Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Von Briefen in Keil­schrift und schwarz­weißen Lämmern

Mit seinem 2008 erschie­nenen Debüt­roman Milostný dopis klí­novým písmem (Lie­bes­brief in Keil­schrift) avan­cierte der 1966 gebo­rene Tomáš Zmeškal quasi über Nacht zum neuen Hoff­nungs­träger der tsche­chi­schen Lite­ratur. Sein Roman über die Ange­hö­rigen einer Prager Familie bestach vor allem durch seine unge­wöhn­liche Erzähl­weise, die allerlei fremde Gat­tungen wie Briefe, Tage­buch­auf­zeich­nungen und Träume inte­grierte und sich auf kluge und sehr char­mante Weise unzäh­liger Anleihen nicht aus der tsche­chi­schen Lite­ratur bediente. Einige Kri­tiker erklärten sich den über­ra­schenden Erfolg des Buches auch mit der Fas­zi­na­tion, die von seinem Autor aus­ging. Es erweckte eine gewisse Ungläu­big­keit, dass dieser  Roman, der in einem aus­schließ­lich tsche­chi­schen Umfeld spielt und die Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts aus dem Blick­winkel einer Prager Familie erzählt, aus der Feder eines Schrift­stel­lers stammte, der zwar einen typisch tsche­chi­schen Namen trägt, aber der Sohn eines Kon­go­lesen und einer Tsche­chin ist. Von einem sol­chen Autor, der noch dazu in der eth­nisch weit­ge­hend homo­genen sozia­lis­ti­schen Tsche­cho­slo­wakei auf­ge­wachsen war, erwar­tete man, dass er auf­grund seiner beson­deren bio­gra­phi­schen Vor­aus­set­zungen auch einen beson­deren Blick auf diese jüngste tsche­chi­sche Geschichte haben müsse.

Der Roman fächert sich nicht nur in eine Viel­zahl ver­schie­dener nar­ra­tiver Formen auf, son­dern ver­eint auch meh­rere Erzähl­stränge, die auf Seiten der tsche­chi­schen Kritik zu den unter­schied­lichsten Les­arten und Inter­pre­ta­tionen Anlass gaben. Im Mit­tel­punkt steht das kom­pli­zierte und schmerz­be­haf­tete Drei­ecks­ver­hältnis von Josef, Květa und Hynek. Wäh­rend ers­tere kurz nach ihrer Heirat Anfang der 50er Jahre durch die zehn Jahre wäh­rende poli­tisch moti­vierte Inhaf­tie­rung Josefs getrennt werden, macht Hynek Kar­riere beim tsche­chi­schen  Staats­si­cher­heits­dienst. Hynek, der mit der Unter­su­chung von Josefs Fall betraut ist, nutzt Květas Not­lage und ihre Sorge um den Ehe­mann schamlos aus und drängt sie zu einer von Abhän­gig­keit und gleich­zei­tiger Anzie­hung getra­genen Bezie­hung. Er droht ihr, ihren Mann für immer ver­schwinden und ihre Tochter in ein Heim bringen zu lassen, falls sie ihm nicht zu Willen ist. Bleibt Květa zu Beginn keine andere Wahl, beginnt sie später para­do­xer­weise den Schmerzen, der Ernied­ri­gung immer mehr abzu­ge­winnen. Hynek ist sich dessen bewusst – und genießt die Kon­trolle, die er durch abwech­selnde Zuwen­dung und Bestra­fung über Květa gewinnt. Ihre Kon­takte enden erst mit Josefs Ent­las­sung im Jahr 1960. Die Ehe­leute ver­su­chen, ihr gemein­sames Leben wieder auf­zu­nehmen, aber als Josef durch einen anonymen Brief erfährt, dass seine Frau, wäh­rend er im Gefängnis saß, aus­ge­rechnet mit seinem Pei­niger ein jah­re­langes Ver­hältnis geführt hat, kommt es zum end­gül­tigen Bruch. Er kann seiner Frau nicht ver­zeihen. Über Jahre hinweg ver­harren beide im sprach­losen status quo, er lebt im Wochen­end­haus der Familie und die Tochter und später der Enkel werden zum ein­zigen Ver­bin­dungs­glied zwi­schen ihm und seiner Frau. Erst ein Lie­bes­brief in Keil­schrift, den die Tochter nach dem Tod Josefs in dessen Hin­ter­las­sen­schaften ent­deckt und von einem Spe­zia­listen ent­zif­fern lässt, offen­bart, dass er trotz seines beharr­li­chen und ver­letzten Schwei­gens all die Jahre hin­durch eine tiefe Liebe für seine Frau emp­funden hat. Dieses Pro­dukt seines ein­zigen Hobbys, näm­lich der Beschäf­ti­gung mit unbe­kannten Schrift­sys­temen, wird so zur Chiffre für die Unmög­lich­keit, seine Gefühle ver­ständ­lich mit­zu­teilen, geschweige denn, dem Ver­langen nach Ver­söh­nung nachzugeben.

