Zwischen Welten, Identität und Gender: Meine Katze Jugoslawien

Mit Meine Katze Jugoslawien liefert Pajtim Statovci einen außergewöhnlichen, eindringlich erzählten Roman über Migration, Identität und transgenerationale Traumata. Die surrealistische Figur einer sprechenden Katze, die arrangierte Teenager-Ehe seiner Eltern und eine Schwulenbar in Helsinki laufen in der Hauptfigur Bekim zusammen, der mit seiner Familie aus Kosova nach Helsinki übersiedelt ist und sich nun eine Boa constrictor als Haustier hält. Es ist Statovcis eigene Erfahrung zwischen den Welten, sein Gespür für die inneren Konflikte von Heimatlosigkeit und Neuanfang, die diesen Roman so unverwechselbar und bewegend machen.

 

Mit seinem Debütroman Meine Katze Jugoslawien wurde Pajtim Statovci zum finnisch-kosovarischen Erfolgsautor des letzten Jahrzehnts. Das Original erschien bereits 2014 unter dem Titel Kissani Jugoslavia in Finnland und wurde seither in zahlreiche Sprachen übersetzt. Für die späte, erst 2024 erfolgte deutsche Übersetzung, erhielten der Autor und sein Übersetzer Stefan Moster den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt 2024.

 

Meine Katze Jugoslawien erzählt die Geschichte von Emine, die im patriarchalischen Kosova der 1980er-Jahre in einer gewalttätigen Ehe mit Bajram gefangen ist, sowie die Geschichte ihres Sohnes Bekim, der in Finnland in den 2010er-Jahren in eine toxische Beziehung mit einem dominanten Partner gerät. Beide Stränge verweben sich zu einem vielschichtigen Narrativ über transgenerationale Traumata, Migrationserfahrung und psychische Abhängigkeiten. Der Roman erkundet insbesondere zwei Themen auf einprägsame Weise: die surrealistische, an Bulgakovs dämonischen Kater Behemoth erinnernde Figur der sprechenden Katze Jugoslawien und die schmerzhafte familiäre Wiederholung destruktiver Beziehungsmuster in unterschiedlichen Lebenswelten und Generationen. Emine ist mit ihrer Familie aus dem kriegsgebeutelten Jugoslawien geflüchtet und aus Kosova nach Finnland übersiedelt, wo Bekim (wie Pajtim Statovci selbst) dann aufgewachsen ist.

 

Die Katze als Symbol für Isolation, Selbstzweifel und Jugoslawien


Die titelgebende sprechende Katze ist eines der zentralen Motive des Romans. Sie tritt in einer Schwulenbar in Bekims Leben und fasziniert und provoziert ihn von Beginn an. Die Katze verkörpert nicht nur Bekims innere Konflikte, sondern hält ihm auch das unbarmherzige Spiegelbild seiner Umwelt vor Augen. „Du bist ein Fremder, selbst in deiner eigenen Haut“, sagt die Katze an einer Stelle und bringt damit Bekims Gefühl der Entfremdung auf den Punkt. Auch beleidigt die Katze Bekim immer wieder aufs Übelste. Unbarmherzig verkündet sie, dass ihn nie jemand lieben werde – und tritt damit als destruktive Stimme des inneren Dialoges auf, den Bekim mit sich selbst führt.

 

Die Katze symbolisiert darüber hinaus die ambivalente Beziehung zwischen Bekim und Finnland: Sie ist Ausdruck der Kälte und Distanz, die Bekim in der finnischen Gesellschaft empfindet. Ihre provokanten und oft grausamen Bemerkungen erinnern an die subtilen wie offenen Formen der Ausgrenzung, die er als Migrant und Kosovare erlebt. Zugleich steht die Katze für den Versuch, diese Fremdheit zu verstehen und mit ihr zu leben, sich in einer Umgebung zurechtzufinden, die ihn nie ganz akzeptiert hat.

