Ein Interview mit Tatjana Miller
Die gebürtige Moskauerin Tatjana Miller ist Architektin, Graphikerin, Webdesignerin, Illustratorin und vor allem Malerin. Motive für ihr entsprechend vielfältiges Schaffen sammelt die Künstlerin zum einen in ihrer unmittelbaren Umgebung, in Fundstücken der Berliner Strassen oder Gesichtern der U-Bahn. Zum anderen greift sie auf uralte Mythologien zurück, deren Symbole und Schriftzeichen sie collageartige neu zusammenfügt und damit lesbare Bilder schafft.
Tatjana Millers Arbeiten waren schon in einigen Berliner Galerien zu sehen, beispielsweise im Rahmen des Kulturfestivals 48 Stunden Neukölln mit der Schaufensterinstallation Frauenkörper – Traumgestalten oder in der Galerie ART LAB mit dem Projekt Motive. novinki hat sich mit der Künstlerin bei der Vernissage ihrer neuesten Ausstellung Kaleidoskop in Berlin-Pankow getroffen.
novinki: Tanja, Du bist in Moskau geboren. Seit 1994 lebst Du in Deutschland. Das ist eine lange Zeit. In der Ankündigung zu Deiner Ausstellung im Juni schrieb das Frauenzentrum RuT: „Die russische Künstlerin Tanja Miller zeigt Ihre neuesten Arbeiten“. Bist Du eine russische Künstlerin in Deutschland?
Tatjana Miller: Zunächst möchte ich sagen, dass ich nicht in Deutschland lebe, ich lebe in Berlin. Das ist ein großer Unterschied. Ich habe auch nicht vor, in andere Städte umzuziehen.
Ein Künstler, abgesehen davon, dass er in einem bestimmten kulturellen und visuellen Kontext groß wird, muss mit der Emigration viele Sachen in seinem Leben ändern. Er muss sich in einem neuen Umfeld zurecht finden. Ein Künstler gewöhnt sich in erster Linie an einen neuen visuellen Raum, in dem er künftig arbeiten wird. Folglich ändern sich auch seine Arbeiten, nur im Rahmen seiner Themen natürlich. Deswegen kann ich von mir nicht sagen, dass ich eine russische Künstlerin bin. Das ist eine seltsame Definition. Ich weiß nicht, wer ein russischer Künstler ist. Ist das Levitan?, Šiškin? Die Nationalität ist in diesem Zusammenhang unwichtig. Wichtig ist die Schule, aus der ein Künstler hervorgegangen ist.
n.: In Deinem Webprojekt Calendar sind viele Seiten Berlin gewidmet, ist das eine Liebeserklärung an Berlin? Wie würdest Du Berlin definieren?
M.: Berlin ist eine Transitstadt: Die Menschen ziehen hier ein und ziehen hier aus. Das ist zum Glück ein ständiger Prozess des Wechsels, der Bewegung: sowohl der Menschen als auch der Ereignisse. Dank dieser Bewegung lebt die Stadt ein sehr intensives, eigenartiges Leben. In Calendar wollte ich unter anderem Berlin und das Leben in dieser Stadt wiedergeben. Ich fotografierte die Stadt, sammelte auf den Straßen das, was mich inspirierte. So sind dann aus Fundstücken der Berliner Straßen Installationen und Collagen entstanden. Natürlich nicht ausschließlich aus Fund-stücken – an einigen Tagen zeichnete ich auch. Es war ganz spannend, einen Tag, der gerade zu Ende gegangen ist, graphisch festzuhalten und so zu definieren. Gleichzeitig war es auch eine neue Erfahrung, als Webdesignerin zu arbeiten. Das hatte ich zu dieser Zeit in Berlin studiert.
n.: Zuvor hast Du in Moskau eine Kunsthochschule besucht und eine Ausbildung zur Grafikerin absolviert, danach folgte ein Architekturstudium, aber als Architektin hast Du nicht lange gearbeitet.
M.: Nein, als Architektin habe ich nicht lange gearbeitet und habe es auch in Zukunft nicht vor. Mir gefällt nicht, was und wie heutzutage gebaut wird. Ich möchte daran nicht teilhaben.
n.: Deine Bilder sind schon weit in der Welt herumgekommen: Angefangen hast Du 1991 in Sankt Petersburg, dann folgten Ausstellungen in Moskau, Novosibirsk, Budapest, Köln, Berlin… Allein im letzten Jahr eröffneten in Berlin vier Ausstellungen von Dir. Macht es für Dich einen Unterschied, für welches Publikum Du arbeitest?