Zmeškal zeichnet das Ein­dringen des poli­ti­schen Sys­tems ins Pri­vate stel­len­weise mit kaum zu ertra­gender Genau­ig­keit. Der Maso­chismus, der die Bezie­hung zwi­schen Květa und dem Schergen ihres Mannes prägt, illus­triert die P e r v e r s i o n  d e r  M a c h t – die Staats­ge­walt macht nicht einmal vor den intimsten Lebens­be­rei­chen des Ein­zelnen halt. Auf fast por­no­gra­phi­sche Art und Weise erzählt er, wie das System sexu­elle Abhän­gig­keiten schafft, um Men­schen poli­tisch gefügig zu machen, wie sich die Opfer am Ende selbst schuldig fühlen für das, was ihnen wider­fahren ist. Dabei ist Zmeškal klug genug, nicht einer simplen Per­so­ni­fi­zie­rung des Bösen auf den Leim zu gehen – denn immer haben die Pei­niger neben ihren poli­ti­schen und ideo­lo­gi­schen auch ganz banale, per­sön­liche Motive.

Die Geschichte von Josef und Květa wird durch wei­tere, lyrisch-refle­xive Erzähl­stränge ergänzt. Die Art und Weise, wie Zmeškal Ele­mente in den Text ein­flicht, die ver­meint­lich nichts mit der eigent­li­chen Hand­lung oder dem Figu­ren­en­semble zu tun haben, erin­nert dabei fast an die Romane Milan Kun­deras. Dort sind phi­lo­so­phi­sche Erör­te­rungen, ja ganze Essays oder Musik­stücke in die Roman­hand­lung inte­griert – man denke nur an das „Kleine Ver­zeichnis unver­stan­dener Wörter“, von dem Die uner­träg­liche Leich­tig­keit des Seins immer wieder unter­bro­chen wird. Im Lie­bes­brief in Keil­schrift findet sich eine Erzäh­lung über einen Freund Josefs und Květas, einen Psych­iater, der die Ursa­chen mensch­li­cher Grau­sam­keit erforscht. Sie werden ergänzt von bio­gra­fi­schen Abhand­lungen oder psych­ia­tri­schen Fall­stu­dien. Großen Raum nehmen etwa die wahn­haften Visionen eines Mannes ein, der sich als gene­ti­scher Zwil­ling Adolf Hit­lers betrachtet und der Mei­nung ist, Opfer eines psy­cho­lo­gi­schen Expe­ri­ments zu sein, mit dem die Rolle der Erb­an­lagen bei der Ent­ste­hung des Bösen unter­sucht worden sei. Die unzäh­ligen his­to­ri­schen, lite­ra­ri­schen, psy­cho­lo­gi­schen und phi­lo­so­phi­schen Anspie­lungen und Ver­weise, die vor allem diese Erzähl­stränge prägen, erschließen sich unter Umständen erst bei der zweiten oder dritten Lektüre.

