Ein Porträt der Lyrikerin Ol′ga Martynova
Ol′ga Martynovas Lyrik könnte man ganz ohne fremde Worte vorstellen. Man müsste nur die richtigen Stellen nehmen, aneinander reihen und ein einzig aus Zitaten bestehender Text würde einen ersten Eindruck von ihrer Poesie vermitteln. Ihre selbstreflexiven oder metapoetischen Gedichte sagen oft viel über sich selbst, über die Kunst oder die Sprache im Allgemeinen, sowie über ihre eigene Gemachtheit, über Martynovas Schreibweise im Besonderen. „Die Sprache, der Falter mit dem Hinkeflügel“ zeigt sich dabei als ein verletztes und zerbrechliches Gerüst des Menschen. Doch es gibt ihn noch, den „Flügelschlag der Vogel-Harfe“, die nur „in die Zweige gehängt“ wurde, und es gibt auch noch „Wasser“, sogar einen „Strom“, zumindest im Gedicht. Und auch wenn die Sprache, ein verletzter Falter, hier wohl nicht mehr fliegen kann, so können an anderer Stelle immerhin noch „Buchstaben“ „Fenster zu mitternächtlichen Sälen“ öffnen. Nicht nur hier sprechen Martynovas Gedichte, indem sie Geschichte und Mythos, Städte und Länder von Neuem besingen, zugleich über sich selbst. Trotzdem weisen ihre Gedichte auch ständig über sich hinaus, auf Orte, Landschaften, mythische Namen und poetische Vorfahren, und darum lohnt es sich, auf die Suche zu gehen, um den manchmal schwer verständlichen Gedichten näher zu kommen.
Geboren in Dudinka bei Krasnojarsk in Sibirien, aufgewachsen in Petersburg und seit 1991 in Frankfurt am Main, schreibt Olga Martynova ihre Gedichte nach wie vor auf Russisch, und dabei wird es wohl auch bleiben. Trotzdem ist sie in der deutschen Sprache schon so heimisch geworden, dass sie seit einigen Jahren Rezensionen auf Deutsch verfasst. Eine Auswahl dieser Besprechungen, in denen sie als eine Vermittlerin zwischen deutscher und russischer Literatur auftritt, wurde 2003 unter dem Titel Wer schenkt was wem bei Rimbaud veröffentlicht. Derzeit schreibt sie sogar an einem Roman auf Deutsch, er handelt von einer Germanistin, die in Sankt Petersburg lebt und durch den Beruf, die Familiengeschichte und eine Liebesgeschichte eine sehr enge Verbindung zu Deutschland hat. Doch solange muss der deutsche Leser auf deutsche Ausgaben nicht warten, denn Martynova hat selbst schon etliche ihrer Gedichte ins Deutsche übertragen. 2001 ist die zusammen mit Elke Erb übersetzte Auswahl Brief an die Zypressen erschienen. Vor kurzem der Gedichtband Rom liegt irgendwo in Russland, der nach einem gemeinsamen Romaufenthalt mit der Petersburger Dichterin Elena Švarc entstanden ist. In ihrem achtteiligen Beitrag zu diesem Buch wird Rom zum Zeichen für ein gewaltiges historisches Erbe, das uns die Vergangenheit hinterlassen hat, das jedoch zu einer Last geworden ist, einer Bedrohung, einem alles verschlingenden „Schlund“. Rom ist hier ein Ort, der so voll ist von Geschichte, Kultur, Bedeutung und Größe, dass er dem heutigen Besucher jede Freiheit raubt, keine Möglichkeit lässt, aus der „paradierenden Ewigkeit“ auszubrechen, obwohl Rom doch nur von der „Leiche seiner Großmutter“ lebt. Ein Ort, der verschlungen wurde von der heutigen Zeit, der zur Ware degeneriert ist, zum „Ewigkeitsladen“, der nur als solcher überhaupt noch Sinn bekommt durch die irgendwie perverse Bewunderung seiner Besucher, der sich an sie verkauft, prostituiert, um zu überleben.
