Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Nir­gends, aus dem Nichts – über das Gesamt­werk von Bekim Sejranović

Am 21. Mai 2020 setzte die bos­ni­sche Bot­schaft in Prag die Staats­flagge, wider die gel­tenden diplo­ma­ti­schen Pro­to­kolle, auf Halb­mast. Denn gestorben war weder etwa ein Mit­glied des Staats­prä­si­diums noch wurde an tra­gi­sche Ereig­nisse erin­nert. Gestorben war der bos­ni­sche und kroa­ti­sche Schrift­steller und Über­setzer Bekim Sejra­nović, den die Bot­schaf­terin, Mar­tina Mli­narević, selbst Dich­terin, in ihrer Mit­tei­lung als den “begab­testen Schrift­steller der jün­geren bos­nisch-her­ze­go­wi­ni­schen Gene­ra­tion” bezeich­nete. Ähn­lich waren die zahl­rei­chen und sehr sen­ti­men­talen Reak­tionen seiner Kolleg_innen und Leser­schaft über seinen plötz­li­chen und uner­war­teten Tod im 49. Lebens­jahr. Er habe, so die kroa­ti­sche Schrift­stel­lerin Olja Savičević Ivančević, “das auf­re­gende Aben­teuer des Lesens, diese kind­liche Freude am Text, in unsere Lite­ratur zurück­ge­bracht, so wie auch jede Begeg­nung mit ihm leicht zu einem Aben­teuer wurde”, und das bos­ni­sche Ver­lags­haus Buy­book ver­ab­schie­dete ihn mit den Worten: “Der letzte Nomade der süd­sla­wi­schen Lite­ratur und der char­man­teste Kapitän des unsi­cheren Segelns ist von uns gegangen.” Noch 2020 erschien eine Gesamt­aus­gabe seines Werks im kroa­ti­schen Verlag V.B.Z, wäh­rend seine fünf Romane in meh­reren Ver­lagen erschienen sind, wie etwa im bos­ni­schen Verlag Buy­book und im ser­bi­schen Verlag Booka.

 

Ein Leben auf der Reise

 

Bekim Sejra­nović wurde 1972 in Brčko, Bos­nien-Her­ze­go­wina, geboren. Auf­ge­wachsen bei seinen Groß­el­tern zog er alleine mit 12 Jahren nach Rijeka, Kroa­tien, in die Stadt, in die “lau­fend arme Leute aus Bos­nien kamen und ihrem Leben geraubt wurden” (aus Nigdje, niot­kuda). Dort ver­brachte er seine prä­gendsten Lebens‑, Schul- und Stu­di­en­jahre. Sein Leben in Kroa­tien fand jedoch mit Beginn des Krieges in den 1990er Jahren ein abruptes Ende. Nachdem er offi­ziell zum Staats­bürger Bos­nien-Her­ze­go­winas wurde, verlor er seine Auf­ent­halts­be­rech­ti­gung in Kroa­tien und musste schluss­end­lich sein Stu­dium der Kroa­tistik abbre­chen. Nachdem er meh­rere Monate illegal im Land gelebt hatte und nicht ins kriegs­ge­plagte Bos­nien-Her­ze­go­wina zurück­kehren konnte, flüch­tete er 1993 aus dem ehe­ma­ligen Jugo­sla­wien nach Nor­wegen. Dort schloss er ein Stu­dium der süd­sla­wi­schen Lite­ratur ab, arbei­tete als Gerichts­dol­met­scher, unter­rich­tete Nor­we­gisch für Ausländer_innen und über­setzte meh­rere Werke aus dem Nor­we­gi­schen. Später lebte er unter anderem in Ljubljana, Slo­we­nien und Zagreb, Kroa­tien. Er ver­starb am 21. Mai 2020 in Banja Luka, Bosnien-Herzegowina.

