Nirgends, aus dem Nichts – über das Gesamtwerk von Bekim Sejranović
Am 21. Mai 2020 setzte die bosnische Botschaft in Prag die Staatsflagge, wider die geltenden diplomatischen Protokolle, auf Halbmast. Denn gestorben war weder etwa ein Mitglied des Staatspräsidiums noch wurde an tragische Ereignisse erinnert. Gestorben war der bosnische und kroatische Schriftsteller und Übersetzer Bekim Sejranović, den die Botschafterin, Martina Mlinarević, selbst Dichterin, in ihrer Mitteilung als den “begabtesten Schriftsteller der jüngeren bosnisch-herzegowinischen Generation” bezeichnete. Ähnlich waren die zahlreichen und sehr sentimentalen Reaktionen seiner Kolleg_innen und Leserschaft über seinen plötzlichen und unerwarteten Tod im 49. Lebensjahr. Er habe, so die kroatische Schriftstellerin Olja Savičević Ivančević, “das aufregende Abenteuer des Lesens, diese kindliche Freude am Text, in unsere Literatur zurückgebracht, so wie auch jede Begegnung mit ihm leicht zu einem Abenteuer wurde”, und das bosnische Verlagshaus Buybook verabschiedete ihn mit den Worten: “Der letzte Nomade der südslawischen Literatur und der charmanteste Kapitän des unsicheren Segelns ist von uns gegangen.” Noch 2020 erschien eine Gesamtausgabe seines Werks im kroatischen Verlag V.B.Z, während seine fünf Romane in mehreren Verlagen erschienen sind, wie etwa im bosnischen Verlag Buybook und im serbischen Verlag Booka.
Ein Leben auf der Reise
Nirgends, aus dem Nichts – Erzählungen eines Außenseiters
Bekannt wurde Bekim Sejranović mit der Veröffentlichung seines ersten Romanes Nigdje, niotkuda, wofür er 2009 den „Meša Selimović-Literaturpreis“ für den besten Roman aus Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Serbien und Montenegro erhielt. 2021 erschien dieser erstmals in englischer Übersetzung („From Nowhere to Nowhere“, übersetzt von Will Firth). Überdies ist die Veröffentlichung der französischen Übersetzung seines Romans Tvoj Sin Huckleberry Finn für Ende dieses Jahres geplant („Ton fils Huckleberry Finn“, übersetzt von Chloé Billon). Bisher wurde sein Werk noch nicht ins Deutsche übersetzt, was angesichts seiner Popularität im südslawischen Raum verwundern lässt. In seinem ersten Roman lassen sich der Stil und die grundlegenden Themen des Werkes von Sejranović erkennen: Flucht, Entwurzelung, Fragen der eigenen Identität, Nichtzugehörigkeit, Suche, Schmerz, Verlust, Verletzlichkeit und Nostalgie. In diesem autobiographischen Roman führt uns der Ich-Erzähler von seiner Kindheit in Brčko, seiner Jugendzeit in Rijeka bis zum Neuanfang seines Lebens in Norwegen. Der Roman beginnt mit einem Begräbnis seines Onkels, das er mit seinem Großvater besucht. Dies konstituiert zugleich die Rahmenhandlung, in die sich diachrone episodenhafte Rückblicke einbetten. Diese Erzählungen haben wiederum selbst oft Begräbnisse zum Inhalt. Wenn der Ich-Erzähler aus Norwegen zurück nach Kroatien und Bosnien-Herzegowina reist, tut er dies oft, um Begräbnissen beizuwohnen. Mit dem Tod jedes Freundes oder Familienmitgliedes schreitet die eigene Entwurzelung voran und der Ich-Erzähler findet sich im Nichts wieder:
„Ich gehe die Straße entlang. Die einzige Straße, die ich jemals meine eigene nennen konnte. Aber nichts ist mehr wie vorher, weder ich noch die Straße. Die Straße hat nun auch einen neuen Namen, und für mich ist lediglich der Name noch übriggeblieben. Und vielleicht hat sich nichts verändert, vielleicht war immer alles so, vielleicht widersetzt sich mein Gedächtnis der Wahrheit. Und ich weiß selbst nicht einmal, was mich mehr verletzt: die Erinnerung oder die Wahrheit. Ich glaube nicht an die Erinnerung und kann die Wahrheit nicht ertragen.“
