„Abflüsse aus der Realität gespeist von sibirischen Ein- und gedanklichen Nebenflüssen“

die Erzählung Flüsse von Evgenij Griškovec

Man kennt Evgenij Griškovec als Dramatiker, als Regisseur und als Interpret der eigenen Bühnenwerke. Seine erfolgreichen Stücke wie etwa Wie ich einen Hund gegessen habe (Kak ja s’el sobaku, 1998) oder Gleichzeitig (Odnovremenno, 1999) sind in mehrere Sprachen übersetzt und werden gerade in Deutschland wiederholt aufgeführt (beispielsweise in Tübingen, Berlin, Frankfurt und Lübeck – um nur jüngste Inszenierungen zu nennen).

Um sich einer neuen Herausforderung zu stellen, hat sich der „Erfinder der russischen Performance“ in den letzen Jahren der Prosa zugewandt. 2004 erschien sein erster Roman Rubaška (Das Hemd), der in  kürzester Zeit die zweite Auflage erreichte und den Preis ‚Buch des Jahres 2004’ erhielt. Mit Reki (Flüsse) ist nun ein weiteres Prosawerk von Griškovec herausgekommen.
Das kleinformatige Buch, 2005 im Verlag Machaon erschienen, ist eine für den russischen Buchmarkt ungewöhnlich schöne Ausgabe, mit schlichtem Deckblatt und von guter Papier- und Druckqualität. Neben dem Titel Flüsse wird es durch die Genrebezeichnung Povest charakterisiert – eine in der russischen Literaturtradition eigenständige Form der mittleren Prosa-Erzählung. Flüsse, so betont Griškovec in einem Interview, habe ihn endlich zu einem „vollformatigen“ Autor gemacht, der nun neben Theaterstücken und einem Roman auch eine Erzählung vorweisen könne.
Es ist schwer zu sagen, wovon die Erzählung Flüsse eigentlich handelt. Wie in den meisten Texten von Griškovec fehlt auch hier das Sujet. Der Autor sagt diesbezüglich: „Das lässt sich leicht erklären. Ich bin unfähig, ein Sujet zu entwickeln, katastrophal unfähig, mir irgendetwas Abgehobenes  auszudenken.“
In Flüsse treffen wir auf einen sehr lebhafen Ich-Erzähler, der uns nach Sibirien entführt, in sein von ihm inzwischen verlassenes Heimatland. Aufgewachsen ist er in einer mittelgroßen sibirischen Stadt und an einem großen Fluss. Doch weder Stadt noch Fluss werden benannt, überhaupt findet man in der Erzählung kaum Toponyme, so dass eine Verortung der Ereignisse unmöglich ist. In der Vorbemerkung zu Flüsse heißt es, der Autor sei unbekannt, doch hat man beim Lesen den starken Eindruck, dass in Flüsse viel Autobiografisches eingeflossen ist. Griškovec’ Geburtsstadt ist das sibirische Keremovo am Fluss Tom’, und ebenso wie der Erzähler hat auch der Autor seine sibirische Heimat inzwischen verlassen. Man solle keine frei erfundenen Geschichten von ihm erwarten, meint Griškovec: „Ich schreibe über das, was mir passiert oder über das, was ich weiß – wobei letzteres meine Möglichkeiten stark erweitert. Es handelt sich dabei um eine Subtraktion aus der Realität, deren wahre Exotik ich sorgfältig herausputze.“
Flüsse beginnt: „Ich habe nur einmal einen Bären gesehen – außerhalb des Zoos. Nur einmal im Leben. Obwohl ich in Sibirien geboren wurde und meine ersten dreißig Jahre und etwas darüber dort gelebt habe. In Sibirien, wo schon mein Urgroßvater geboren wurde und starb, wo mein Großvater geboren wurde und starb, wo mein Vater geboren wurde. Ich bin fortgegangen aus Sibirien, weit fort und dies, höchstwahrscheinlich, ohne Bedauern.“ Dieser Auftakt ist in vieler Hinsicht aussagekräftig für die gesamte Erzählung: nicht nur inhaltlich, sondern auch im Erzählstil – eigenwillig, unmittelbar, knappe Sätze und Wiederholungen. Immer wieder mokiert sich der Erzähler über sein Heimatland, er räumt auf mit gängigen Klischees über Sibirien und mit sibirischem Pathos. Die ambivalente Haltung des Erzählers zu seiner Heimat lässt den Leser bis zuletzt im Zweifel darüber, was besser sei, Sibirien zu verlassen oder dazubleiben. Ob der Zustände in seinem Land schwankt der Erzähler zwischen Aufbegehren und Resignation. In Augenblicken größter Verzweiflung darüber, was mit seinem Land passiert oder eben gerade nicht passiert, vermag den Erzähler nur ein einziger Gedanke beruhigen: in diesem Moment eilt irgendwo auf der Strecke der transsibirischen Eisenbahn ein Zug dahin, in dem mit Sicherheit ein Mensch sitzt, der gerade Tee trinkt. „Aus dieser Gewissheit lässt sich zwar nicht ableiten, dass das Land sich nicht verändert, in ihr liegt jedoch ein gewisser Trost, zumindest kann man sich etwas beruhigen. Aber das Land verändert sich nicht, ob mir das nun  gefällt oder nicht.“
Die Blickwinkel, die der Erzähler bei der Betrachtung seines Heimatlandes wählt, sind vielfältig. Zugang findet er nicht nur über die eigene Abstammung, über den Urgroßvater und Großvater, über die Geschichte der Heimatstadt, über geographische Gegebenheiten, sondern oft auch über vergleichende Darstellungen (Sibirien und andere Länder, Dorf und Stadt, Industrie und Natur, Untertage und Übertage, Sibirer und Südrussen). Vieles ist dabei einfach nur ein Wachrufen von Erinnerungen aus der Kindheit und Jugendzeit. Erzählt wird von Hinterhofabenteuern, Studienfahrten, Museumsbesuchen genauso wie von der Begegnung mit dem zahnlosen Dorfältesten oder der verzweifelten unbekannten Dame auf nächtlicher Straße. Man erfährt einiges über die Sibirer, über sibirische Flughäfen, sibirische Züge, über das Dilemma der nichtvorhandenen sibirischen Kunst und der nicht eindeutigen Landesgrenzen Sibiriens. Und immer wieder sibirische Wasser: das Polarmeer, Eis, Schnee, Regen, Pfützen, Eisblumen und natürlich der große Fluss, der von jeher eine ganz besondere Wirkung auf den Erzähler hatte.