Es ist wohl die beschriebene Lebenssituation zwischen zwei Ländern und Sprachen oder, um es in ihren eigenen Worten zu sagen, zwischen dem „Dürren und Seidenen der deutschen Zunge“ und dem „Brotigen, Euterwarmen der russischen Sprache“, die mit Vertrautheit gepaarte Distanz, die Fremdheit ihres Blicks, die Martynova vielleicht gerade für deutsche Leser besonders interessant macht. Der Dialog, der dabei zwischen russischer und deutscher Literatur entsteht, scheint jedoch nur eine Nuance eines größeren Entwurfes zu sein, welches in früheren Gedichte wie Besame mucho, Na skvozjanke evropy („In der Zugluft Europas“) oder evropejskoe utro („Europäischer Morgen“) Europa genannt wird. Dabei entsteht ein poetisches Gesamtbild, in dem Rom nur noch als eine von vielen Koordinaten erscheint. Dieses Europa hat jedoch nichts mit der bürokratischen Instanz der Europäischen Union zu tun, sondern steht für eine zersplitterte, nicht nur irritierte, sondern seit jeher uneinige kulturelle Formation. In diesen Gedichten tritt das antike Europa, die mythische Gestalt wie das Jahrtausende alte Erbe des Abendlandes in einen Dialog mit der Schreckensgeschichte des 20. Jahrhundert und dem nur scheinbar heilen Leben nach dem Ende des Kalten Krieges. Dabei entsteht kein idealisiertes und auch kein abgeschlossenes Bild, vielmehr sucht der uns in Martynovas Gedichten begegnende Blick nach dem Verborgenen und Versteckten, nach dem, was „niemanden schert, was nackt darunter hervorblitzt“, unter dem „Flickenmantel“, oder einer anderen Übersetzung zu Folge: „keiner sah ihre Blöße“. Und er findet ein Europa, welches „sauber… ausgefegt“ ist, in dem „der Wind das Grauen von gestern über den Boden“ treibt. Martynova sucht die Schwachstellen westeuropäischer Makellosigkeit, die Heuchelei in der Moral. Dabei ergänzen mythische Bilder historische, und werden zudem in einen Bezug gestellt zu einer subjektiven Erfahrung, die jedoch selten das Zentrum der Gedichte ist, sondern öfter eine fremde, fast heimliche Beobachterin, ein loser, aber gewahrter Bezugs- und Blickpunkt. So hören wir am Ende des Gedichtes Na skvozjanke evropy, dass das Leben „in der Zugluft Europas“, das „epische Weiter und Weiter“ am Ende „nicht durchzuhalten“ ist. In diesen Gedichten oder anderen, die sich speziell Deutschland widmen, sehen wir einen uns nahen Gegenstand durch fremde Augen, das Heimische zwar als Vertrautes, aber als Anvertrautes. Man kann hier eine Distanz zu sich selbst finden, die bekanntlich die Bedingung für Wahrnehmung und Erkenntnis ist, wenngleich es hier natürlich um eine besondere Form der Erkenntnis geht: um poetische Erkenntnis, um das durch eine besondere Sprache neu vermittelte Verhältnis zwischen Ich und Welt. Das Ich dieser Gedichte befindet sich zumeist in einer eigenartigen Schwebe und Unentscheidbarkeit, in einem passiven Zögern und Zweifeln, einem unverständigen Staunen. Und obwohl dieses Leben, das europäische, „das epische Weiter und Weiter…“ am Ende „nicht durchzuhalten“ ist, hat man doch das Gefühl, dass es weiter gehen wird. So verweisen drei romantische Pünktchen am Schluss des Gedichtes auf eben diese Fortsetzung, versprechen hier aber weder Heil noch Vollendung. Und vielleicht ist genau dies die eigentliche Qualität von Martynovas Dichtung: eben doch durchzuhalten, die Fähigkeit, nicht heilen, weder schön reden noch schlecht machen zu müssen und auch keine Erklärungen oder Lösungen anzubieten, sondern einfach nur sehen zu wollen, mit einem faszinierenden und faszinierten Blick.
In vielen Texten Martynovas scheint es darum zu gehen, Gegensätze zu vereinen oder miteinander zu konfrontieren. In den Gedichten über Europa sind das im Hintergrund immer wieder die Angst und die Liebe, „Phobos und Eros, die Brüder“, als ob sie zusammen erscheinen, um sich ihrer gemeinsamen Herkunft zu besinnen. Wider Erwarten findet man so auch kein Gegenüber von Europa und Russland, keine Trennung besteht zwischen den „Pariser Abflussrinnen“ und „dem schwarzen Wasser der Newa“, ja Martynova sagt selbst, dass Russland kulturell Europa sei. Im Grunde trifft man an jeder Wegkreuzung ihrer Poesie auf die Landschaften und Städte Deutschlands, Frankreichs oder Italiens, und natürlich auch immer wieder auf Russland, allen voran auf Petersburg, die Stadt ihrer Kindheit, vielleicht die Stadt der russischen Poesie schlechthin, vielleicht die europäischste, auf jeden Fall aber die einzige gezielt europäisch gebaute Stadt Russlands.