 

Nir­gends, aus dem Nichts – Erzäh­lungen eines Außenseiters

 

Bekannt wurde Bekim Sejra­nović mit der Ver­öf­fent­li­chung seines ersten Romanes Nigdje, niot­kuda, wofür er 2009 den „Meša Seli­mović-Lite­ra­tur­preis“ für den besten Roman aus Bos­nien-Her­ze­go­wina, Kroa­tien, Ser­bien und Mon­te­negro erhielt. 2021 erschien dieser erst­mals in eng­li­scher Über­set­zung („From Nowhere to Nowhere“, über­setzt von Will Firth). Über­dies ist die Ver­öf­fent­li­chung der fran­zö­si­schen Über­set­zung seines Romans Tvoj Sin Huck­le­berry Finn für Ende dieses Jahres geplant („Ton fils Huck­le­berry Finn“, über­setzt von Chloé Billon). Bisher wurde sein Werk noch nicht ins Deut­sche über­setzt, was ange­sichts seiner Popu­la­rität im süd­sla­wi­schen Raum ver­wun­dern lässt. In seinem ersten Roman lassen sich der Stil und die grund­le­genden Themen des Werkes von Sejra­nović erkennen: Flucht, Ent­wur­ze­lung, Fragen der eigenen Iden­tität, Nicht­zu­ge­hö­rig­keit, Suche, Schmerz, Ver­lust, Ver­letz­lich­keit und Nost­algie. In diesem auto­bio­gra­phi­schen Roman führt uns der Ich-Erzähler von seiner Kind­heit in Brčko, seiner Jugend­zeit in Rijeka bis zum Neu­an­fang seines Lebens in Nor­wegen. Der Roman beginnt mit einem Begräbnis seines Onkels, das er mit seinem Groß­vater besucht. Dies kon­sti­tu­iert zugleich die Rah­men­hand­lung, in die sich dia­chrone epi­so­den­hafte Rück­blicke ein­betten. Diese Erzäh­lungen haben wie­derum selbst oft Begräb­nisse zum Inhalt. Wenn der Ich-Erzähler aus Nor­wegen zurück nach Kroa­tien und Bos­nien-Her­ze­go­wina reist, tut er dies oft, um Begräb­nissen bei­zu­wohnen. Mit dem Tod jedes Freundes oder Fami­li­en­mit­gliedes schreitet die eigene Ent­wur­ze­lung voran und der Ich-Erzähler findet sich im Nichts wieder:

 

„Ich gehe die Straße ent­lang. Die ein­zige Straße, die ich jemals meine eigene nennen konnte. Aber nichts ist mehr wie vorher, weder ich noch die Straße. Die Straße hat nun auch einen neuen Namen, und für mich ist ledig­lich der Name noch übrig­ge­blieben. Und viel­leicht hat sich nichts ver­än­dert, viel­leicht war immer alles so, viel­leicht wider­setzt sich mein Gedächtnis der Wahr­heit. Und ich weiß selbst nicht einmal, was mich mehr ver­letzt: die Erin­ne­rung oder die Wahr­heit. Ich glaube nicht an die Erin­ne­rung und kann die Wahr­heit nicht ertragen.“

 

Auch mit seiner Rück­kehr nach Nor­wegen ver­bleibt er in einer Außen­sei­ter­rolle. Der Ich-Erzähler beob­achtet die Men­schen um sich, kom­men­tiert sie mit bru­taler Ehr­lich­keit, reflek­tiert die Vor­ur­teile, mit denen er selbst in der nor­we­gi­schen Gesell­schaft kon­fron­tiert wird. Die Men­schen, mit denen er sich umgibt, sind ebenso Außen­seiter: Geflüch­tete aus Bos­nien-Her­ze­go­wina, ein zwie­lich­tiger Schwede, der Frauen mit­hilfe von Alkohol abschleppt, oder eine allein­er­zie­hende Mutter, die die Woh­nung ihres Mannes ver­lassen musste. Diese Figuren erscheinen jedoch nur flüchtig, wie auch ins­ge­samt die Erzähl­weise von Flüch­tig­keit geprägt ist. Bei­nahe alle Erzäh­lungen finden auf Reisen statt. Die Hand­lungs­orte wech­seln häufig und werden nur flüchtig beschrieben. Die Figuren kommen und gehen, werden bis auf wenige Aus­nahmen nicht detail­liert beschrieben, und ent­wi­ckeln sich nicht. Die ein­zigen Kon­stanten sind der Ich-Erzähler, seine nost­al­gi­schen Gedanken und das per­ma­nente Gefühl, nicht dazu zu gehören:

 

