Marko Dinićs 2019 erschienener Roman Die guten Tage zeichnet sich durch transkulturelle Dimensionen aus, die einer mehrfach gerichteten Lektüre befreienden Bewegungsraum verschaffen. Jugoslawische New Wave Bands wie Azra, Ekaterina Velika oder Haustor stehen neben Diasporaerfahrung, Wiener Gesellschaftsanalyse sowie Serbien-Bashing slash Belgrad-Liebe. Die Hauptbewegung des Protagonisten, seine Busfahrt von Wien nach Belgrad, knüpft an den jugoslawischen Kultfilm Ko to tamo peva (1980) an, während der Ich-Erzähler und sein akademisches Alter Ego, genannt „der Nachbar“, angewandte Erinnerungspolitik für Serbien durchspielen. Erst in alle Richtungen gleichzeitig gedacht, entfaltet dieser erste Roman Dinićs sein volles Panorama, das den jugoslawischen Nachkriegskulturraum vor der Kulisse einer deutschsprachigen Diaspora-Welt zur Inspektion freigibt.
Auf seinen zahlreichen Lesungsterminen zum Roman Die guten Tage (2019) wird Marko Dinić gerne nach dem „Gastarbeiterexpress“ gefragt. Mit “Gastarbeiterexpress” beschreibt Dinić im Roman die Busverbindung zwischen Wien und Belgrad, die der Erzähler nimmt, um nach zehnjähriger Abwesenheit zur Beerdigung seiner heiß geliebten Großmutter Nana nach Belgrad zu fahren.
Ein Gastarbeiter sei er nicht, sagte Dinić im Gespräch mit Katja Gasser am Burgtheater, gastarbajter definiere ihre schwere, bis zur Erschöpfung ausgebeutete, körperliche Arbeit. Doch man kann ihm hier, so glaube ich, auch widersprechen. Dinićs Roman, der beim österreichischen Zsolnay-Verlag in der Hanser-Verlagsgruppe erschienen ist, ist Ausdruck einer neuen ‚Gastarbeiter_innen‘-Gruppe, der Gastkünstler_innen und ihrer Literatur. Was sie mit ihren historischen Vorgängern verbindet, ist weniger die soziale Zugehörigkeit zu den Arbeiter_innen. Die Gemeinsamkeit steckt vielmehr in der Wortkomponente „Gast“. Der Gast ist jemand, der zwar anwesend ist, dessen darauffolgende Abwesenheit im Geiste aber immer schon mitgedacht ist. Während der Gast an einem Ort weilt, bleibt er – in der eigenen und fremden Wahrnehmung – stets auf ein Zuhause anderswo ausgerichtet. Entsprechend fieberten die Gastarbeiter_innen dem Heimataufenthalt entgegen, schickten das verdiente Geld nach Hause und waren historisch so lange Gastarbeiter_innen, wie sie mit Blick auf die zurückgelassene Heimat lebten. Haben wir heute nicht Gastkünstler_innen aus Südosteuropa, Schriftsteller_innen, Perfomer_innen, Dramaturg_innen und andere Intellektuelle (Boris Buden, Tanja Šljivar, Ivana Sajko, Tanja Ostojić…), die auf der Suche nach besseren Arbeitsbedingungen hier gelandet sind, aber stets in Hinsicht auf die zurückgelassene Heimat denken und bis hin zur Selbstverausgabung arbeiten? Passt dazu nicht auch wunderbar, dass in Dinićs Roman die Vergangenheit der Belgrader Jugend und Schulzeit im Präsens beschrieben, die österreichische Gegenwart hingegen aus der Distanz einer erzählerischen Vergangenheit berichtet wird? Der intradiegetisch-homodiegetische Erzähler und sein Doppelgänger, der „Nachbar“, legen bei ihrer Serbien-Abrechnung dabei eine wütende Niedergeschlagenheit an den Tag, die atmosphärisch den Roman trägt und auch ein Stimmungsbild nicht nur Serbiens, sondern des gesamten nachjugoslawischen Raums abgibt. Serbien jedenfalls, „dieses Land macht auch die Besten unter uns fertig.“
