Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Orpheus in Schlesien

Dante hatte Vergil als Führer durch die Hölle seiner Zeit. Der Ich-Erzähler im Roman Bes­tia­rium des pol­ni­schen Autors Tomasz Różycki hat abwech­selnd seinen Onkel Jan mit der fun­ken­sprü­henden Pelz­mütze oder ein rot phos­pho­res­zie­rendes Hünd­chen. Sie führen ihn auf seinem Weg durch die Abgründe einer schle­si­schen Stadt, die Alb­traum und Museum ver­drängter Geheim­nisse zugleich ist.

 

Dem in Opole lebenden Lyriker und Über­setzer aus dem Fran­zö­si­schen Różycki gelingt mit seinem ersten Roman in 36 kurzen Kapi­teln eine Phan­tas­ma­gorie der Dop­pel­bö­dig­keit der pol­ni­schen Gegen­wart. Ganz Poeta doctus, stellt er sich in eine große lite­ra­ri­sche Tra­di­tion. Sie reicht von den mit­tel­al­ter­li­chen Bes­tia­rien – Beschrei­bungen von Tieren und Fabel­wesen – bis zu den sozialen Bes­tia­rien der Moderne.

 

OrpehusBIZwi­schen dem Roma­nisten Różycki und dem Fran­zosen Guil­laume Apol­lin­aire gibt es sogar meh­rere Ver­bin­dungen. Nicht nur ist Apol­lin­aire (italienisch-)polnischer Abstam­mung, son­dern auch in seinem Bes­tia­rium oder Das Gefolge des Orpheus aus dem Jahre 1911 geht es um den Dichter Orpheus und seinen Gang in die Unterwelt.

Der Ich-Erzähler, ein „Magister der Fremd­sprach­li­chen Phi­lo­logie“, befindet sich nachts in einer fremden Woh­nung und macht sich auf die Suche nach seiner Familie – und nach Wasser, um seinen bren­nenden Durst zu löschen. Der rote Hund führt ihn und so gelangt er in die Woh­nung seiner bett­lä­ge­rigen Groß­mutter Apol­lonia und deren Betreuerin Mania. Mit diesem Haus betritt er das Reich der ver­gan­genen Jahr­zehnte Polens, dessen Tra­di­tionen und Nie­der­lagen, von den Folgen deut­scher Okku­pa­tion und Ver­trei­bung aus dem Osten nach 1945. Sein Onkel Jan ist ein wod­kat­rin­kender Herr­scher, Bewahrer und Führer zugleich in der Unter­welt von Kel­lern und unter­ir­di­schen Gängen dieses Hauses. Er erzählt ihm: „Groß­mutter hatte einen Schlachthof“ in Gali­zien. Dieser Schlachthof, der im Roman leit­mo­ti­visch wie­der­kehrt, steht nicht nur für die Erin­ne­rung an den Glanz der Zweiten Pol­ni­schen Repu­blik zwi­schen Erstem und Zweitem Welt­krieg. Er ist auch Meta­pher des Abschlach­tens von Gene­ra­tionen junger Polen in den Auf­ständen und Kämpfen des 19. und 20.Jahrhunderts. Und falls die Groß­mutter wieder von der Geschichte mit den zwei Jüdinnen und dem Kind anfängt – so solle er dar­über hinweghören.

Unter der Herr­schaft des Onkels arbeiten in diesem Reich der Fins­ternis Aus­ge­sto­ßene und Kri­mi­nelle an der Her­stel­lung tra­di­tio­neller pol­ni­scher Gerichte und einem in 311 Fla­schen auf­be­wahrten Archiv der Geräu­sche und Gerüche der Vergangenheit.

Es reicht vom Duft einer Som­mer­wiese „voller Lev­kojen und Kamille“ im ver­lo­renen Osten bis zu letzten Erin­ne­rungen von Ster­benden aus Städten und Dör­fern Galiziens.

