Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Das Reale des Simu­la­crums – Geschichte als Ree­nact­ment im Theater

Ein Inter­view mit Milo Rau

 

Die letzten Tage der Ceauşescus heisst das letzte ‚Stück‘ des Inter­na­tional Insti­tute of Poli­tical Murder, das 2007 von Milo Rau mit Sitz in Berlin und Zürich zusammen mit Simone Eisen­ring, Jens Diet­rich, Marcel Bäch­tiger, Nina Wol­ters und Fran­ziska Dick gegründet worden ist. Das IIPM inter­es­siert sich für die mediale Insze­nie­rung his­to­ri­scher Ereig­nisse, die sich ins kol­lek­tive Unbe­wusste der Fern­seh­zu­schauer unserer Gene­ra­tion zwar tief ein­ge­graben haben, über deren Zustan­de­kommen, zumin­dest gilt das für die Ermor­dung des Ehe­paars Ceauşescu, man jedoch ziem­lich wenig weiss. Die Idee des IIPM ist es, diese Ereig­nisse zu rekon­stru­ieren und mit den Mit­teln des Thea­ters zu reinsze­nieren. Für diese Reinsze­nie­rung ver­wenden sie den Begriff des Ree­nact­ments, ein Begriff, der ursprüng­lich aus der Unter­hal­tungs­kultur stammt, aber seit einigen Jahren immer mehr in die Theater- und Kunst­szene ein­ge­wan­dert ist.
Die letzten Tage der Ceauşescus hatte 2009 Pre­miere in Buka­rest und war anschlies­send in der Schweiz (Bern, Zürich, Luzern) und Deutsch­land (Berlin) zu sehen. Novinki sprach mit dem Leiter des IIPM, Milo Rau, anläss­lich der Pre­miere des Films im Herbst 2010 zum Stück Die letzten Tage der Ceauşescus. Der Film wurde für Januar 2011 zum Solo­thurner Film­fes­tival ein­ge­laden und als einer von 8 Schweizer Spiel-/Do­ku­men­tar­filmen für den Prix de Soleure nominiert.

 

20091113a.inddnovinki: Milo, auf der Home­page eures Inter­na­tional Insti­tute of Poli­tical Murder schreibt ihr, dass es euch darum geht, mit­hilfe von Ree­nact­ments geschicht­liche, künst­le­ri­sche, pop­kul­tu­relle Ereig­nisse künst­le­risch und theo­re­tisch zu reflek­tieren. Für welche Art von Ereig­nissen inter­es­siert ihr euch? Oder anders gefragt, was müssen diese Ereig­nisse von sich aus mit­bringen, damit sie für euch künst­le­risch inter­es­sant sind?

 

Milo Rau: Wir inter­es­sieren uns ganz bewusst nicht für pri­vate, son­dern ‚nur‘ für his­to­risch gewor­dene Ereig­nisse. Die Hin­rich­tung der Ceauşescus etwa ist ein Kar­di­nal­ereignis der Fern­seh­ge­schichte. Die Bilder des Ehe­paars an dem Tisch­chen im Gerichts­saal oder dann die Bilder ihrer Lei­chen vor der Erschies­sungs­mauer haben sich mit gera­dezu iko­no­gra­fi­scher Kraft ins kol­lek­tive Unbe­wusste gebrannt. Dies hat letzt­lich wenig mit ihrer kon­kreten Bedeu­tung zu tun – denn weder hatte die rumä­ni­sche Revo­lu­tion einen Ein­fluss auf die Welt­ge­schichte (die „Wende“ war zu dem Zeit­punkt bereits voll­zogen), noch ist der Pro­zess gegen die Ceauşescus im klas­si­schen Sinn dra­ma­tisch. Aber es ist etwas an diesen Bil­dern, das mir, als ich sie zum ersten Mal im Fern­sehen sah, sofort das Gefühl gab: Hier geschieht Geschichte – und viel wich­tiger noch: Es gibt also Geschichte! Es ist sehr schwierig zu beschreiben, warum das so ist, dass es einige (und es sind nicht viele) Ereig­nisse, ‚Nach­richten‘ gibt, von denen jeder weiss, wo und wann er von ihnen erreicht worden ist. Und mit „erreicht” meine ich viel­leicht unge­fähr das, was Alt­husser mit „Anru­fung“ meint, wenn er sagt: „Die Ideo­logie ruft die Indi­vi­duen als Sub­jekte an.“ Man ist als Ein­zelner, als Sub­jekt „gemeint“ von diesen völlig objek­tiven Ereig­nissen, die keinen Zusam­men­hang mit der eigenen Lebens­ge­schichte haben – von der Mond­lan­dung, vom Fall der Türme, vom Tod Ken­nedys. Man ist „gemeint“ von der Geschichte, von diesen beiden Dik­ta­toren, von ihrem Schicksal in einem öden, länd­li­chen Gerichts­saal in einem fremden Land. Ja, man ist gemeint von etwas völlig Abs­traktem und erkennt sich darin ganz kör­per­lich als his­to­ri­sches Subjekt.

