Vuk Ršumovićs Dwelling Among the Gods gibt dem Zuschauer eine Idee, wie es wäre, jemandes Tagebuch zu lesen. Auf intime und sensible Weise wird – in Anlehnung an den Antigone-Mythos – ein Ausschnitt aus dem Leben einer jungen Frau dargestellt, die inmitten von Krieg und Ungewissheit Antworten über das Schicksal ihres verschollenen Bruders sucht. Zwischen den Zeilen geht es um Selbstbestimmung, gegenseitiges Verständnis und Akzeptanz.
Während ich Dwelling Among the Gods (2024), den neuesten Film des 1978 in Belgrad geborenen Regisseurs und Autors Vuk Ršumović, im Kino schaute, während ich im Nachhinein darüber nachdenke und nachts ungestört schlafe, sehen sich unzählige Menschen mit den Auswirkungen von Krieg und Bedrohung konfrontiert. Wie die Filmprotagonistin Fereshteh (Fereshteh Hosseini) müssen sie mit den politischen Entscheidungen einiger Weniger umgehen, Zuflucht suchen und das alltägliche Leben stemmen, welches nicht einfach pausiert, wenn Tod und Zerstörung allgegenwärtig sind. Die Schicksale Einzelner werden oft zur bloßen Statistik: So stößt Fereshteh, die mit ihrem Mann und drei Töchtern aus Afghanistan geflohen ist, 2015 in Belgrad auf bürokratische Mauern, deren Durchstoßung zuweilen unmöglich erscheint. Ein junger Mann ist in einem nahegelegenen Fluss ertrunken und Fereshteh möchte herausfinden, ob es sich um ihren vermissten Bruder handelt. Was folgt, ist ein nervenzerreißendes Hin und Her – der Versuch, Gewissheit zu erlangen und trotz Enttäuschungen standhaft zu bleiben. Fereshteh soll eine DNA-Probe ihres Vaters besorgen, der sich noch immer im Kriegsgebiet befindet, ihre Familie muss derweil ausharren. Der Antigone-Tragödie nachempfunden, ist Dwelling Among the Gods ein Drama über Beharrlichkeit, Mut und Integrität.
Fereshteh Hosseinis schauspielerische Darlegung ist bemerkenswert: jedes Wort, jede Emotion wirkt authentisch. Auf der Pressekonferenz des Sarajevo Film Festivals erzählte sie, aufgrund von persönlichen Erfahrungen in vielen Szenen ihre Schwester, ihren Bruder oder sich selbst gesehen zu haben. Die Frage, ob es für Schauspieler*innen wichtig ist, einen persönlichen Bezug zur Thematik zu haben, um eine intime Verbindung mit ihren Charakteren aufzubauen, wird im öffentlichen Diskurs immer wieder aufgeworfen. Es gibt keine pauschale Antwort, aber manche Geschichten können nur aus bestimmten Perspektiven wirksam erzählt werden, sowohl aus ethischen als auch ästhetischen Gründen. Hosseini betonte, es sei ihr wichtig gewesen, diese zu erzählen und der Frau gerecht zu werden, mit der sie mehr als nur ihren Namen teilt.
Beim Verlassen des Kinosaals war ich der Überzeugung, dass es im gesamten Film keine Musik gab. Überrascht war ich dann schließlich, als im Abspann doch ein Komponist genannt wurde, dessen musikalische Untermalung ich offensichtlich völlig ausgeblendet hatte. Hier zeigt sich, wie stark die Wahrnehmung eines Films von der Musik abhängt – oder eben von deren vermeintlichen Fehlens. Die Musik ist so subtil, dass sie sich unbemerkt in die Handlung einfügt, welche nahezu dokumentarisch und mit einer überwältigen Ehrlichkeit erzählt wird. Das Herz des Films ist die einzigartige Nähe, die Hosseini insbesondere, aber auch die restlichen Schauspieler*innen erzeugen. Als Zuschauer*in wird man mitgenommen, als säße man im gleichen Raum. Im Film sind diese oft geschlossen und klein, weite Flächen die Ausnahme. Zahlreiche Szenen in engen Zimmern erregen Beklemmung und gleichzeitig ein Gefühl der Unmittelbarkeit. Es wird mit vielen Nahaufnahmen gearbeitet, was die Intimität nur verstärkt; man begegnet den Charakteren auf Augenhöhe, in verletzlichen Momenten. Es scheint, Fereshteh führe einen aussichtslosen Kampf; die Enttäuschung in ihrem Gesicht ist sichtbar, die Erschöpfung und der Frust, welcher sich in einer eindringlichen Szene gegen Ende schließlich Bahn bricht.