M.: Als Künstlerin arbeite ich mit Publikum. Wenn ich eine Arbeit fertig habe, ist es für mich wichtig sie auszustellen, um einen Abstand von der Arbeit zu gewinnen und mich mit dem nächsten Bild zu beschäftigen. Das ist eine Art Kommunikation, ein kreativer Dialog.
Was den Lebensort meines Publikums betrifft: Meine Bilder befinden sich nicht in einem bestimmten Kontext, um nur dem Zuschauer einer bestimmten Kultur verständlich zu sein. Daher es ist für mich völlig unbedeutend, in welchem Land ich Sie ausstelle.
n.: Die Ausstellung, die im Juni 2007 im Frauenzentrum RuT zu sehen war, hatte den Titel: Frauenkörper – Traumgestalten. Bleiben wir erst bei dem Begriff ‚Traumgestalten’. In vielen Deiner Arbeiten könnte man die Figuren als Traumgestalten bezeichnen.Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Thema dieser Arbeiten und Deinen früheren Bildern?
M.: Der Titel der Ausstellung ist nicht von mir. Ich hätte die Ausstellung nicht so genannt. Das eigentliche Thema dieser Arbeiten ist „Leben und Tod“. Es geht um die Symbolik, Mythologie und um die Beziehung zwischen Leben und Tod. Es geht um die Stellung dieser wichtigen, kosmogonischen Begriffe, in verschiedenen und in erster Linie in abendländischen Kulturen. Die Mythologie beginnt in der ägyptischen Kultur, findet sich später in der griechischen Antike wieder und reicht bis in die gegenwärtige Kultur.
Was das Thema „Traum“ in meinen Arbeiten angeht… Ich beschäftige mich mit der Kunsttheorie nicht so intensiv, daher habe ich auch keine Distanz zu meinen Arbeiten, um sie zu kategorisieren. Ich weiß nur, was ich machen möchte, habe bei jeder Arbeit ein Ziel vor Augen, mehr brauche ich nicht.
n.: Wenn der Titel der Aus-stellung nicht so treffend ist, ist dann auch der Begriff ‚Frauen-körper’ an dieser Stelle falsch? Diese Arbeit stellt doch drei Frauenfiguren dar, deren Körper mit griechischen und ägyptischen Symbolen be-schriftet sind, was die Bilder lesbar macht. Auch in vielen anderen Bildern und Grafiken von Dir spielen Ornamente eine große Rolle. Woher ein solches Interesse an der Symbolik?
M.: Ich beschäftige mich schon lange mit der Symbolik und mit der Geschichte des Ornaments. Angefangen habe ich mit mexikanischen Ornamenten, später habe ich mich für die asiatischen interessiert, deshalb tauchen in vielen Grafiken und Bildern immer wieder Ornamente auf. Ornamente und Symbolik beschäftigen mich auch als die ältesten Informationsträger, die uns aus den alten Kulturen überliefert sind. Das ist eine bestimmte Sprache. Man muss diese Sprache lesen und die darin verschlüsselten Informationen verstehen können. Viele Symbole haben sich im Laufe der Mensch-heitsgeschichte bewahrt. Das spiegelt sich heute in irrationalen Ängsten wieder, z.B. waren die Schlange oder die Maus Zeichen der Götter der Unterwelt.
n.: Dabei spielt auch die Frau eine wichtige Rolle.
M.: Mich interessiert die Darstellung der Frau in der Kunst und natürlich in der Geschichte: die Zeit, als die Frau als Große Göttin dargestellt wurde und die Zeit, zu der sich das Frauenbild in der Kunst geändert hat. In den Anfängen herrschte eine duale Weltvorstellung: das Himmlische (Oben) und das Irdische (Unten) entsprechen dem Männlichen und Weiblichen. In diesem System stellt die Frau das Irdische dar, und im Unterschied zum Männlichen, das mit Hilfe einer Person dargestellt wurde, war die Darstellung der Großen Göttin vielseitig: In vielen grafischen Symbolen wurde sie als eine zweiköpfige Frau dargestellt, oder als zwei eigenständige Frauen, die gute und böse Seite der Großen Göttin symbolisierten.
