Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

“Ent­schul­di­gung, auf wel­cher Grund­lage?” Oder: Über die All­macht des Kontextes

Lev Rubin­stein (Dichter, Jour­na­list) beob­achtet in seinem dritten Essay in Folge – ver­öf­fent­licht am 28. März 2022 in der Novaja Gazeta, die an diesem Tag zum letzten Mal erschien – aktu­elle Ten­denzen im Umgang mit Sprache von Seiten der Staatsgewalt.

Er richtet das Augen­merk auf die Ver­wand­lung von Worten wie „Faschismus“ oder „Frieden“ in reine Wort­hülsen, die im heu­tigen Russ­land anschei­nend nur noch und aus­schließ­lich vom Kon­text ihrer Ver­wen­dung abhängen, und dia­gnos­ti­ziert die totale Ablö­sung der Wörter von ihrer Bedeu­tung. Eine spe­zi­fi­sche Kon­text­ab­hän­gig­keit, die auch schon in Sowjet­zeiten gegeben war – nicht jeder durfte zum Bei­spiel in jeder, von ihm indi­vi­duell gewählten Form gegen den Viet­nam­krieg der Ame­ri­kaner pro­tes­tieren, obwohl (oder weil?) der Pro­test dagegen zum offi­zi­ellen poli­ti­schen Pro­gramm gehörte –, wird nun auf die Spitze getrieben. Wo damals noch Codes und Regeln galten, herrscht heute die reine Willkür. Die Worte „Faschismus“ und „Frieden“ sind Instru­mente einer Macht ohne Sinn.

Zum Text auf Novaja Gazeta
Zum Text auf Novaja Gazeta

Anfang der 1970er Jahre beschloss eine kleine Gruppe junger “Hippie”-Männer und ‑Frauen, ihre Alters­ge­nossen und Gleich­ge­sinnte aus den weit ent­fernten Ver­ei­nigten Staaten mora­lisch zu unter­stützen, indem sie selbst­ge­malte Pla­kate mit pazi­fis­ti­schem Inhalt zeich­neten und bemalten und mit ihren Hiratniks, Kits und Arm­bän­dern zur ame­ri­ka­ni­schen Bot­schaft gingen, um ihren auf­rich­tigen Pro­test gegen den Viet­nam­krieg zum Aus­druck zu bringen.

 

Die großen Anti-Kriegs-Demons­tra­tionen, die damals in ver­schie­denen ame­ri­ka­ni­schen Städten statt­fanden, wurden in der “For­eign News­reel”, die vor den Filmen gezeigt wurde, oft wohl­wol­lend dar­ge­stellt. Also beschlossen unsere jungen Pazi­fisten, das Gleiche zu tun. Warum nicht, dachten sie. Und sie hatten Unrecht. Natür­lich. Fast unnötig zu erwähnen, dass sie bereits in den ersten Minuten nach ihrem Erscheinen in der Nähe der Bot­schaft gefasst und zur nächsten Poli­zei­sta­tion gebracht wurden.

 

Wenn man aller­dings den Stand­punkt eines naiven Aus­län­ders, eines neu­gie­rigen und wohl­wol­lenden Beob­ach­ters unserer Sitten ein­nehmen würde, könnte man zu Recht fragen: “Warum eigentlich?”

 

Hat die sowje­ti­sche Öffent­lich­keit nicht – wenn man den Zei­tungen und dem Fern­sehen Glauben schenken darf – wütenden Pro­test gegen den von ame­ri­ka­ni­schen Spe­zi­al­ein­heiten geführten Krieg geäußert?

 

Ja, das haben sie. Aber die offi­zi­elle Öffent­lich­keit hat dies auf orga­ni­sierte Weise zum Aus­druck gebracht. Alle Pro­teste, wie auch alle anderen öffent­li­chen Ver­an­stal­tungen, wurden von den ent­spre­chenden Insti­tu­tionen orga­ni­siert, und Inhalt und Form der Pla­kate und Slo­gans wurden von dort “erlassen”, wo sie auto­ri­siert wurden. Aber wie sollte man das einem ein­fäl­tigen Aus­länder erklären?

 

Es ist klar, dass die Jungs nicht wegen des Inhalts ihrer Aktion abge­führt wurden, son­dern wegen der Aktion selbst, die mit nie­mandem abge­stimmt war. Und natür­lich wegen des Aus­se­hens, das, gelinde gesagt, ganz und gar nicht den Kom­so­mol­stan­dards entsprach.

 

Und heute?

