Für übergriffiges Verhalten gibt es keine Entschuldigung. Doch parallel zur Leidensgeschichte der Frau (Aiganym) wird in Otvergnutye auch die Lebensgeschichte des Täters gezeigt; immer wieder werden Szenen aus dem Alltag ihres Bruders Kairat erzählt. Er muss ständig Geld für die gesamte Familie auftreiben; damit verbundene Kreditschulden und die ständige Bedrohung durch die mafiösen Gläubiger_innen stehen für ihn an der Tagesordnung. Ein Mann in Kasachstan zu sein, bedeutet die Last des Versorgers zu tragen. Die Inszenierung Kairats als verantwortungsbewusster und hingebungsvoller Familienmensch und gleichzeitig grausamer Peiniger seiner Schwester kreiert im Kontext von Isabaevas feministischem Kino eine Ambivalenz innerhalb des Filmes, die irritiert. Vielleicht liegt der Schlüssel zum Verständnis in einer symbolischen Entsprechung: Als Repräsentant für die patriarchale Dominanz bekommt Kairat auffällig viel Spielzeit. So spiegelt das Erzählte die realen Verhältnisse.
In ihren filmischen Arbeiten konzentriert sich die Regisseurin immer wieder auf die gesellschaftlichen Verlierer_innen – vor allem Frauen. Die Kraft ihrer Filme liegt dabei in der Komplexität der Figuren und der Rigorosität ihrer Handlungen. Isabaeva ist eine Virtuosin, wenn es darum geht, schreckliche Charaktere zu erschaffen, die man widerwillig ins Herz schließt: So ist es schwer mit anzusehen, wie eine behinderte Heldin gleich einem amoralischen Monster agiert, doch genau das zeichnet die Protagonistin in Sveta (2017) aus. Auch die vielen Morde des jungen Rajan in Bopem (2015) wirken nicht weniger brutal, sie werden jedoch schmerzhaft nachvollziehbar, wenn man sein Schicksal und seine Motivation kennt. In Otvergnutye versucht Isabaeva nun – anders als bisher – durch einen Fokus auf gleich mehrere Figuren ein differenziertes Bild der Geschlechterverhältnisse wie damit verbundene gesellschaftliche Probleme aufzuzeigen. Vielleicht erlangt der Film gerade deshalb nicht die Tiefe und Unberechenbarkeit ihrer anderen Werke.