Die Mutterschaft wurde als eine Gabe der Frau verstanden: Nur die Frau kann, was sonst der göttlichen Macht obliegt – Menschen zur Welt bringen. Das Schaffen neuen Lebens, das Geheimnis der Geburt und zugleich auch des Todes wurde ihr zuteil. Wie sich diese Vorstellungen von den Anfängen bis zu unserer Zeit verändert haben, ist interessant zu beobachten. Das habe ich in diesen Bildern herauszuarbeiten versucht.
n.: Neben den Ornamenten beschäftigst Du Dich auch mit dem Genre des Porträts, insbesondere mit Frauenporträts.
M.: Ich male nicht nur Frauenporträts, allerdings überwiegend. Ich finde, Frauengesichter sind einfach ausdrucksvoller. Aber es gibt natürlich auch interessante Männergesichter. Manchmal trifft man in der U-Bahn auf ein interessantes Gesicht. Es gibt einfach interessante und uninteressante Gesichter.
n.: Was ist für Dich ein „interessantes Gesicht“?
M.: Das hängt von der Aufgabe ab, die ich mir in diesem Porträt stelle. Entweder möchte ich den Charakterzug dieser Person zeigen, der im Gesicht zu sehen ist, oder den gesamten Charakter. Oder mich interessiert nur der Zusammenhang unterschiedlicher Gesichtsteile, sagen wir, Augen und Nase, also der verschiedenen Elemente, durch die wir einen Menschen erkennen. In diesem Fall möchte ich nicht den Charakter zum Ausdruck bringen, sondern die Körperteile, anhand derer wir diese Person zunächst visuell wahrnehmen. Eigentlich führen die Porträts nicht auf einzelne, konkrete Menschen zurück. Es sind eher Beobachtungen, Lebensgeschichten, auch bestimmte Charaktere, mit ihren kleinen Tragödien.
n.: Aber nicht nur Tragödien, viele Deiner Bilder sprechen von Lebensfreude, Unbefangenheit, Mut zur Farbe, was eher positiv wirkt.
M.: Ich nehme die Wirkung auf den Zuschauer sehr ernst, da Kunst im Grunde Gewalt ist. Jede Information, die in einem Kunstwerk steckt, kann für den Betrachter wichtig sein. Das kann durch Farbwahl, Bildkomposition oder das Sujet zum Ausdruck kommen. Alles zusammen hat eine unmittelbare Wirkung auf den Betrachter. Besonders, wenn er darauf nicht vorbereitet ist, nimmt er es sehr direkt und unmittelbar auf. Gerade das macht die Verantwortung von Künstlern vor dem Publikum aus. Ich bin überzeugt, dass es sie gibt, und dass sie unbedingt da sein muss.
n.: Im Internet sind auch Deine Animationsfilme zu sehen. Einem Film, auch einem Animationsfilm geht ein Dreh-buch voran. Schreibst Du deine Drehbücher selbst?
M.: Ja, das sind immer meine Geschichten.
n.: Wie entstehen diese Geschichten?
M.: Zunächst entwickle ich die Handlung: Ich zeichne sie per Hand in einen Skizzenblock: Seite für Seite entstehen Szenen. Wenn die Sujetlinie fertig ist, kommen die Figuren dazu. Darauf folgt die technische Fleißarbeit am Computer mit dem Flashprogramm.
n.: Die Geschichten entstehen also beim Zeichnen?
M.: Ja, und das nicht nur im Falle der Animationsfilme. Ich brauche einen Stift, ein Blatt Papier, ich muss mich hinsetzen und arbeiten. Ich brauche diesen Prozess. Während ich den Stift über das Blatt führe, entsteht etwas. Wenn ich aber überlege: „Was könnte ich malen?“, dann fällt mir nichts Interessantes ein . Natürlich gibt es bestimmte Themen, philosophische Themen, mit denen es mich reizt zu arbeiten. Diese sind ziemlich einfach, sogar banal, und dennoch ist kaum ein Künstler an ihnen vorbeigekommen. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist.
n.: Du bist auch Illustratorin. Deine ersten Erfahrungen als Grafikdesignerin und Illustratorin hast Du beim Kinderbuchverlag Černaja kurica und später in der Moskauer Literaturzeitschrift Adelfe gemacht. Als Malerin hast Du, wie Du selbst sagtest, ein Ziel vor Augen. Wie ist das als Illustratorin? Bist Du an den Text gebunden, oder verfügst Du über die Freiheit ihn zu interpretieren?