Es regnet fast unun­ter­bro­chen in diesem Roman – und all­mäh­lich sickern Wörter wie „Rau­schen“, „Hoch­wasser, „Flut“ und „Über­schwem­mung“ in den Text. Schließ­lich birst der Par­kett­boden im Zimmer der Groß­mutter und aus der Spalte quillt Wasser.

Statt eines Füh­rers dient dem Erzähler von nun an ein großer bron­zener Schlüssel als Weg­weiser und Tür­öffner, den man sogar „ins Loch der Nacht ste­cken und drehen“ kann. Über Trep­pen­häuser gelangt er in andere Woh­nungen und trifft dort Onkel Bronio, Tanten und Cou­sinen , vor allem aber den Gegen­spieler zu dem an Polens Tra­di­tionen hän­genden „Meta­phy­siker“ Jan, den natur­wis­sen­schaft­lich ori­en­tierten Onkel Run­kuńcio. Der erklärt ihm bei einigen Glä­sern Cognac denn auch den „Sinn der Sint­flut“. Sie ent­stehe nicht aus einer Ver­schwö­rung, wie Jan glaube, son­dern aus der „Macht der Fakten“: „Was­ser­an­stieg, Nie­der­schläge, Nie­sel­regen, Boden­feuch­tig­keit, Grund­was­ser­spiegel“. Aber die Sint­flut ist auch „mit­rei­ßend“ in dop­peltem Wort­sinn. Die alte Ord­nung kippt und es ent­steht etwas Neues. Etwas, das sich unter der Ober­fläche befindet wie eine zweite Stadt, lässt sich nicht länger ver­bergen, und des­halb muss eine Über­schwem­mung her, die alles tilgt und zunichte macht. Erst dadurch kann mit einem übrig geblie­benen Paar ein neuer Grün­dungs­my­thos entstehen.

Wie zuvor schon Jan, emp­fiehlt des­halb auch dieser Onkel dem Erzähler, die Enkelin der rei­chen Groß­mutter zu hei­raten und so deren geheime Schatz­truhe zu über­nehmen. Die Enkelin hat einen spre­chenden Namen, Leta, und erin­nert an Lethe, alt­grie­chisch „Ver­gessen“, den Fluss in der Unter­welt der grie­chi­schen Mytho­logie; wer aus ihm trinkt, ver­liert seine Erin­ne­rung am Ein­gang ins Totenreich.

Das Hünd­chen taucht irgend­wann wieder auf, ist aber kein antiker Zer­berus und ver­wehrt als Höl­len­hund den Ein­gang in die Unter­welt, son­dern führt den Erzähler schwanz­we­delnd aus dem Tumult der Über­flu­tung auf den Kirch­turm. Im stei­genden Wasser taucht ein Nil­pferd aus dem Zoo auf und richtet sich eine Meer­katze auf dem Haar­kranz von Mania häus­lich ein. Von hier oben sieht er, „wie der Fluss seinen gelben Leib durch die Straßen wälzt, die braune Brühe, die gewal­tige Flucht des Riesen aus den Bergen, der auf dem Rücken Möbel trägt, Sträu­cher, Bretter, Autos, Müll und Tiere, der große Umzug, die große Wan­de­rung, die Schlange ver­lässt die Stadt und nimmt alles fort, Gedächtnis, Tonnen von Müll und diese graue Materie, all das, was sich über Jahre hier ange­sam­melt hat“.

Vor der anstei­genden Flut retten sie sich auf den Dach­boden eines Miets­hauses, von wo Onkel Jan sie auf ein Floß bringen will. Doch da tau­chen plötz­lich aus den Kel­lern und hinter Büche­re­galen unbe­kannte Tiere auf, „eine Kreu­zung zwi­schen Marder, Katze und Affe“. Sie beißen Mit­glieder der Familie, wenn diese ihnen nicht Kügel­chen aus den zusam­men­ge­rollten Seiten alter Bücher zu fressen geben, und ver­hin­dern den ret­tenden Weg in die Arche. Es wird ver­mutet, sie seien „Vor­kriegs­ge­schöpfe“, „jüdi­sche Ver­schwö­rungen und Legenden“ oder nach 1945 aus Lem­berg hier­her­ge­kommen. Ver­zwei­felt wirft Onkel Bronio Papier­kü­gel­chen auf das war­tende Floß, die ganze Teu­fels­meute stürzt sich quie­kend darauf, der Onkel kappt die Taue – und unter dem Weh­klagen der Zurück­ge­blie­benen ver­schwindet die Arche mit allen Schätzen in der Strömung.