 

Kurzum, die Katze Jugoslawien ist Bekims ständige Begleiterin und Gegnerin in der Diaspora. Als geliebtes und verunsicherndes Gespenst kehrt Jugoslawien in ihr wieder, um ihn mit seiner Isolation, seinen Selbstzweifeln, dem Verlust von und der Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu konfrontieren. Als Bekim schließlich in Kosova auf eine andere Katze trifft, scheint diese Begegnung wie ein Spiegel seiner inneren Kämpfe: die Katze wird zur Verkörperung des Landes, das er verlassen hat und zugleich der Heimat, die ihm dennoch fremd geblieben ist. Sie zwingt ihn, sich den Wunden der Vergangenheit und den tiefsitzenden Fragen nach Identität und Versöhnung zu stellen, die er so lange zu verdrängen versucht hat.

 

 

Parallele Beziehungsmuster: Ein Kreislauf von Abhängigkeit und Kontrolle


Nicht nur den jugoslawischen-kosovarischen Phantomschmerz teilt Bekim mit seiner ausgewanderten Familie, die sich etwa in ihrer Vorliebe für Zdravko Ćolićs Lieder äußert, Statovci zeigt im Roman an den zwischenmenschlichen Beziehungen auch, wie sich der Kreislauf von Macht und Kontrolle in destruktiven Mustern über Generationen hinweg erhalten kann. Eindrucksvoll zieht der Roman eine Parallele zwischen der von Gewalt und Unterdrückung geprägten Ehe seiner Eltern Emine und Bajram und der Beziehung des Sohnes Bekim zu seinem älteren Partner Sami.

 

Emine, deren Ehe im Teenageralter von der Familie in Kosova arrangiert worden war, wird von ihrem patriarchal sozialisierten Mann Bajram dominiert. Seine Gewaltausbrüche und emotionale Kälte bedeuten für sie ein Leben bestimmt von Angst und Isolation, in dem für Selbstbestimmung keinerlei Raum bleibt. Bekim und seine Geschwister bleiben davon – auch im gleichberechtigten Finnland – nicht unberührt. Bekim gerät selbst in eine Beziehung, die von Manipulation und psychischer Abhängigkeit geprägt ist. Sami nutzt Bekims Unsicherheit und Sehnsucht nach Nähe aus, um ihn zu kontrollieren. Als schwuler Mann lebt Bekim eine Version des Lebens seiner Mutter nach, bleibt emotional gefangen in einem Machtgefälle, das aus den erlernten destruktiven Dynamiken seiner Kindheit und Ursprungsfamilie resultiert. Putzend und kochend erträgt er die Abwertung, die er erfährt, und durchläuft – wie sein Haustier, eine Boa constrictor – erst verschiedene Häutungsprozesse, bis er sich befreien kann: und die Boa tötet!

 

Ein Roman zwischen Realität und Surrealismus

 

Statovci erzählt mit klarer und präziser Sprache von den komplexen Themen Identität, Trauma und Beziehungsstrukturen und verbindet sie mit surrealistischen Elementen, die erfrischend das autofiktionale Paradigma der Gegenwartsliteratur perforieren. Die nüchterne Schilderung von Gewalt, Migration und gesellschaftlicher Ausgrenzung wird durch den Surrealismus des Romans nicht konterkariert, sondern als psychologisch verwurzelt eindrücklich vertieft.

 

Meine Katze Jugoslawien ist ein außergewöhnlicher Roman, der auf mehreren Ebenen funktioniert: Statovci zeigt mit schmerzhafter Klarheit, wie Gewalt, Kontrolle und emotionale Abhängigkeit nicht nur individuelle Schicksale prägen, sondern transgenerational weitergegeben werden und die Epigenetik Migrierter zusätzlich negativ beeinflussen. Mit seiner Mischung aus emotionaler Intensität, gesellschaftlicher Relevanz und literarischer Originalität überzeugt Meine Katze Jugoslawien auf ganzer Linie, und es verwundert nicht, dass Statovci als neue Stimme der finnischen Literatur auch international gefeiert wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

Buchcover von Meine Katze Jugoslawien.

Quelle: thalia.de

 

 

Literaturverzeichnis

Statovci, Pajtim: Meine Katze Jugoslawien. Aus dem Finnischen von Stefan Moster. München 2024.

Statovci, Pajtim: Grenzgänge. Aus dem Finnischen von Stefan Moster. München 2020.

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