Neben diesen eher emo­tio­nalen Vor­be­din­gungen oder Qua­li­täten, die ein Ereignis für unsere Arbeit inter­es­sant machen, gibt es natür­lich auch rein fak­ti­sche: Es muss relativ gut doku­men­tiert sein, denn sonst ist ja eine Re-Insze­nie­rung nicht mög­lich. Wobei auch diese Ebene – die einer Genau­ig­keit oder Detail­treue – eher eine der mög­li­chen Inten­sität als eine wis­sen­schaft­liche ist. Es geht nicht um Wahr­heit im tech­ni­schen, son­dern um Wahr­heit, um Wieder-Holung im Kier­ke­gaard­schen Sinn. Es geht um die Wie­der­her­stel­lung einer Situa­tion, einer Ergrif­fen­heit, nicht eines kor­rekten Bedeu­tungs­zu­sam­men­hangs. Und des­halb kann es sein, dass eine ein­zige Zeu­gen­aus­sage, ein unscharfer Schnapp­schuss mehr dazu bei­trägt, um ein his­to­ri­sches Gross­ereignis zu re-enacten, als ein gewal­tiges doku­men­ta­ri­sches Archiv.

 

n.: Dann inter­es­siert euch weniger das his­to­ri­sche Ereignis selbst, son­dern eher die Frage, wie dieses Ereignis als medial Ver­mit­teltes in Erschei­nung getreten ist? Also als mediales Ereignis, als Bild, als Kame­ra­ein­stel­lung, als Bild­mon­tage, als Appell oder Anru­fung? Geht es – als Aus­gangs­punkt – um das sekun­däre, medial ver­mit­telte Erleben, dem eine eigene Aura zukommt?

 

M. R.: Das stimmt, der Aus­gangs­punkt dieser ganzen Arbeit war eine pri­vate Fernseh-Ergrif­fen­heit: Die eines 12-jäh­rigen Jungen, der Ende der 80er Jahre an Weih­nachten vor dem Fern­seher sitzt. Diese quasi-mytho­lo­gi­sche Erfah­rung hat dann auch 18 Jahre später die thea­trale Wunsch­ma­schine über­haupt erst in Gang gesetzt, und als ich das erste Exposé zu Ceauşescu geschrieben habe, da ging es mir nur um die mög­lichst genaue Evo­ka­tion genau dieser einen Erfah­rung. Ich wollte dieses Tele-Tri­bunal, diesen medial ver­mit­telten Vor­gang so zwin­gend und über­wäl­ti­gend real werden lassen, wie er mir damals in meinem kind­li­chen Gemüt erschienen ist. Sobald aber die Recher­chen beginnen, also der prak­ti­sche Vor­gang des Wieder-Holens eines Ereig­nisses, eta­bliert sich eine Inter­fe­renz zwi­schen beiden Berei­chen: dem realen Ereignis (der Spur) und seiner medialen Abbil­dung und der damit ver­bun­denen Ergrif­fen­heit (der Aura). Also zwi­schen der „his­to­ri­schen Wahr­heit“, die sich durch eine tech­ni­sche Unter­su­chung des Videos, durch Zeu­gen­aus­sagen, durch Orts­be­ge­hungen und logi­sche Schluss­fol­ge­rungen annä­he­rungs­weise ermit­teln lässt – und dem, was Robbe-Grillet in seinem Roman Die Wie­der­ho­lung die „objek­tive Wahr­heit“ nennt, die Wahr­heit der Erfah­rung eines 12-jäh­rigen – letzt­lich also jener Gene­ra­tion, die die poli­ti­sche Wende im Fern­sehen zu einem Zeit­punkt mit­ver­folgt hat, als sie von Kin­dern zu Erwach­senen wurden. Was des­halb sicher­lich am Anfang aller für Die letzten Tage der Ceauşescus gemachten Anstren­gungen steht und zugleich ihr Ziel aus­macht, das ist die Aura, nicht die kor­rekte Wie­der­ho­lung eines Ereig­nisses. Es geht um die sze­ni­sche Rekon­struk­tion eines Para­doxes, um die künst­le­risch her­ge­stellte „Erschei­nung einer Ferne“, wie Walter Ben­jamin den Begriff Aura defi­niert. Das Erleben einer sol­chen Ferne ist zwin­gend sekundär, also ‚medial‘ im wei­testen Sinn, aber ich denke, dass das Spek­trum der Medien, ihrer Erfah­rungs­weisen und damit der for­malen Ansprüche an die Evo­ka­tion sehr-sehr weit ist.