Auch mit seiner Rückkehr nach Norwegen verbleibt er in einer Außenseiterrolle. Der Ich-Erzähler beobachtet die Menschen um sich, kommentiert sie mit brutaler Ehrlichkeit, reflektiert die Vorurteile, mit denen er selbst in der norwegischen Gesellschaft konfrontiert wird. Die Menschen, mit denen er sich umgibt, sind ebenso Außenseiter: Geflüchtete aus Bosnien-Herzegowina, ein zwielichtiger Schwede, der Frauen mithilfe von Alkohol abschleppt, oder eine alleinerziehende Mutter, die die Wohnung ihres Mannes verlassen musste. Diese Figuren erscheinen jedoch nur flüchtig, wie auch insgesamt die Erzählweise von Flüchtigkeit geprägt ist. Beinahe alle Erzählungen finden auf Reisen statt. Die Handlungsorte wechseln häufig und werden nur flüchtig beschrieben. Die Figuren kommen und gehen, werden bis auf wenige Ausnahmen nicht detailliert beschrieben, und entwickeln sich nicht. Die einzigen Konstanten sind der Ich-Erzähler, seine nostalgischen Gedanken und das permanente Gefühl, nicht dazu zu gehören:
„Ich schämte mich nicht für das, was ich war, für meine Wurzeln, Hintergründe, Akzente, Vokabeln oder für meine Kleidung, sondern wegen der Ablehnung, dem Gefühl, nicht auszureichen und meiner Zugehörigkeit zu nichts und niemandem.“
Trotz des melancholischen Untertons sind Sejranovićs Erzählungen oft pointiert, humorvoll und gedankenreich. Als der in Rijeka befindliche Ich-Erzähler in seinem Studentenausweis in der Rubrik „Nationalität“ den Begriff „Jugoslawe“ durchstreicht und durch „Kroate“ ersetzt, um den Studiengebühren zu entgehen, kommentiert der Direktor: „So einfach wird man nicht Kroate!“ Die Absurdität der Nationalitätenpolitik sowie der Kriegsereignisse im ehemaligen Jugoslawien wird in diesem Roman häufig entblößt. Anzumerken ist jedoch, dass Leser_innen sich in dessen komplexer Struktur mitunter ähnlich verloren fühlen, wie dies der Ich-Erzähler in vielen Situationen seines Lebens beklagt.
Die Save als Sehnsuchtsort
Der melancholische Ton des Erzählens wird vor allem dann unterbrochen, wenn der Ich-Erzähler von dem bosnisch-kroatischen Grenzfluss, der Save, spricht. An ihrem Ufer sind die schönsten Erlebnisse seiner Kindheit angesiedelt, zugleich weckt dieser Fluss jedoch auch Erinnerungen an seinen absenten Vater. Dieser war der Kapitän eines Schiffes, das Schlamm und Sand aus dem Fluss schleppte. Das Bild der Save als Sehnsuchtsort bildet eine Kontinuität zu anderen Werken Sejranovićs. In Tvoj sin Huckleberry Finn erzählt der Ich-Erzähler von seinem Kindheitstraum, diesen Fluss mit einem Boot entlangzufahren. Er beschreibt auch eine gemeinsam mit einem norwegischen Musiker und einem japanischen Regisseur tatsächlich unternommene Reise auf der Save, auf der sich der Japaner heillos in eine serbische Kellnerin verliebt. Diese ist in einem Dokumentarfilm festhalten (abrufbar hier). In seinem letzten Werk Dnevnik jednog nomada, das als Tagebuch konzipiert ist, setzen sich die bisherigen Themen fort und Sejranović schreibt über sein Leben in Norwegen: „Auch nach zwanzig Jahren bin ich hier noch ein Ausländer. In Slowenien, Kroatien und Bosnien oder anderswo auf der Welt bin ich Ausländer. Im ewigen Exil.“ Nur auf der Save war er zu Hause. Nun, Bekim, segle in die ewige Ruh!
Literatur
Sejranović, Bekim: Modernizam u romanu Isušena kaljuža Janka Polića Kamova (Dt.: Modernismus im Roman Isušena kaljuža von Janko Polić Kamov). Rijeka 2001.
Sejranović, Bekim: Fasung (Dt.: „Fassung“). Zagreb 2002.
Sejranović, Bekim: Nigdje, niotkuda (Dt.: „Nirgends, aus dem Nichts“). Zagreb 2008.
Sejranović, Bekim: Ljepši kraj (Dt.: „Schöneres Ende“). Zagreb 2010.
Sejranović, Bekim: Sandale (Dt. „Sandalen“). Zagreb 2013.
Sejranović, Bekim: Tvoj sin Huckleberry Finn (Dt. „Dein Sohn Huckleberry Finn”). Zagreb 2015.
Sejranović, Bekim: Dnevnik jednog nomada (Dt. „Tagebuch eines Nomaden“). Zagreb 2017.