Fereshtehs Beharrlichkeit und ihr Drängen auf Entscheidungsfreiheit bilden Grundideen ab, die an und für sich zutiefst feministisch sind. Hier geht es aber um mehr: die Zerrissenheit zwischen Erwartungen, die nicht vereinbar scheinen, ausgelöst von den Grundsätzen verschiedener Kulturen und Prioritäten. Eine unmögliche Situation, die die Realität zahlreicher Flüchtlinge ist. Fereshteh muss Entscheidungen treffen, die ihr Ehemann nicht gutheißt, gefangen in nationalen und kulturellen Grenzen. Immer wieder hadert sie mit sich, gequält von dem Wunsch, ihre Familie in Sicherheit zu bringen und Klarheit über das Schicksal ihres Bruders zu gewinnen. Angehalten von ihrem Vater, auf dessen Geld sie angewiesen ist, beharrt sie auf Aufklärung. Damit erfüllt sie einerseits ihre Pflicht als Schwester und Tochter und behauptet sich andererseits in einem System, welches dafür kein Verständnis aufbringen kann. Obwohl so viel gegen das Gelingen ihres Vorhabens spricht und sie vor Ort von allen Seiten gedrängt wird, die Sache ruhen zu lassen, lässt sich Fereshteh nicht davon abbringen; sie bleibt sich selbst und ihrer Entscheidung treu, bis zum Schluss. Sie zeigt Mut, indem sie sich widersetzt, immer in der Hoffnung, das Richtige zu tun, etwas gutzumachen und inmitten von Chaos ein wenig Kontrolle zu gewinnen. Deutlich wird aber auch, dass sich Fereshteh in einer Lage befindet, die es ihr einfach nicht erlaubt, wirklich selbstbestimmt zu handeln.
Dwelling Among the Gods zeigt nicht nur die Realität von Frauen, die enormem Druck verschiedener kultureller und emotionaler Erwartungen ausgesetzt sind, sondern auch von Geflüchteten, die ihre Heimat verlassen müssen, von Eltern in Ausnahmesituationen, die sich um ihre Kinder sorgen – und von Trauernden, die geliebte Menschen verloren haben. Als die Identität ihres Bruders bestätigt wird, offenbart sich für Fereshteh die nächste Hürde: ein Begräbnis zu organisieren. Unzählige Geflüchtete und Kriegsopfer werden namenlos begraben, Identitäten ausgelöscht. Fereshteh besteht darauf, ihrem Bruder dieses Schicksal zu ersparen. Wie die Titelheldin aus Sophokles Drama Antigone fühlt sie sich moralisch verpflichtet, die Würde ihres Bruders zu bewahren. In der mythologischen Erzählung widersetzt sich Antigone der Anordnung ihres Onkels, dem König von Theben, und bestattet ihren Bruder, der in einer Schlacht gefallen ist. Statt eines mächtigen Tyrannen ist der Gegenspieler in Dwelling Among the Gods das bürokratische System: Fereshteh trifft Entscheidungen, die ihr Umfeld nicht gutheißt und bringt sich – und ihre Familie – damit in Gefahr. Wie Antigone handelt sie einerseits aus Pflichtbewusstsein, aber auch aus Liebe zu ihrem Bruder und dem immer stärker werdenden Wunsch, einen Abschluss zu finden. Wird man sich diesen Parallelen bewusst, erscheint Fereshtehs Geschichte fast wie eine Allegorie – eine Erinnerung an das Fortbestehen individueller Kämpfe und der Suche nach Identität.