 

n.: Wie habt ihr ver­sucht, die Aura der Fern-Seh-Erfah­rung von 1989 in euer Ree­nact­ment, das ja eher eine Nah-Seh-Erfah­rung ist, ein­zu­bringen? Habt ihr euch also auch Gedanken gemacht über die Rolle der Zuschauer eures Ree­nact­ments? Als was/wen wolltet ihr die Zuschauer ansprechen?

 

M. R.: In Rumä­nien und später auch in Berlin und der Schweiz ist uns mit Die letzten Tage der Ceauşescus etwas Selt­sames pas­siert: Das Publikum hat nicht geklatscht – in Buka­rest über­haupt nicht, und in West­eu­ropa sehr spät, also erst nach zwei, drei Minuten Stille. Einer­seits hängt das natür­lich mit dem Thema und der Dra­ma­turgie des Abends zusammen. Ande­rer­seits hat es etwas mit dem per­for­ma­tiven Status eines Ree­nact­ments zu tun, einer Form, die die Zuschauer zu intimen Zeugen einer Situa­tion macht, die völlig ver­bürgt ist, kurz: Was man sieht, ist im aller­schlich­testen Wort­sinn wahr und tat­säch­lich so pas­siert. Jede Mög­lich­keit der Distan­zie­rung wird von der schieren Rea­lität der Auf­füh­rung erbeutet, und die Zuschauer müssen ihre ‚Rolle‘ nach dem Ende des Stücks erst wieder finden, sie müssen sich gewis­ser­massen erin­nern, was nun zu tun ist – näm­lich klat­schen. Und an diesem Klat­schen ist etwas sub­stan­tiell Schuld­haftes: Denn wie kann man einen Mord beklat­schen, auch wenn er noch so ver­dient ist? Um ehr­lich zu sein, waren mir diese beiden Umstände wäh­rend der Insze­nie­rung nicht bewusst – näm­lich, dass wir die Zuschauer gewis­ser­massen gezwungen haben, Stel­lung zu nehmen zu etwas, das viel zu wider­sprüch­lich ist, um sich irgendwie dazu zu posi­tio­nieren. Das rumä­ni­sche Publikum war sehr sen­sibel für dieses unmo­ra­li­sche Angebot, das ihnen Die letzten Tage machte, und die blei­erne Stille nach der Insze­nie­rung, die Ver­wir­rung und Ver­wei­ge­rung des Publi­kums war Gegen­stand vieler Kri­tiken. Diese über­trie­bene, fast ver­bre­che­ri­sche Zeu­gen­schaft war auch im Westen einigen Leuten so unan­ge­nehm, dass wir schliess­lich dazu über­ge­gangen sind, ihnen zu „helfen”: Wir haben in Berlin und der Schweiz nach einer Minute Dun­kel­heit ein klas­sisch inter­pre­tiertes Volks­lied ein­ge­spielt, eine (wie viele Volks­lieder) sehr ein­fache und berüh­rende Musik. So als würde sich ein Fenster auftun im dun­keln Himmel des Geschichts­pes­si­mismus der Letzten Tage, als hätte der Thea­ter­abend in einem höheren Sinn einen guten Aus­gang gehabt, als sei eine alte Geschichte erzählt worden und nun alles wieder in Ord­nung. Leider ist es uns nicht gelungen, diese sehr starke und sehr bru­tale Wir­kung des Abends in der Auf­zeich­nung zu kon­ser­vieren – aber das gelingt ja nie.