Wiener Diaspora als Camouflage
Österreich indes glänzt im Roman durch weitgehende Abwesenheit oder, anders gesagt, durch eine latente Präsenz, die vor allem über Absenz hergestellt wird. Österreich ist zunächst kontrastiver Hintergrund, vor dem sich Serbien und die ambivalente Haltung des Erzählers darstellen lassen. Dieser will in seiner Belgrader Maturanten-Zeit unbedingt weg, irgendwohin, wo Deutsch gesprochen wird, denn „in der Schule war immer gut in Deutsch gewesen“, was ihm die Spitznamen „Švabo oder Hans oder Adolf oder Rudolf“ einbringt. Er wirft zu guter Letzt eine Berlin-Wien-Münze, landet so in Wien, kehrt Belgrad für eine Dekade den Rücken und „versucht krampfhaft, sein bisheriges Leben in Serbien zu vergessen, während ein anderer Teil ununterbrochen daran erinnert wurde, wie sehr Wörter wie Sehnsucht oder Heimat zur Falle werden können.“ Doch Österreich ist auch nicht einfach ersetzbar in Die guten Tage. Wiens enge Verbindung zu den Südslawen und die ausgeprägte Jugo-Diasporakultur fügen sich zum Sprecherstandpunkt, der die eingehende retrospektive Betrachtung Belgrads erst erlaubt. „Der Duden lieferte mir den Wortschatz, mein Schreiben die Routine und die Museumsbesuche die Camouflage.“ Im rauen Jargon der Belgrader Straße, der ins Deutsche übertragen zur neuen, Distanz gewährenden Beschreibungssprache wird, flucht der Erzähler sich durch seine junge Lebensgeschichte und rechnet mit Miloševićs Serbien so ab, wie wir es schon lange einmal hören wollten. Der mit negativen Attributen üppig ornamentierte Vater: „mein Vater, die Missgeburt“, „mein Vater, das Stachelschwein“, „mein Vater, dieser Bastard“, „mein Vater, diese falsche Kröte“, „mein Vater, die Mistsau“, steht dabei für die Kriegstreiber-Generation, deren Linie der Sohn sich weiterzuerzählen weigert.
Schriftsteller mit serbischem Schwerpunkt
Marko Dinić, der in Österreich Germanistik und Jüdische Kulturgeschichte studiert hat, wird mit Die guten Tage zum deutschsprachigen Schriftsteller mit serbischem Schwerpunkt. Als Sohn serbischer Eltern wurde er zwischen Österreich und Serbien sozialisiert, geboren in Wien, aufgewachsen in Stuttgart und Belgrad, Matura in Serbien, Studium in Salzburg. Heute lebt und arbeitet Dinić in Wien und schreibt an einem neuen Roman, der sich wieder mit Serbien und dessen jüdischer Geschichte befassen wird. Die guten Tage wird derweil von Dragoslav Dedović ins Serbische übersetzt und erscheint demnächst bei buybook in Sarajevo – zum Bedauern von Dinićs Mutter, wie er mir im Interview verrät, in lateinischer Schrift. Auf die Rezeption im nachjugoslawischen Raum dürfen wir gespannt sein, gerade weil Die guten Tage an Reichweite Serbien überschreiten.