Trotz des mythologischen Hintergrunds steht das Drama für sich. Realitätsgetreu wechseln sich stille, introspektive Momente mit Gesprächen und Konfrontation ab, ein stetiger Rhythmus, welcher für den ein oder anderen eintönig erscheinen könnte. Für mich ist das ruhige Tempo ein weiterer Beweis dafür, dass der Wahrheitsanspruch des Films kompromisslos umgesetzt wird. Die meisten Dialoge sind auf Dari, eine Variation des Persischen, die in Afghanistan gesprochen wird und die der Regisseur selbst nicht versteht. Nikola Ristanovski musste sich die Sprache in etwa sechs Wochen aneignen. Kommunikation und Verständnis sind wesentliche Bestandteile der Handlung, sowohl auf einer buchstäblichen Ebene als auch auf einer tieferen. Fereshteh ist auf die Hilfe eines Dolmetschers (Nikola Ristanovski) angewiesen, welcher bei jeglichen Begegnungen mit den Behörden als Vermittler agiert. Er muss genau hinhören und sich die Zeit nehmen, wirklich zu verstehen. Es geht nicht nur um bloßes Übersetzen, sondern allen voran um zwischenmenschliches Verstehen, um Empathie als Vermittler. So entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden, beruhend auf Respekt und Dankbarkeit; Nikola zeigt Engagement, welches über seine professionellen Pflichten hinausgeht. Auch die Treffen von Fereshteh und der ihr zugewiesenen Therapeutin spiegeln dieses Thema wider. Zwei Frauen, die sich gegenseitig zuhören, die einander sehen und verstehen. Nikola übersetzt auch hier, doch scheint er zu schwinden, bloß Zuschauer zu sein, während sich Fereshteh und ihre Therapeutin nur auf das jeweilige Gegenüber fokussieren.
Einzelne Schicksale werden in die Perspektive einer wimmelnden Großstadt gesetzt: Fereshteh unterhält sich mit Nikola, während die Kamera langsam herauszoomt und das Treiben der Großstadt zeigt, Hintergrundgeräusche verstärken sich. Der Fremde an der Bushaltestelle ist völlig ahnungslos gegenüber Fereshtehs Sorgen, wenngleich sich ihre Wege für einen Moment kreuzen. Szenen wie diese wirken losgelöst banal, gewinnen jedoch im Kontext des Filmes an Bedeutung. Das Setting und die Farbgestaltung reflektieren oft Fereshtehs Gefühlswelt; so ist es anfangs regnerisch, grau und trist, während zum Ende gedeckte Farben überwiegen.
Dwelling Among The Gods ist kein Epos, kein Geniestreich, sondern eine stille Tragödie, von Authentizität gekennzeichnet und kreiert von Menschen, denen die Materie am Herzen liegt. Es verwundert wenig, dass die Geschichte auf wahren Begebenheiten beruht, die Schauspieler*innen haben ihre „realen Gegenstücke“ während des Schaffensprozesses getroffen. Und obwohl dies im Film nie erwähnt wird, ist dem Zuschauer schnell bewusst, dass Fereshtehs Ängste und Sehnsüchte die von Millionen Frauen repräsentieren; die Leiden ihrer Familie sind übertragbar auf die von zahlreichen anderen. Vor allem wird aber deutlich, dass es die Schicksale Einzelner sind, die uns bewegen und die es wert sind, erzählt anstatt ungehört begraben zu werden.

Dwelling Among the Gods (Originaltitel: Medju Bogovima), Regie: Vuk Ršumović, Serbien/Italien, August 2024, 102 Min.
Quelle des Filmplakats und Beitragsbilder: https://www.imdb.com/de/title/tt15829290/?ref_=mv_close.