Während seiner teils meditativen Betrachtungen über das Land Sibirien, über dessen Bewohner und ihre Lebensweise, wird dem Erzähler immer klarer, mit welchem Mangel und in welchem Nichts er aufgewachsen ist. Das Sibirien des Erzählers von Flüsse hat keine Vergangenheit, keine Zukunft und im Grunde auch keine Gegenwart, da von Lebensqualität nicht die Rede sein kann. Dieses Sibirien ist ein ödes Land, das seine Bewohner durch sinnlos viel Raum bedrückt. Es verfügt weder über eine exotische Tier- und Pflanzenwelt, noch über nennenswerte Sehenswürdigkeiten oder besondere historische Begebenheiten. Weder führten Kreuzzüge nach Sibirien, noch gab es griechische oder römische Einflüsse, ja nicht einmal Napoleon schaffte es bis nach Sibirien. Daher gab es keine sibirischen Helden, so der Erzähler, mit denen man sich in der Kindheit hätte identifizieren können – keine Könige, keine Ritter, nicht einmal Piraten. „Räuber und Mörder, die gab es natürlich. Aber was ist dran an einem plündernden Kerl mit Pelzmantel, einem langem Bart und einem Beil?“ Was gibt es also in Sibirien? Bodenschätze. In der Schule quält sich der junge Sibirer mit dem Auswendiglernen  von Daten: Wann und wo wurden welche Erz-, Kohle- und Ölvorkommen gefunden?

