Das Spiel mit den Zeiten
Laurus. Eine postmoderne Heiligenvita, die auf wundersame Weise vom Leben und der Relativität der Zeiten erzählt. Der erste Roman Evgenij Vodolazkins in deutscher Übersetzung erschien 2016.
Ein klassischer Historienroman?
Erzählt wird die Biografie eines Wunderheilers, der mit suspekten, teilweise aberwitzigen Heilmitteln und Ratschlägen den leidenden Menschen Linderung verschafft und durch fast schon suizidale Selbstkasteiung zu einem lebenden Heiligen stilisiert wird. Mit der kompositorischen Einteilung des Romans in verschiedene Bücher, die jeweils bestimmte Phasen im Leben des Protagonisten schildern, greift Vodolazkin auf formale Aspekte des mittelalterlichen Genres der Heiligenvita, der sogenannten Hagiographie, zurück. Mithilfe des Protagonisten wird der Alltag der europäischen Kultur des Spätmittelalters facettenreich und in seiner inneren Logik glaubhaft inszeniert. Ein klassischer Historienroman in Sujet und Form, könnte man annehmen. Mitnichten! Laurus spielt mit solchen Konventionen. Das gleichzeitige Einbeziehen unterschiedlicher Epochen, durch Prophezeiungen wie beispielsweise über die Entdeckung Amerikas, lässt die Epochen und Jahrhunderte miteinander verschmelzen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden zu einem mehrdimensionalen Netz verflochten, wodurch geradlinig verlaufende und containerhafte Vorstellungen zeitlicher Epochen überwunden werden. Der Autor selbst bezeichnet seinen Roman als einen „ahistorischen“, denn er emanzipiert sich gegenüber der Zeit.
Sprache als Speicher der Zeiten
Auf exemplarische Weise bedient sich Vodolazkin des Phänomens, dass sich Zeit in den Wortschatz der Sprache einschreibt. Die Gegenwartssprache des Autors geht mit Zitaten aus historischen Quellen – wie beispielsweise mittelalterlichen Gesetzestexten, religiösen Schriften, Hagiographien, Chroniken – und sowjetischem Vokabular eine stilistische Symbiose ein. Verwirrend allerdings ist, dass man sich beim Layout dazu entschlossen hat, Zitate aus mittelalterlichen Quellen kursiv abzudrucken, um den Leser*innen eine Orientierungshilfe anzubieten. Hat man nun aber das Nachwort nicht vor dem Roman gelesen, erkennt man die Zitate nicht als solche und sucht erfolglos nach einer zugrundeliegenden Logik. Die Verwendung von Begriffen wie „Intimhygiene“, „trübe Plastikflaschen“, „Relativitätstheorie“ und das Wissen der Figuren, dass sie sich im „Mittelalter“ befinden, wirken wie Stromschwankungen, die dieses Hologramm einer mittelalterlichen Darstellung immer wieder verzerren. In einem Interview erklärt der Autor, dass er damit die „Illusion der Zeit“ sichtbar machen möchte.
Die Summe meiner einzelnen Teile
Diese Strategie geht auf. Nicht nur sprachlich, sondern auch im Aufzeigen der verschiedenen Geschwindigkeiten der Zeit, die sich in den Innovations- und Transformationsprozessen von Artefakten, Praktiken und Denkmustern menschlicher Lebensbereiche manifestieren. Die Entfernung zwischen „Heute“ und „Damals“ ist nicht jene, die wir annehmen, sondern eine relative. Die Zeit zerfällt in kleine Einheiten oder fragmentarische Fetzen. Vodolazkin überträgt diese Idee auf das biografische Konzept seines Protagonisten. Die an die Hagiographie angelehnte Einteilung des Romans wird nicht teleologisch, sondern fragmentarisch-mosaikhaft verstanden:„Ich war Arseni, Ustin und Amwrossi, und jetzt bin ich Laurus. Mein Leben wurde von vier ganz verschiedenen Menschen gelebt, mit verschiedenen Körpern und verschiedenen Namen. […] Mein Leben gleicht einem Mosaik, es zerfällt in einzelne Teile.“ Zur Mosaikhaftigkeit trägt auch die Mehrfachkodierung des Namens Laurus bei. Namenspatron des späten Arsenij ist der Heilige Laurus, der im Christentum gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Florus am 18. August als Märtyrer verehrt wird. An diesem Tag erhielt Arsenij die Mönchsweihe und seinen Namen. Zugleich ist „Laurus“ auch die lateinische Bezeichnung für den immergrünen Lorbeer, der neben weiteren symbolischen Bedeutungen vor allem für Unsterblichkeit steht.