Mit der Petersburger/Leningrader Untergrundlyrik der 70er und 80er Jahre wuchs Martynova auf. Anfang der 80er entstand um Oleg Jur′jev, Dmitrij Zaks, Valerij Šubinskij und eben Ol′ga Martynova die Gruppe Kamera Chranenija („Gepäckaufbewahrung“), damals poetische Strömung und Verlag, heute ein Internetprojekt, das sie bis heute als ihre literarische Heimat bezeichnet. Die Samizdatalmanache dieser Zeit waren in der Tat als Aufbewahrungsorte für Texte gedacht, die in der Sowjetzeit keine Publikationsmöglichkeit hatten. In dieser Tradition sieht sie sich noch heute, in freilich anderen Zeiten und auch an einem anderen Ort. Und diese Tradition bezeichnet sie als die Fortsetzung der gewaltsam abgebrochenen literarischen Moderne, dazu passt auch ihre momentane Vorliebe für die Oberiuten, namentlich für Charms, Vvedenskyj, Sabolockij und andere.
Eine besondere Stellung hat in ihren Gedichten auch das Motiv der Nacht. In der Regel ist schon der Titel das offene Bekenntnis zu einer Leidenschaft: podlinnie pochoždenija noči („Die wirklichen Abenteuer der Nacht“), četyre vremeni noči („Die vier Zeiten der Nacht“, titelgebend für einen der russischen Gedichtbände), Night unwraps the true stuff of the world oder Eše raz k noči („Noch einmal zur Nacht“). Die Nacht wird hier zur Offenbarung der Nacktheit und Blöße, der unverfälschten Menschlichkeit. Sie ist das Negativ einer selbstvergessenen Welt und ein Erinnerungsspeicher des Grauens. Sie ist das Gegenstück zum sorglosen Tag und somit auch das einzige Gewissen der Welt. Zugleich aber ist die Nacht der Ort, an dem die festgefahrene Ordnung der Sprache in ein produktives Chaos zerfällt, und somit der Ort der Poesie schlechthin. Zwar sind es in der Regel einfache nächtliche Szenen und Stimmungen, die beschrieben werden, „die barfüßige Nacht“, „so einäugig wie unruhig“, doch schnell werden die „gegenläufigen Fahrbahnen der Nacht“ und die „im Gold des Paradieses“ strahlende „Gegenspur“ zu Metaphern für eine Umkehrung der Verhältnisse, eine stille und heimliche Revolte gegen die Sprache und ihrer Ordnung. Und so ist es kein Zufall, dass die Nacht oft vom Regen begleitet wird und mit ihm fast symbiotisch in einer Zuneigung zum Dunklen und Ungeliebten verschmilzt. Dabei ist die Nacht, die Zeit der Nacht, die Dunkelheit nur ein Ort, an dem nach anderen möglichen Welten außerhalb der Herrschaft von Vernunft, Logik, Sinn und Bewusstsein gesucht wird, nach einer poetischen Welt des Paradoxes und der Möglichkeit, des Traumes und des Labyrinths. „…My dumaem, čto my dumaem, no my ne dumaem /(…)/…My čuvstvuem, čto my čuvstvuem, no my ne čuvstvuem.“ („…Wir denken, dass wir denken, aber wir denken nicht /(…)/…Wir fühlen, dass wir fühlen, aber wir fühlen nicht), heißt es da an einer Stelle, und an einer anderen: „Son razuma poroždaet ešё odin son.“ („Der Schlaf der Vernunft gebiert noch einen anderen Schlaf.“). Der Sprache der Poesie kommt hier die Aufgabe zu, Türen zu öffnen, die in der Altgassprache und im Alltagsdenken verschlossen sind. Wer an diesem leicht prophetischen Ton Anstoß nimmt, könnte einige Gedichte durchaus als esoterisch oder belehrend empfinden. Für ihn gibt es aber auch eine humoristische Seite Martynovas, so zum Beispiel, wenn das lyrische Ich Epikur erklärt, was Gene und Hormone sind, obwohl es selbst nicht versteht, was diese Worte bedeuten, oder wenn in einem anderen Gedicht Gott, das Schicksal und der Zufall zusammen Tee trinken und sich unterhalten.
