Die neue EcoEast-Sektion des Festivals für osteuropäischen Film in Cottbus 2022 versammelte acht georgische Filme von der Stummfilmära bis in die Gegenwart. Das Highlight der Sektion: eine Dokumentation über den Bau einer Teilstrecke der Neuen Seidenstraße mitten durch ein kleines Dorf im Charagauli-Tal. Der Film über ein Bauprojekt, das China mit Westeuropa verbinden soll, geriet zu einer Parabel über die Konfrontation zweier Welten.
Es ist Nacht, nur die Lichter des alten Bahnhofs sind zu sehen, ein Signal ertönt, und aus der Dunkelheit der georgischen Berge nähert sich ein leuchtender Zug der Station von Moliti. Schon in den ersten Minuten lässt der Film von Nino Orjonikidze und Vano Arsenishvili die Zuschauenden in eine besondere Welt eintauchen, die am besten mit dem Begriff des magischen Realismus bezeichnet werden kann. Die reale Geschichte eines kleinen georgischen Dorfes, dessen Existenz durch den Bau der Neuen Seidenstraße aus China nach Europa gefährdet ist, wird zu einer märchenhaften Parabel über Menschen, die von einer unbekannten Macht bedroht werden. „Die Teufel kommen“, ist einer der ersten Sätze, die man im Film hört.
Die Genrebezeichnung „Dokumentarfilm“ ist im Fall von A Tunnel (2019) irreführend, weil die Realität im Film nicht dokumentiert, sondern im Gegenteil verfremdet wird, sodass sich das Bekannte ins Irreale transformiert. Die technischen Geräusche der Bauarbeiten und der Eisenbahn gehen in ein bedrohliches Brüllen über, das an den Atem eines schlafenden Ungeheuers erinnert. Wie ein Märchenheld reitet der Bahnhofsvorsteher auf dem Pferd, statt ein Auto zu nutzen, und überlebt auf wundersame Weise den Kampf mit einem Bären. Auch die Zeit läuft in Moliti anders – die Zeiger der alten Bahnhofsuhr müssen immer von Hand bewegt werden, um die genaue Uhrzeit anzuzeigen. Durch die Linse der Kamera scheint Moliti ein Grenzpunkt nicht nur zwischen Europa und Asien, Landleben und Technologie, sondern auch zwischen Mythos und Realität zu sein.
Parallel zu dieser abgeschiedenen Welt entwickelt sich eine fast irreale Welt der vielversprechenden politischen Reden, großen Geschäfte und gigantischen Infrastrukturprojekte, die den Dorfbewohner_innen nur durch das Fernsehen bekannt ist, zu der sie aber keinen Zugang haben. Der Zusammenprall unterschiedlicher Welten, der zu einem totalen Versagen der Kommunikation führt, ist das zentrale Thema des Films. Diese Kollision wird noch dadurch unterstrichen, dass die Veränderungen zusammen mit dem chinesischen Seidenstraßenprojekt nach Moliti kommen: Der Interessenskonflikt zwischen Dorf und Weltwirtschaft wird durch den Unterschied von Kulturen und Sprachen noch verschärft. Chinesische Arbeiter kommunizieren nicht mit georgischen Arbeitern, der einzige Übersetzer übersetzt nicht korrekt, die chinesische Verwaltung ist nicht bereit, mit streikenden Arbeitern Kompromisse einzugehen, und die Beamten weigern sich, den Dorfbewohner_innen den genauen Verlauf der Bauarbeiten mitzuteilen. Überraschenderweise erweist sich ein Projekt zur transkontinentalen Kontaktaufnahme über Handelswege als totaler Kommunikationsbruch.
Hier treten Differenzen zu Tage, die sich kaum noch überbrücken lassen. Denn um Unterschiede dialogisch zu bewältigen, muss, so hat es einmal der sowjetische Kultursemiotiker Jurij Lotman formuliert, sowohl ein Interesse der beiden Seiten an der Kommunikation bestehen, als auch die Fähigkeit, die unvermeidlichen semiotischen Barrieren zu überwinden. Jeder Dialog setzt eine inhärente Differenz zwischen Sprachen voraus, aber mit einer absoluten Differenz ist er unmöglich. Im Fall von Moliti liegt diese Differenz nicht an dem Unterschied zwischen Georgisch und Chinesisch, sondern an dem unüberwindbaren Unterschied zwischen der Sprache des Landlebens im Einklang mit der Umwelt und der Sprache des Anthropozäns, das die globale Neuordnung dieser Umwelt anstrebt. Für die Organisator_innen eines so ehrgeizigen Projekts sind die Dorfbewohner_innen, wie die Natur selbst, keine Gesprächspartner_innen, sondern ein feindliches Hindernis, das bewältigt oder vielleicht mehr noch: überwältigt sein muss, um Fortschritt und die daraus resultierenden Gewinne zu erzielen. In einer Realität, in der die Entwicklung des Kapitalismus die Entwicklung demokratischer Institutionen, welche die Rechte der Bewohner_innen schützen könnten, überholt, bleiben die Menschen ungeschützt.
Auch wenn aber eine kleine, lokale Gemeinschaft keine Macht hat, sich gegen globale Eingriffe in ihr Leben zu wehren, so besitzt doch die Natur diese Macht. Im Gegensatz zum Protest der Menschen ist es unmöglich, ihren Widerstand zu ignorieren, der sich in der gefährlichen Bewegung der Erde ausdrückt. Der Berg, durch den ein Eisenbahntunnel führt, beginnt sich zu bewegen, Risse öffnen sich an seiner Oberfläche, und mit den Erdmassen gerät auch das ambitionierte Bauprojekt ins Rutschen. Drei Jahre nach dem Erscheinen des Films ist der Bau des chinesischen Eisenbahntunnels in Moliti immer noch nicht abgeschlossen. Der Film ist für eine präzise Darstellung der Verflechtung von sozialen und ökologischen Problemen sehenswert.