 

Erst neu­lich wurde ein Mos­kauer Akti­vist wegen eines Pla­kats mit der Über­schrift “Fascism Will Not Pass” zu einer Geld­strafe ver­ur­teilt. Zuvor war ein junger Mann wegen “Miru mir” (“Friede sei mit dir”) fest­ge­nommen worden. Eine Frau wurde in der Nähe der Christ-Erlöser-Kathe­drale wegen “Du sollst nicht töten” fest­ge­nommen. Und es gibt alles Mög­liche von dieser Sorte.

 

Die Älteren erin­nern oft an einen sehr alten sowje­ti­schen Witz, in dem jemand jemanden fragte: “Sagen Sie mal, Rabi­no­witsch, warum haben Sie bei der Mai­de­mons­tra­tion ein leeres Blatt Papier vor sich her­ge­tragen?” – “Warum etwas schreiben”, erwi­derte Rabi­no­witsch, “wenn sowieso alles klar ist?”

 

Das stammt aus einer Zeit, als der tra­di­tio­nelle rus­si­sche Logo­zen­trismus noch eini­ger­maßen intakt war. Als die Worte selbst noch etwas bedeu­teten und ihr Fehlen Fragen auf­warf, auf die man manchmal mehr oder weniger wit­zige Ant­worten geben konnte, wie im Fall dieser berühmten Anek­dote. Der Fall der Hippie-Gruppe, die vor der Bot­schaft pro­tes­tierte, erschien in diesem Kon­text absurd. Das war es auch.

 

Aber heute, vor ein paar Wochen erst, wurde ein Mäd­chen ver­letzt, weil es ein leeres A‑4-Blatt in der Hand hielt. Das heißt, sie hat buch­stäb­lich diese alte Anek­dote neu inszeniert.

 

Der Unter­schied besteht darin, dass sich in der Zeit der Anek­dote die Frage stellte, was genau auf ein leeres Blatt Papier geschrieben werden kann, wenn über­haupt etwas darauf geschrieben wurde.

 

Heute stellen sich diese Fragen über­haupt nicht mehr. Denn weder der Inhalt noch die Form der Erklä­rung ist für die­je­nigen, an die sie angeb­lich gerichtet ist, d.h. für die Behörden der ver­schie­denen Bereiche und Ebenen, auch nur im Geringsten interessant.

 

Und die aus dem glei­chen alten Witz ent­lehnte Formel – “Alles ist schon klar” – ist zu einer uni­ver­sellen Hand­lungs­an­lei­tung für alle mög­li­chen “silo­viki” (Instanzen der Staats­ge­walt) <…> geworden.

 

“Ent­schul­di­gung, aber mit wel­cher Begrün­dung?” – fragte meine Freundin einen Poli­zisten, der sie gebeten hatte, ihm den Inhalt ihrer Tasche zu zeigen. Es war an einem Sonntag unweit des Puschkin-Platzes. Der Poli­zist ant­wor­tete mit wahr­haft römi­schem Lako­nismus. “Das wissen Sie selbst”, sagte er.

 

Auf einem Blatt Papier kann stehen: “Wir sind für den Frieden”, “Zwei Worte” und andere mehr oder weniger phan­ta­sie­volle Bei­spiele für volks­tüm­li­chen Kon­zep­tua­lismus. Sie können sich über die Tat­sache lustig machen, dass ein anti­fa­schis­ti­sches Plakat “Aktionen dis­kre­di­tieren” kann, so viel Sie wollen. Und wir sollten dies tun, und sei es nur, um zu ver­su­chen, ange­mes­sene Vor­stel­lungen von Wör­tern und ihren Bedeu­tungen in uns selbst zu bewahren. Aber das ist auch schon alles.

 

Den Behörden, die ver­schie­dene Wörter und Phrasen in den will­kür­lichsten Bedeu­tungen ver­wenden und jedes Mal diese Bedeu­tungen glauben machen wollen, ist es letzt­lich voll­kommen egal, was auf diesen Zet­teln steht und ob über­haupt etwas darauf steht. Wie Lager­hunde reagieren sie nicht auf den Text, son­dern auf die Figur des Mannes, der das Stück Papier hält.

 

Wir beob­achten, wie die Beto­nung einer belie­bigen öffent­li­chen Äuße­rung ent­schei­dend vom Text selbst abweicht, d. h. von der Gesamt­heit der ein­zelnen Wörter mit ihrem Bedeu­tungs­spek­trum im Wort­schatz, ihren syn­tak­ti­schen Ver­bin­dungen, ihren lite­ra­ri­schen oder his­to­ri­schen Anspie­lungen. Das “Was” ist völlig unwichtig. Das “Wie” ist umso unwich­tiger. Alles, was zählt, ist “wer”, “wann”, “wo”, “aus wel­chem Anlass” und natür­lich “wer dahintersteckt”.