Ol′ga Martynova bietet keine Lösungen an und sucht auch nicht verkrampft nach der Epoche machenden Formel. Ganz im Gegenteil bedeutet ihre Dichtung ein Wiederfinden der Zeit, sie hält Aufmerksamkeit für das Unbeobachtete bereit und pflegt, was von ihr geschätzt wird, ohne zu laut zu sein und sich darum zu kümmern, was man gerade lesen will. Gerade in ihrer Unbekümmertheit ist ihre Dichtung am besten in ihren eigenen Worten zu beschreiben, die in diesem Fall einer Besprechung von Raoul Schrotts Nachdichtung des Gilgameschepos entnommen sind: Sie ist eine „Säbelattacke gegen fortschreitende Panzer“.
Die Möglichkeit, Martynovas Dichtung in ihren eigenen Worten zu beschreiben, hat nicht zuletzt mit der Selbstreflexivität ihrer Sprache zu tun, mit der ständigen Thematisierung der Dichtung und Kunst selbst. So lesen wir in dem Gedicht Deine Buchstaben: „Regen kehrt die Blätter um, die Wörter/sind Flecken, dunkle Stacheln/deine Buchstaben.“ Und: „zwischen den Seiten bricht das Eis,/haltbar nur der alte Geruch des Papiers, seine Zeichen/aufgebäumt in unübersetzbarem Zorn, wurzelbitter, nichts,/woraus du lernen könntest.“ Und schließlich: „den Schrecken wendet/das nächste Blatt./Wie üblich regnet es/bis hierhin und nicht weiter.“ Der Schluss des allerletzten Gedichtes in „Brief an die Zypressen“ lautet: „die Grenze verlierend/um dann schließlich als weißer Staub zu liegen auf seiner Seite im Buch?“. Der ganze Band endet mit dieser Aussicht, dieser Frage nach der Grenze des dichterischen Materials, der Vergänglichkeit von Dichtung, die manchmal vielleicht doch noch gerne eine Bewegung der Unendlichkeit wäre. Immer wieder wird die Sprache inmitten ihrer Beobachtung auf sich zurückgeworfen. Manchmal scheint es ganz unerwartet und nicht geplant, so in einem Gedicht, das mit einem „Einarmigen Leierkastenmann“ und dem „Lied meiner Kindheit“ beginnt, dann beobachtet: „das Volk der Germanen schlendert dahin, vornehmlich Türken“, um schließlich mit den Zeilen zu enden:
„Meine Aufgabe ist seltsam: den Staub durchblasen, undeutlich murmeln,
Was gestern deutlich gesagt worden ist.
Der Wind bringt die Papierchen fort. Niemand weiß wohin. Hinkende Musik.
Das Leben setzt sich ab, schwer wie fetter Staub.
Und soviel wurde indessen niemand weiß wohin gefegt.
Fern die Küste: Der Wind unsichtbar. Das Anführungszeichen.“
Ja, will man da sagen, ja das ist eine hinkende Musik, aber immerhin Musik, und zwar eine schöne und vielleicht unserer Zeit sehr angemessene oder wohltuende. Es ist auch manchmal eine schwer verständliche, hochkomplexe Musik, aber noch immer Musik, und zudem eine neuartige und mutige. Für Martynova gibt es, wie sie selbst sagt, keine hermetische Dichtung. Dichtung sei nämlich kein Begreifwerkzeug, sondern habe nur eine einzige Aufgabe: Dichtung zu sein. Hört man dem Bekenntnis zu einem undeutlichen Murmeln nur genau zu, dann kann man sich vielleicht die Freiheit nehmen und selbst anfangen, die Gedichte Martynovas, ihre in Angst und Hoffnung gekleideten Bilder, einfach nur wahrzunehmen, zu sehen, zu staunen, ohne alles zu verstehen, genau so wie es ihre Gedichte mit der Welt tun.
Martynova, Olga: Brief an die Zypressen. Aus dem Russischen von Elke Erb und Olga Martynova. Aachen 2001.
Martynova, Olga: Četyre vremeni noči. Peterburg 1998.
Martynova, Olga und Schwarz, Jelena: Rom liegt irgendwo in Russland. Zwei russische Dichterinnen im lyrischen Dialog über Rom. Russisch/Deutsch. Aus dem Russischen von Elke Erb und Olga Martynova. Wien 2006.
Martynova, Olga: Wer schenkt was wem. Besprechungen 1999-2003. Aachen 2003.
Gregor Laschen, Hans Thill (Hg.:) Leb wohl lila Sommer: Gedichte aus Russland. Heidelberg 2004.
Weissbort, Daniel und Valentina Polukhina (Hrsg.): Russian Women Poets. London 2002.
www.newkamera.de/4vn.html (8.04.2007).
www.nzz.ch/2007/02/17/li/articleEOKID.print.html (8.04.2007).