All diese ein­zelnen Ele­mente ver­bindet Zmeškal zu einer laby­rin­thi­schen Erzäh­lung. Beständig breitet der Text neue Fragen aus, mit deren Beant­wor­tung er sich zumeist viel Zeit lässt. Von der ersten Seite an legt Změškal dabei fal­sche Fährten, erweckt den Ein­druck, jeweils gerade die Geschichte zu erzählen, um die es ihm eigent­lich geht – nur um den Leser wenige Seiten später erkennen zu lassen, dass es sich erneut um eine Sack­gasse gehan­delt hat. Auch wenn das Buch stre­cken­weise stark durch­kom­po­niert wirkt, bleibt der Text doch stets span­nend – denn auch noch die letzte Seite ist not­wendig, um den Roman als Ganzes ver­stehen zu können. Erst nachdem man Zmeš­kals Irr­garten voll­ständig durch­laufen hat, begreift man die Bedeu­tung seiner ein­zelnen Bestand­teile. Wie Květa, die den Brief ihres Mannes erst ent­zif­fern lassen muss, ehe sie ihn ver­steht, so muss auch der Leser den kom­pli­zierten Aufbau des Romans gewis­ser­maßen deko­dieren, um hinter das Geheimnis von Zmeš­kals erzäh­le­ri­scher Methode zu kommen.

Wovon sich die Kri­tiker ange­sichts der Bio­gra­phie Zmeš­kals glei­cher­maßen fas­zi­niert wie irri­tiert fühlten, war neben der für einen Erst­ling beson­deren Reife des Romans (für die er 2008 den Josef-Škvor­ecký-Preis für das beste Debüt erhielt) vor allem die völ­lige Abwe­sen­heit von Exotik und Außen­sei­tertum in seinem Erzählen. Erst das Erscheinen von Zmeš­kals zweitem Roman, Živo­topis čern­o­bí­lého jehněte (Lebens­lauf eines schwarz­weißen Lamms) beant­wor­tete die Fragen der Kritik teil­weise mehr als ein­deutig: Zum einen stellte sich heraus, dass Zmeškal dieses zweite Buch lange vor dem Lie­bes­brief in Keil­schrift geschrieben hatte. Bei seinem Erst­ling han­delte es sich also eigent­lich um sein zweites Werk. Zum anderen schien diese zweite Ver­öf­fent­li­chung die For­de­rungen der Kri­tiker nach dem beson­deren, dem anderen Blick­winkel, den sie von Zmeškal erwar­teten, ein­zu­lösen. Doch dieser begnügte sich in Lebens­lauf eines schwarz­weißen Lamms nicht damit, seine eigene Bio­gra­phie in den Roman ein­fließen zulassen, son­dern er machte das Anders­sein an sich zum Thema.

Zmeškal erzählt hier von der Kind­heit und Jugend eines Zwil­lings­paars, das in den 60er und 70er Jahren im sozia­lis­ti­schen Prag auf­wächst. In dem Glauben, dass ihre tsche­chi­sche Mutter und ihr aus einem nicht näher genannten afri­ka­ni­schen Land stam­mender Vater kurz nach der Geburt ihrer Kinder bei einem Auto­un­fall ums Leben gekommen seien, werden die Geschwister von ihrer Groß­mutter auf­ge­zogen. Ihre Namen könnten tsche­chi­scher nicht sein – sie heißen Václav und Lucie – und doch sind sie nicht wie die anderen: sie haben eine dunkle Haut. Ihr Anders­sein gründet jedoch weniger in ihnen selbst, als darin, dass die Gesell­schaft, in der sie auf­wachsen, nur scheinbar so unter­schiedslos ist, wie sie es sich auf ihre ideo­lo­gi­sche Fahne schreibt. In der Kind­heit umsorgt von ihrer behü­tenden Groß­mutter, die sie vor den Reak­tionen der Außen­welt zu schützen ver­sucht (da werden Anfein­dungen und Kom­men­tare von Eltern anderer Kinder auf dem Spiel­platz nicht erklärt, son­dern damit abgetan, die betref­fenden Per­sonen seien betrunken), sehen die Zwil­linge sich, je älter sie werden, immer stärker einer Umge­bung aus­ge­setzt, in der sie sicht­barer sind als alle anderen: Obwohl ein talen­tierter Musiker, wird Václav nicht am Kon­ser­va­to­rium auf­ge­nommen und darf seinen Wehr­dienst auch nicht bei den Mili­tär­mu­si­kern ableisten („’Beim Stu­dium deiner Papiere’, fuhr der Major fort, ‚sind wir auf dein Foto gestoßen. Und uns war gleich klar, dass wir da ein Pro­blem kriegen. (…) Ich kann dich nicht ich einer so reprä­sen­ta­tiven Ein­heit wie dem künst­le­ri­schen Musik­ensemble dienen lassen (…). Und weil die innere und inter­na­tio­nale Reak­tion nicht schläft, könnte dich jemand sehen, und dass dich jemand gesehen hat, könnte gegen unsere tsche­cho­slo­wa­ki­sche Volks­armee ver­wendet werden, und das könnte dann ihre Kampf­fä­hig­keit schwä­chen, (…) und das können wir doch nicht zulassen!“).
Lucie erfährt die Dis­kri­mi­nie­rung weniger insti­tu­tio­na­li­siert und direkt. Je älter sie wird, desto mehr miss­traut sie den Men­schen in ihrer nächsten Umge­bung. Sie glaubt, die Männer, die mit ihr zusammen seien, betrach­teten sie als Tro­phäe an ihrer Seite und als beson­ders wirk­samen Aus­druck der eigenen Unan­ge­passt­heit an die unter der sowje­ti­schen Besat­zung erstarrte Gesell­schaft. Als sie den Kon­takt zu anderen Men­schen sucht, die ihre Erfah­rungen des Nicht­da­zu­ge­hö­rens teilen und in den Semes­ter­fe­rien als Betreuerin in einem Som­mer­lager für Roma-Kinder arbeitet, heißt es, eine Schwarze wie sie sei für diese das fal­sche Vor­bild und für eine solche Tätig­keit nicht geeignet.