Das gekonnte Spiel mit den Leser*innen
An Glaubhaftigkeit gewinnt der Roman auch durch einen grundsätzlich sachlich-nüchternen Erzählstil, durch den die religiöse und abergläubische Weltvorstellung als ernst zu nehmende Realität des damaligen Russland erscheint und nicht ironisch in Zweifel gezogen wird. Erstaunlich ist, wie die prosaische und sehr strukturierte Erzählweise Vodolazkins die Emotionen und Gedanken der Figuren nicht nur beschreibt, sondern auch anhand von Körperhaltung und Verhaltensweisen meisterhaft in Szene setzt. Dadurch entsteht immer wieder hohe szenische und räumliche Plastizität.
Die professionellen Spieler*innen
Laurus ist der zweite Roman Evgenij Vodolazkins, der, 1964 in Kiew geboren, seit 1990 als Wissenschaftler und Spezialist für altrussische Literatur am Institut für Russische Literatur der Akademie der Wissenschaften (dem berühmten „Puškin-Haus“) in Sankt Petersburg arbeitet. Auch als Autor ist der ausgewiesene Mittelalterspezialist seit einigen Jahren sehr erfolgreich, was zahlreiche Preise und Übersetzungen, darunter auch die deutsche Übersetzung seines Romans Laurus beim Zürcher Dörlemann Verlag, zeigen.
Olga Radetzkaja, Übersetzerin und Redakteurin der Zeitschrift Osteuropa, hat sich der Herausforderung gestellt, diesen stilistisch hochkomplexen Roman für eine deutschsprachige Leserschaft zu rekonstruieren. Textstellen, die aus mittelalterlichen russischen Quellen zitiert wurden, werden durch deutsche Entsprechungen vor allem aus frühneuhochdeutschen Texten des 16. Jahrhunderts ersetzt. Um im Deutschen eine dem russischen Original äquivalente Wirkung und Stimmung zu erzeugen, nutzt sie Zitate aus den Werken von Martin Luther, Hans Sachs, Sebastian Brant, Andreas Gryphius, Erhard Hegenwald und Bernhard von Breidenbach.
Die Lesarten von Laurus sind vielfältig und es bleibt jedem*r Leser*in selbst überlassen, wie er*sie diesen Roman liest: als Historienroman oder postmoderne Hagiografie, als Saga oder Prophezeiung. In jedem Fall sollte nicht unberücksichtigt bleiben, dass es ein zeitgenössischer Roman ist, der eine gegenwartsbezogene Betrachtung nicht nur zulässt, sondern fordert. Auch unsere heutige Welt mit ihrer relativ stabilen Lebensordnung befindet sich in ständiger Bedrohung, durch neuen Aberglauben oder Fanatismus in eine Instabilität mittelalterlicher Prägung abzudriften. In diesem Sinne kann Laurus auch als Appell an Toleranz und Verantwortung jedes einzelnen Menschen gelesen werden, die nicht an scheinbaren kulturellen Grenzen enden sollten.
In jedem Fall wird Vodolazkins Laurus zu einer wahrhaft wundersamen Lesereise, bei der nur von einem abzuraten wäre: die obskuren Heilmittel und fragwürdigen medizinischen Ratschläge Arsenijs in die Tat umzusetzen.
Literatur:
Vodolazkin, Evgenij: Laurus. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Zürich: Dörlemann Verlag, 2016.
Vodolazkin, Evgenij: Lavr. Neistoriceskij roman. Moskva: Astrel’, 2012.
Weiterführende Links:
Vachedin, Dmitry: Evgenij Vodolazkin: „Ich spüre in Russland eine neue Energie“. Beitrag in: Russia beyond the headlines. Russland und Deutschland.