Flüsse ist weniger eine Erzählung als vielmehr eine Art Ideenkomposition, ein Ineinanderfließen von Abschweifungen einerseits und Annäherungen andererseits, eine Hydro-Autobiographie, angeordnet um verschiedene Wasser, die die Gedanken und Erinnerungen  von hier nach dort treiben. Griškovec selbst nennt Flüsse den „Versuch eines Erinnerungs-monologs“.
Trotz des Wechsels von der Dramatik zur Prosa bleibt Griškovec’ typischer Erzählstil erhalten und sofort erkennbar. Zwar handelt es sich hier nicht um gesprochene Sprache, gleichwohl schafft es der Erzähler, an vielen Stellen die Unmittelbarkeit mündlicher Rede zu erzeugen. Griškovec erfindet hier seine eigene Form des Skaz (von russisch skazat’ – sprechen: Erzählstil als Imitation mündlicher Rede), die ungekünstelt und unverblümt daherkommt, ohne dabei jedoch flapsig zu wirken. Seine Sprache ist  mal schwärmerisch und ausschweifend, mal lakonisch knapp, dann wieder zögerlich, auf der Suche nach einer treffenderen Beschreibung, einem passenderen Begriff. Neben häufig abdriftenden Gedankengänge und assoziativen Gedankensprüngen des Erzählers finden sich alle charakteristischen Merkmale von Skaz: offene Sätze, häufige Wiederholungen, direktes Ansprechen des Lesers, Interjektionen, umgangssprachliche Wendungen, Wechsel der erzählten Zeit, Ausrufesätze und herausgehobene Einzelwörter.
Flüsse
ist zudem geprägt von ständigen Wechseln und überraschenden Wendungen: vom Wechsel zwischen Erzählen und Reflektieren über das Erzählte, zwischen Nahperspektive und Gesamtschau, von der Wendung des Banalen ins Besondere, vom Vergleich des persönlichen Erlebnisses mit allgemeinen Zusammenhängen, dem Wandel vom Privaten ins Universelle. Der Erzähler ist Privatperson und zugleich Prototyp, in dem sich der Leser fortwährend wiederfindet, und dies nicht ohne schmunzeln. Flüsse ist voll unerbittlicher Erkenntnis, voll entwaffnender Offenheit, voll Sprachwitz und dabei wohltuend frei von postmodernem Zynismus und gewollter Mehrdeutigkeit. Was erzählt wird, ist unspektakulär, beinahe banal, so dass man leicht übersieht, wie geschickt die Erzählung gebaut ist: mit Liebe zum Detail und in stets ungewöhnlicher Perspektive auf Situationen und Handlungen. Griškovec’ Flüsse ertränken den Leser nicht mit skandalösen Eröffnungen, sondern benetzen ihn unaufdringlich mit plätschernden Anekdötchen aus dem sibirischen Alltagstrom, dessen verschiedene Ober-, Unter- und Nebenläufe über Assoziationskanäle ineinanderfließen. An einigen Stellen der Flüsse führt ein gewisser Überfluss beim Leser jedoch bisweilen zum Überdruss. Das passiert immer dann, wenn das Verfahren schnell erkennbar wird, beispielsweise wenn sich der Erzähler penetrant wieder und wieder dieselben Fragen stellt, zwar umformuliert, aber nie beantwortet, wenn er übertrieben pathetisch wird, wenn er Gefühlsduselei mit Wahrheitsfindung verwechselt.

In Russland fällt das Urteil über Griškovec’ Flüsse zwiespältig aus. Neben den üblichen Lobeshymnen gibt es auch kritische Anmerkungen – beispielsweise, dass Flüsse nicht für Russen geschrieben sei, sondern vielmehr mit der Intention, dem Nicht-Russen Russland näher zu bringen. Der Russe brauche keine Erklärungen über sein Land und für eine Auseinandersetzung mit den Daseinsfragen habe vor allem der Sibirer keine Zeit. Im eigenen Land fließen die sprudelnden Griškovecschen „Aus-Flüsse“ eher ins Leere. Das große Potential von Flüsse liege in der wahrscheinlich positiven Aufnahme im Ausland. Dem Autor wird gar unterstellt, dass er genau diese Möglichkeit im Kopf gehabt habe, als er sich daran machte, seinen „sibirischen Psalm“ zu verfassen.
Bleibt abzuwarten, ob es bald eine deutsche Fassung von Flüsse geben wird und die Russen mit ihren Mutmaßungen über die ausländischen Leser Recht behalten.

 

www.odnovremenno.ru/texts/t42.html

www.odnovremenno.ru

www.machaon.net

www.grishkovets.com/press/release_66.html

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