In der Däm­me­rung kommt es zum großen Show­down zwi­schen den Onkel-Figuren, der verbal wie musi­ka­lisch über meh­rere Kapitel aus­ge­tragen wird. Wäh­rend der eine Onkel Jan auf seiner Wan­der­gi­tarre Hymnen, Kir­chen- und Mili­tär­lieder sowie popu­läre Weisen aus der Vor­kriegs­zeit spielt, dreht der andere Onkel das Radio lauter, hört „April in Paris“ von Count Basie und ent­korkt dabei die im Wasser trei­benden Fla­schen aus Jans Geräu­sche­samm­lung. In einem apo­ka­lyp­ti­schen Sze­nario aus zer­stö­re­ri­scher Über­schwem­mung und von Him­mels­feuern ent­zün­deten Dach­stühlen geht es um die Frage, ob Tra­di­tionen eine Qual sind, ob der Mensch ohne Erin­ne­rungen leben kann, wie „Frei­heit und Sonne, eine neue Chance“ mög­lich sind.

Schließ­lich legt sich der Ich-Erzähler müde ein paar Treppen tiefer ins Bett der schnar­chenden Groß­mutter und schwimmt dann hoch über der Stadt, für ihn „ein See des Leids, eine Zis­terne des Unglücks“.

Die in diesem Metier bis­lang weniger bekannte Mar­lena Breuer hat den Roman aus dem Pol­ni­schen über­setzt. Es gelingt ihr, die Flut der Bilder und Asso­zia­tionen gut ins Deut­sche zu bringen. Sie meis­tert die auch in Róży­ckis Lyrik zufin­dende Ver­wen­dung von eher unge­wöhn­li­chen Wör­tern und findet dafür adäquate Ausdrücke.

So ver­dienst­voll es auch ist, dass der kleine Ber­liner Verlag edi­tion foto­TA­PETA dieses Buch her­aus­ge­bracht hat, so wünschte man dem Autor doch einen Platz im Pro­gramm eines großen Ver­lages. Nur so wäre gewähr­leistet, dass Tomasz Różycki die Publi­zität und ver­le­ge­ri­sche Betreuung im deut­schen Sprach­raum bekäme, die seiner Bedeu­tung ange­messen ist.

So hätte Bes­tia­rium ein sorg­fäl­tiges Lek­torat der Über­set­zung gut­getan. Gele­gent­liche Fuß­noten würden manche, dem pol­ni­schen Leser ver­traute Anspie­lungen im Deut­schen erhellen. Dass das von Onkel Jan gespielte Lied „oj da dana” nicht etwa ein sinn­loses Gestammel ist, son­dern der Anfang eines bis heute in Polen gern gesun­genen, aber alt(modisch)en Liedes. Oder dass „die Büste des Mar­schalls“ auf dem Nacht­tisch von Oma Apol­lonia den auto­ri­tären pol­ni­schen Staats­mann Józef Pil­sudski aus den 1920er Jahren zeigt.

Man muss nicht in einem Atemzug Bruno Schulz, Witold Gom­bro­wicz und auch noch Wene­dikt Jero­fejew bemühen, wie es das Ver­lags­mar­ke­ting im Klap­pen­text von Bes­tia­rium tut, um auf die Bedeu­tung dieses Werkes hin­zu­weisen. Tomasz Różycki ist ein eigen­stän­diger Autor, dem mit diesem phan­ta­sie­vollen, anspie­lungs­rei­chen und iro­ni­schen Buch ein großer Wurf gelungen ist.

 

Różycki, Tomasz: Bes­tia­rium. Aus dem Pol­ni­schen von Mar­lena Breuer. Berlin: edition.fotoTAPETA, 2016.