Beide, Václav und Lucie, begegnen diesem all­täg­li­chen Ras­sismus seltsam passiv. Als könnten sie der Ableh­nung der anderen nichts ent­ge­gen­setzen, ziehen sie sich völlig zurück. Wäh­rend Lucie an dieser selbst­ge­wählten taten­losen Iso­la­tion zugrunde geht, bedeutet sie für Václav einen Ausweg aus der Gesell­schaft, die ihn nicht annehmen will. Auch wenn die Pas­si­vität der Haupt­fi­guren kaum zu begreifen und bis­weilen schwer zu ertragen ist und das Buch sich gerade in der Schil­de­rung der Kind­heits­jahre oft belang­losen und lang­at­migen Schil­de­rungen hin­gibt, bezieht es seine beson­dere Kraft gerade daraus, dass es diesen Rückzug absolut kon­se­quent insze­niert. Die Szenen, die Václavs Auf­ent­halt in der Psych­ia­trie beschreiben, wohin er sich durch die Simu­la­tion einer endo­genen Depres­sion vor dem Mili­tär­dienst flüchtet, gehören zu den besten des Buches. Frei­lich, es ist kein neues Motiv, dass sich gerade unter den ver­meint­lich Geis­tes­kranken die Ein­zigen finden, die sich einen klaren Blick auf die gesell­schaft­liche Rea­lität erhalten haben, aber den­noch ist es ein überaus schlüs­siges Bild, dass das Irren­haus bei Zmeškal der ein­zige Ort ist, an dem Václav nicht auf­fällt und behan­delt wird wie jeder andere.