M.: Das ist immer individuell. Für mich ist es wichtig den Text zu präsentieren. Ich will ihn ja nicht wiederholen. Das ist Tautologie. Den gibt es ja schon in seiner ganzen Vielfältigkeit. Für mich ist es wichtig ihn einzurahmen. Ich stelle einzelne Momente und Ideen aus dem Sujet dar, die vielleicht für den Leser nicht immer ‚sichtbar’ sind. Das ist alles.
n.: Unter den Büchern, die Du illustriert hast, sind Kinder-bücher, Gedichtbände von Marina Geršenovič oder das Parabelbuch der georgischen Schriftstellerin und Wahl-berlinerin Manana Menabde Und die Zeit verging, ein philosophisches Buch. Was hat Dich dazu bewegt, dieses Buch zu illustrieren?
M.: Und die Zeit verging ist eine Geschichte über einen Menschen, mit dem immer etwas passiert. Etwas, was jedem von uns passieren kann – z.B. hat der Mensch seinen eigenen Namen vergessen. Jede dieser Parabeln endet mit dem gleichen Refrain: „Und die Zeit verging“, und diese Zeile fügt diese einzelnen Verse zu einem Buch zusammen. Mich hat die Figur dieses Menschen interessiert, weil Manana Menabde Georgierin ist und diese Geschichte auf Russisch geschrieben hat, was eigentlich nicht ihre Muttersprache ist. Diese Erzählung trägt etwas von der Melodie der georgischen Sprache in sich. Und das ist sehr schön. Deswegen wollte ich diese Figur frei von jeglicher Zugehörigkeit darstellen, sei es zu einem Geschlecht oder zu einer Nationalität. Mir war wichtig, dass die Georgier in diesem Menschen einen Georgier sehen, die Armenier einen Armenier usw. Es ist auch eine Art, die eigene Kultur aus der Perspektive der Emigration zu betrachten. So kann man in einer neuen Welt zu sich finden.
n.: Dieses Buch ist in einer sehr kleinen Auflage erschienen. Das gilt auch für die anderen Bücher, die Du illustriert hast.
M.: Ich betrachte ein Buch nicht nur als einen Text. Für mich ist das Buch auch als ein materielles , als ein künstlerisches Objekt interessant. Ich neige zu der Meinung, dass schon viel zu viel publiziert wurde. Mir gefällt aber die Variante Künstlerbuch. Diese Buchform ist schon an sich schön. Solche Bücher sind persönlicher, sie haben noch Wärme, Leben in sich. Sie sind nicht anonym.
n.: Hast Du eigene Ideen für Bücher, oder hast Du vielleicht bereits solche Bücher realisieren können?
M.: Ideen habe ich schon, ich muss nur die passenden Lettern finden. Die habe ich noch nicht. Der Text soll nicht von Hand geschrieben werden, das menschliche Auge ist nicht mehr an handschriftliche Texte gewöhnt. Es gibt sogar schon Druckgeräte für kleinere Auflagen. Und es soll ein minimalistischer Text sein – ein, zwei Zeilen, aber kein lyrischer Text. Vielleicht Parabeln oder Gleichnisse.
n.: Das Einzelne wird also zum Ganzen? So wie Deine Bilder, die auch aus verschiedenen Fragmenten zusammengesetzt sind?
M.: Ich kann nicht sagen, dass ich solche Arbeiten bewusst male. Die Installationen für Leben und Tod habe ich dagegen bewusst gemacht. Es war mir sehr wichtig, jedes Symbol an die richtige Stelle zu setzen. Alles sollte genau an einer bestimmten Stelle sitzen. Bei den meisten Arbeiten weiß ich am Anfang nicht, was daraus wird. Ich arbeite intuitiv, und erst wenn es fertig ist, schaue ich es mir an. Während der Arbeit bin ich auch selbst gespannt, was daraus wird.
n.: Für Dich ist der Prozess an sich wichtig?
M.: Ja, ich denke, das ist das Wichtigste an der Arbeit überhaupt. Ich weiß nicht, wie es den Schriftstellern beim Schreiben und beim Publizieren geht. Mich reizt der Prozess an sich. Im Prinzip ist er das Wichtigste für mich. Er ist wichtiger als das Resultat. Das Resultat ist schon ein Produkt und gehört nicht mehr mir. Aber am Prozess nimmt man unmittelbar teil. Das Schwierigste ist den Prozess zu beenden, rechtzeitig den Punkt zu setzen und zu sagen: Es ist vollbracht!
Das Interview führte Valentina Dann. Kamera: RM
Link zur virtuellen Galerie von Tanja Miller:
http://miller-design.de/start.htm