Der unterbrochene Kreis des Balkan-Patriarchats
Über den Milošević-liebenden sowie Erinnerung-verdrängenden Vater und seine Kontrastfigur, die Großmutter, hadert Dinićs Roman mit den patriarchalen Geschlechterverhältnissen auf dem Balkan schlechthin. Die Großmutter ist die stärkste Persönlichkeit im Roman und hat den größten Einfluss auf den Erzähler, nicht etwa die Männer, die Nana zu Folge „alle schon immer unfähig waren, eine ganze Sippe von Kampfhähnen, die nichts können, außer laut schreien“. Sie ist es, die den Enkel fort aus Serbien schickt. Ihr Tod motiviert nicht nur die Bewegung des Erzählers von Wien nach Belgrad, sondern auch die meisten Reflexionen des Ich-Erzählers. Über ihre Lebensgeschichte wird das Balkan-Patriarchat, das untrennbar mit den jugoslawischen Zerfallskriegen zusammenhängt, zum Thema des Romans. Im historischen Einzugsgebiet der Zadruga-Gemeinschaft, der Sippengesellschaft, leben Männer nach einem kämpferischen Ehrenkodex, über den sie in patrilinearem Kontakt mit den Ahnen stehen, während Frauen
für die Gemeinschaft und Geschichte bedeutungslos bleiben. Doch Dinićs ‚Anti-Protagonist‘ spricht erzählerisch in seinen Erinnerungen der Großmutter als Figur Würde, Größe und Kraft zu, nicht etwa dem Vater! Bei der Beerdigung beobachtet der Erzähler dann die männliche Verwandtschaft: „Und nun standen sie da, dieselben Väter, in Reih und Glied, mit nichts als ihren Schwänzen in den Händen, und spielten immerzu dieselbe Leier – gealtert, vergessen, jämmerlich, nichts Ruhmvolles mehr.“ Als er zuletzt der aufgebahrten Toten den an ihn weitergegebenen Ring des Großvaters in den Rachen legt, schreibt er gar die Tradition am Balkan um und unterbricht seine Verbindung zur männlichen Verwandtschaft unwiderruflich. Der neue Ritus des Ringdeponierens, der vielleicht in einem Hollywood-Thriller, bestimmt aber nicht in der Balkantradition seine Vorlage hat, macht ein Symbol des Patriarchats zur Grab-Beilage einer Frau.
Sehnsuchtsort Deutsche Sprache
Marko Dinićs intertextuell dicht gewebter Roman, der Ilse-Aichinger-Zitate ebenso enthält wie die gogoleske Figur des Busnachbarn oder eine regelrechte Plagiatspassage aus Joseph Conrads Heart of Darkness, ist ein wütend bitterer Abgesang auf ein glücklicherweise untergehendes Serbien und ein Loblied auf dessen Auferstehung aus dem Geist der deutschsprachigen Literatur. Einen Eindruck davon geben die Liebeserklärungen an Belgrad: „Und je näher man dem Stadtkern entgegendonnerte, desto schwieriger entkam man dem Sog, den Belgrad wie keine andere Stadt entwickeln konnte: ein ausgeleiertes Fließband aus hastigen Bewegungen, Gebrüll, Schweiß, Gestank, Verwesung, Abgas, Smog, Beton, Asphalt, Armut – Balkan. Das Vibrieren monströser Motoren unter angespannt schwitzenden Ärschen, die Menschen und ihre lose schaukelnden Köpfe nun in neuen, ansehnlicheren Bussen der Stadtverwaltung – eine Spende der Stadt Basel, nicht wie üblich in Rot, sondern in Signalgelb.“ Der Sehnsuchtsort Deutsche Sprache kulminiert im Roman in Übersetzungen von Popsongs, wie Milan Mladenovićs Metak „Ich bin ein Weltbürger, ich kaufe das Vergessen“ oder sedimentiert auch mal ins Rilke-Zitat: „Wir ordnens. Es zerfällt. Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.“
Dinićs Roman sagt über Serbien, was längst gesagt werden musste, und verleiht zugleich einer neuen Diaspora eine Stimme. Wenn sein Erzähler am Ende des Romans sein „ewiges Gastarbeitertum“ als „Camouflage“ abwertet, kann man ihm entgegenhalten, dass diese Tarnung ihn immerhin hat frei aufsprechen lassen.
Literatur
Marko Dinić. Die guten Tage. Zsolnay, Wien 2019