahrkarten und gepresste Blumen befinden.
Ihre eigenen Werke und diejenigen anderer junger Künstler sieht Inna als Antwort auf den Konzeptualismus. Dem künstlerischen Handwerk werde wieder mehr Beachtung geschenkt. Während eine Zeit lang sich die Kunst vom Gegenstand entfernte und gezeigt wurde, dass Kunst aus beliebigen Materialien geschaffen werden könne, so sei heutzutage eine Rückkehr zum Material und zum Handwerk auszumachen.
Innas Ausstellungsbeitrag war an ein Projekt geknüpft, das sie in einer Psychiatrie mit Patienten durchgeführt hatte. Im Rahmen ihrer dortigen Tätigkeit als Maltherapeutin hat sie Farbstiftzeichnungen der Patienten zuZeichentrickfilmen zusammen geschnitten und mit Musik unterlegt. In den kurzen Sequenzen verstrickt sich beispielsweise eine Katze immer mehr mit einem Wollknäuel, bis sie ganz darin verschwindet. Oder ein Hund fängt plötzlich an, mit der Sonne zu tanzen.
Zweimal in der Woche unterrichtet Inna ihre Patienten und malt und bastelt mit ihnen. Diese Arbeit versteht Inna ebenfalls als Sinnsuche. „Wenn du Künstler bist, dreht sich oft alles um dich selbst. Durch diese Arbeit kann ich den Zugang zu Leuten finden. Diese wiederum können den Zugang zur Kunst finden.“
Von der Kunst kann Inna Pozina nicht leben. Neben ihrer Tätigkeit im Krankenhaus muss sie oft Auftragsarbeiten übernehmen. Sie macht bei Design-Projekten mit. Für einen Kindergarten hat sie eine Plüschspielecke und übergroße Hausschuhe entworfen, in die nicht bloß ein Kinderfuß, sondern ein ganzes Kind passt. Ab und zu erhält sie, wie auch ihre Eltern, Aufträge von Neureichen, die beispielsweise riesige Löwen aus Marmor für ihr Anwesen anfertigen lassen. Häufig muss sie Hochzeits- oder Kinderfeste auf Video aufnehmen. Die aufwändigen Hochzeitsfeiern mag sie nicht. Sie ist froh, wenn sie sich hinter der Kamera verstecken kann und so eine Außenstehende bleibt, die das Geschehen auf dem kleinen Display der Digitalkamera mitverfolgt. Und sie ist froh, wenn sie wieder in ihr Haus zurückkehren kann, wo sie die Erinnerungsfilme zusammen schneidet und mit passender Musik unterlegt. Es bedeutet für sie eine Herausforderung aus dem Gefilmten etwas Kunstvolles zu schaffen.
Wie Inna und ihre Familie leben auch andere Künstler in der Siedlung. In den benachbarten Orten Kolomjagi – Ozerki – Šuvalovo befinden sich weitere Holzhäuser, deren Bewohner sich zur künstlerischen Vereinigung Ozerki zusammengeschlossen haben. Außerdem entstand Anfang 2001 das Projekt Derevnija chudožnikov (Künstlerdörfer), das die Häuser und Werkstätten als kulturelle Zentren jenseits von Museen und Galerien vereinigt. In den alten Häusern wird neue Kunst geschaffen: Maler, Schriftsteller, Fotografen, Filmemacher, Bildhauer, Ikonenmaler, Töpferer, Modedesigner arbeiten in den unterschiedlichen Ateliers. Einige vereinen mehrere Kunstgattungen. So ist gerade der Erzählband Razgovor c Repinym (Gespräch mit Repin) von Lev Smorgon erschienen, Innas Grossvater. Im September fand in der Novosel’skaja ulica 16, unweit von Innas Zuhause, eine Lesung des literarisch-künstlerischen Gemeinschaftswerks Leti-leti, lepestok! (Flieg-flieg, Blütenblatt!) von Elena Garaeva und Ol’ga Sorokina statt. Dem Band sind Illustrationskarten von Gavril Lubin beigelegt. Im Haus in der Novosel’skaja ulica, umgeben von seltsamen Siedlungen, die an deutsche Vororte erinnern, befindet sich die nichtkommerzielle Galerie Sel´skaja žizn´ (Dorfleben) mit einer gleichnamigen literarisch-künstlerischen Zeitschrift und ein kleiner Kinosaal für experimentelle Filme. Hier wurden auch Innas Filme gezeigt und einige ihrer Objekte ausgestellt. Man hilft und unterstützt sich gegenseitig.
Nicht ein einheitlicher Stil oder eine gemeinsame Ideologie verbindet die Künstler des Künstlerdorfes, sondern vielmehr die geographische Nähe sowie die Vorliebe, die unmittelbare Umgebung als Ausstellungsraum zu nutzen. Die landšaft wird zum Kriterium, an dem die Kunst gemessen werden soll. Für die Künstler ist das wichtig, da durch die häufige Arbeit am Computer und vor Fernsehbildschirmen das räumliche Denken verloren gehe. Deswegen hat die Gruppe zusammen mit der Petersburger Kunstakademie Seminare für Studenten ausgearbeitet. Außerdem finden regelmäßig Symposien, Aktionen, Ausstellungen und Feste unter freiem Himmel statt. Zur Sommersonnenwende beispielsweise verwandeln sich die Suzdal´skie ozera (Suzdaler Seen) und ihre Ufer in einen Ausstellungsraum. Aus den geschlossenen Sälen der Galerien und Museen herausgeholt, werden den Zuschauern die Objekte auf Booten und Flossen präsentiert. Auch in der Ausstellung Mimikrija von 2004 wurde die Natur direkt für die Präsentation der Exponate genutzt. Künstler mussten ihre Arbeiten dem Prinzip der Mimikry entsprechend ausstellen. Aufgabe des Zuschauers war es, die Objekte auf Bäumen, in Blumentöpfen, neben Holzstapeln zu finden und zu entscheiden, ob es sich dabei um Kunst handelt oder nicht. Es ist ein besonderes Anliegen des „Künstlerdorfes“ auch die Anwohner aus den Neubautensiedlungen in die Aktivitäten einzubeziehen. Während des Festival´ masterskich (Werkstättenfestival) werden eine Woche lang die Werkstätten für Freunde, Gäste und Nachbarn geöffnet.
Wenn man von Inna Pozinas Zuhause mit dem Bus 40 durch zurück zur Metrostation fährt, merkt man, wie sehr ihr charakteristisches Haus die Monotonie des Randbezirks durchbricht. Man wird sich bewusst, wie wichtig solche Orte und ihre Bewohner sind, die durch ihr Engagement jenseits von Ermitaž und Russkij Muzej Kunst und Leben in die tristen Siedlungen bringen und diese dadurch menschlicher machen. Und wer weiß, vielleicht sitzen in den benachbarten Häusern die zukünftigen Auftraggeber, die nicht nur riesige Marmorlöwen anfertigen lassen, sondern sich auch dafür interessieren, was die Künstler bisher leider oft nur für sich oder fürs Ausland schaffen. Und bis dahin gilt: „A-lja-ger – Kolomjager!“
Garaeva, Elena/ Marina, Olg’a: Leti-leti, lepestok! Sankt-Peterburg 2006.
Larina, Tat’jana (Hg.): Sdelano v Kolomjakach. Pozin. Spivak. Raboty razniych let. Sankt-Peterburg 2004.
Nikolaenko T./ Baev E.: Derevnija chudožnikov. Sankt-Peterburg 2006.
Smorgon, Lev: Razgovor s Repinym. Sankt-Peterburg 2006.