„Ich schämte mich nicht für das, was ich war, für meine Wur­zeln, Hin­ter­gründe, Akzente, Voka­beln oder für meine Klei­dung, son­dern wegen der Ableh­nung, dem Gefühl, nicht aus­zu­rei­chen und meiner Zuge­hö­rig­keit zu nichts und niemandem.“

 

Trotz des melan­cho­li­schen Unter­tons sind Sejra­no­vićs Erzäh­lungen oft poin­tiert, humor­voll und gedan­ken­reich. Als der in Rijeka befind­liche Ich-Erzähler in seinem Stu­den­ten­aus­weis in der Rubrik „Natio­na­lität“ den Begriff „Jugo­slawe“ durch­streicht und durch „Kroate“ ersetzt, um den Stu­di­en­ge­bühren zu ent­gehen, kom­men­tiert der Direktor: „So ein­fach wird man nicht Kroate!“ Die Absur­dität der Natio­na­li­tä­ten­po­litik sowie der Kriegs­er­eig­nisse im ehe­ma­ligen Jugo­sla­wien wird in diesem Roman häufig ent­blößt. Anzu­merken ist jedoch, dass Leser_innen sich in dessen kom­plexer Struktur mit­unter ähn­lich ver­loren fühlen, wie dies der Ich-Erzähler in vielen Situa­tionen seines Lebens beklagt.

 

Die Save als Sehnsuchtsort

 

Der melan­cho­li­sche Ton des Erzäh­lens wird vor allem dann unter­bro­chen, wenn der Ich-Erzähler von dem bos­nisch-kroa­ti­schen Grenz­fluss, der Save, spricht. An ihrem Ufer sind die schönsten Erleb­nisse seiner Kind­heit ange­sie­delt, zugleich weckt dieser Fluss jedoch auch Erin­ne­rungen an seinen absenten Vater. Dieser war der Kapitän eines Schiffes, das Schlamm und Sand aus dem Fluss schleppte. Das Bild der Save als Sehn­suchtsort bildet eine Kon­ti­nuität zu anderen Werken Sejra­no­vićs. In Tvoj sin Huck­le­berry Finn erzählt der Ich-Erzähler von seinem Kind­heits­traum, diesen Fluss mit einem Boot ent­lang­zu­fahren. Er beschreibt auch eine gemeinsam mit einem nor­we­gi­schen Musiker und einem japa­ni­schen Regis­seur tat­säch­lich unter­nom­mene Reise auf der Save, auf der sich der Japaner heillos in eine ser­bi­sche Kell­nerin ver­liebt. Diese ist in einem Doku­men­tar­film fest­halten (abrufbar hier). In seinem letzten Werk Dnevnik jednog nomada, das als Tage­buch kon­zi­piert ist, setzen sich die bis­he­rigen Themen fort und Sejra­nović schreibt über sein Leben in Nor­wegen: „Auch nach zwanzig Jahren bin ich hier noch ein Aus­länder. In Slo­we­nien, Kroa­tien und Bos­nien oder anderswo auf der Welt bin ich Aus­länder. Im ewigen Exil.“ Nur auf der Save war er zu Hause. Nun, Bekim, segle in die ewige Ruh!

 

Lite­ratur

Sejra­nović, Bekim: Moder­nizam u romanu Isušena kal­juža Janka Polića Kamova (Dt.: Moder­nismus im Roman Isušena kal­juža von Janko Polić Kamov). Rijeka 2001.

Sejra­nović, Bekim: Fasung (Dt.: „Fas­sung“).  Zagreb 2002.

Sejra­nović, Bekim: Nigdje, niot­kuda (Dt.: „Nir­gends, aus dem Nichts“). Zagreb 2008.

Sejra­nović, Bekim: Ljepši kraj (Dt.: „Schö­neres Ende“). Zagreb 2010.

Sejra­nović, Bekim: San­dale (Dt. „San­dalen“). Zagreb 2013.

Sejra­nović, Bekim: Tvoj sin Huck­le­berry Finn (Dt. „Dein Sohn Huck­le­berry Finn”). Zagreb 2015.

Sejra­nović, Bekim: Dnevnik jednog nomada (Dt. „Tage­buch eines Nomaden“). Zagreb 2017.