Ein wenig bedau­er­lich ist, dass Zmeškal seine zum Teil überaus inter­es­santen Neben­fi­guren so nach­lässig behan­delt, dass manche im Laufe des Romans ein­fach ver­loren gehen. So wäre etwa die Geschichte der Mutter der Zwil­linge eine, die das zuweilen etwas ein­di­men­sional auf die Haupt­fi­guren kon­zen­trierte Roman­ge­schehen um eine Dimen­sion hätte erwei­tern können, die den Rahmen des Pri­vaten über­schreitet. Wie die beiden näm­lich im Alter von 15 Jahren erfahren, ist ihre Mutter nicht bei einem Unfall ver­storben, son­dern hat, nachdem sie die Feind­se­lig­keit, die ihre Umge­bung ihr und ihren beiden dun­kel­häu­tigen Kin­dern ent­gegen brachte, nicht mehr ertragen konnte, die ganzen Jahre über eben­falls in einem Pfle­ge­heim für psy­chisch Kranke gelebt. Und doch ver­schwindet sie auf merk­wür­dige Weise aus dem Roman; der Leser erfährt nach einer ein­zelnen Begeg­nung zwi­schen ihr und ihren Kin­dern nie wieder etwas über ihren Ver­bleib oder auch nur dar­über, das sich die Zwil­linge mit dieser Begeg­nung auf irgend­eine Art und Weise beschäf­tigen. Das gleiche Schicksal ereilt auch einige andere Fami­li­en­an­ge­hö­rige, die in den ersten Kapi­teln des Buches eine nicht unbe­deu­tende Rolle spielen, dann aber nie mehr Erwäh­nung finden. Dabei hätten auch diese Figuren das Poten­zial, die pas­sive Hal­tung der Geschwister gegen­über der Into­le­ranz ihrer Umge­bung mög­li­cher­weise in Frage zu stellen: da sind die Figuren zweier Onkel, einer ist homo­se­xuell, der andere ist gelähmt und sitzt im Roll­stuhl. In beiden Fällen wird ange­deutet, dass diese Figuren sich gegen die Dis­kri­mi­nie­rung, die sie erfahren, zur Wehr setzen und dass sie für ihre Inter­essen zu kämpfen bereit sind. Den­noch ver­schwinden auch diese poten­zi­ellen Vor­bilder im Laufe des Romans. Die merk­wür­dige Lar­moyanz und Untä­tig­keit der Haupt­fi­guren gip­felt schließ­lich darin, dass – und hier löst sich auch der unge­wöhn­liche Titel des Buches ein – Lucie gewis­ser­maßen zum Opfer­lamm werden und sich selbst das Leben nehmen muss, um Václav end­lich aus seiner Pas­si­vität zu reißen und zur Emi­gra­tion zu bewegen.

Den­noch können diese Inko­hä­renzen und die manchmal unver­ständ­liche Hal­tung der Prot­ago­nisten nicht dar­über hin­weg­täu­schen, dass es sich bei Lebens­lauf eines schwarz­weißen Lamms um ein beson­deres Buch han­delt. Außer­ge­wöhn­lich ist in erster Linie, dass es ein, in der tsche­chi­schen Lite­ra­tur­szene bis­lang kaum prä­sentes Thema anspricht: In einem Land, in dem ras­sis­ti­sche Hal­tungen gegen­über Roma oder Viet­na­mesen auch nach dem Fall des Eisernen Vor­hangs an der Tages­ord­nung sind, gibt es so gut wie keine lite­ra­ri­schen Werke aus der Feder von Per­sonen, die von diesem Phä­nomen selbst betroffen sind. Wie unge­wöhn­lich eine solche Per­spek­tive noch immer ist, zeigt etwa die Affäre um den Roman Bílej kůň, žlutej drak (Weißes Pferd, gelber Drache), das 2009 unter dem Namen einer jungen, in Tsche­chien auf­ge­wach­senen Viet­na­mesin erschien. Das Buch erregte großes Auf­sehen und wurde als erster tsche­chisch­spra­chiger Roman aus der Feder einer Autorin mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund gefeiert. Die Ent­hül­lung, dass sich hinter dieser Kunst­figur ein eta­blierter tsche­chi­scher Autor ver­barg, beschäf­tigte im ver­gan­genen Jahr die Feuil­le­tons aller nam­haften Tages­zei­tungen und Zeitschriften.
Vor diesem Hin­ter­grund kann man Zmeškal für die Ent­schei­dung, seinen Lebens­lauf eines schwarz­weißen Lamms nicht als sein erstes Buch zu ver­öf­fent­li­chen, nur gra­tu­lieren. Denn andern­falls wäre über der Dis­kus­sion um den Gegen­stand des Buches und die Bio­grafie seines Autors sicher­lich über­sehen worden, dass es sich bei Zmeškal um einen außer­ge­wöhn­li­chen Erzähler han­delt. Indem er jedoch den lite­ra­risch sicher­lich aus­ge­reif­teren Lie­bes­brief in Keil­schrift zuerst ver­öf­fent­lichte, konnte er ver­meiden, dass sein Werk allein auf auto­bio­gra­fi­sche Aspekte redu­ziert wurde.

 

Tomáš Zmeškal: Milostný dopis klí­novým písmem (Lie­bes­brief in Keil­schrift), torst, Praha, 2008

Ders.: Živo­topis čern­o­bí­lého jehněte (Lebens­lauf eines schwarz­weißen Lamms), torst, Praha, 2009