 

n.: Geht es nicht eher um das Pro­blem, nicht zu wissen, was man beklatscht? Das his­to­ri­sche Ereignis oder euer Ree­nact­ment, wobei das Ree­nact­ment sein Thea­ter­sein zwar nicht ganz leugnet, aber doch zumin­dest soweit her­un­ter­fährt, dass das his­to­ri­sche Ereignis nicht über­blendet wird. Ich hätte auch nicht gewusst, was ich in dem Moment eigent­lich beklat­sche und mir womög­lich Gedanken dar­über gemacht, man könnte meinen, ich beklat­sche den Mord an den Ceauşescus oder die Dra­ma­turgen ihres Tri­bu­nals. In Moskau hat vor ein paar Jahren eine Künst­ler­gruppe einen ‚Schau­pro­zess‘ ver­an­staltet im Kunst­kon­text. Die Zuschauer dachten, sie nehmen an einer Per­for­mance teil und beklatschten die ‚Nähe‘ zur Rhe­torik der Schau­pro­zesse. Dabei han­delte es sich aber um den Aus­schluss eines Mit­glieds der Künst­ler­gruppe aus der Gruppe, also nicht um Kunst.

Ich will noch mal in eine ganz andere Rich­tung fragen. Euer Film zeigt, im Unter­schied zum Ree­nact­ment im Theater, mehr his­to­ri­sche Ein­bet­tung, viele Ori­gi­nal­auf­nahmen, die dann kon­tras­tiert werden mit der Reinsze­nie­rung im Theater in Buka­rest. Warum habt ihr den Film gemacht?

 

M. R.: Deine Beob­ach­tung zur Ein­bet­tung stimmt, und das ist wohl auch der Grund, warum die Wir­kung des Films eine sehr andere als die des Thea­ter­abends ist – eigent­lich die gegen­tei­lige. Wäh­rend das Stück auf eine mög­lichst deckungs­gleiche Über­blen­dung von Ereignis und Wie­der­ho­lung setzt, was bei den Zuschauern den von dir beob­ach­teten Effekt her­vor­ruft (“Wofür klat­sche ich eigent­lich?”), ist im Film die Selbst­be­fra­gung des Zuschauers schon in der Mon­tage prä­sent, was eine sehr grosse emo­tio­nale Ent­las­tung mit sich bringt. Der Film kom­men­tiert sich selbst, er ist sehr viel klas­si­scher, sehr viel ‚doku­men­ta­ri­scher‘ oder eben ana­ly­ti­scher als das Stück; weniger monu­mental, mensch­li­cher. Das hat damit zu tun, dass wir den Film fürs Fern­sehen gemacht haben, wo es ja so etwas wie das ‚doku­men­ta­ri­sche Genre‘ gibt und die Sache auch irgendwie inter­es­sant und vor allem selbst­er­klä­rend sein muss.

 

Filmstilln.: Kannst du viel­leicht ein Bei­spiel für den Unter­schied geben?

 

M. R.: Wäh­rend man etwa im Stück, wenn man es nicht weiss, mehr oder weniger nichts über die dop­pel­deu­tige Rolle General Stan­cu­lescus erfährt (Ceauşescus Lieb­lings­ge­neral und zugleich Orga­ni­sator des Pro­zesses), ist eine wich­tige Ebene des Films um seine Person, um das „Et tu, Brute“-Moment herum auf­ge­baut. Es hat aber auch rein tech­ni­sche Gründe: dass die Kamera nah dran ist, dass man zwi­schen den Figuren oder auch zwi­schen Pro­zess, Archiv und Kom­mentar schneiden kann und sich dadurch auto­ma­tisch eine Dra­ma­ti­sie­rung ergibt. Und Dra­ma­ti­sie­rung ist immer Kom­mentar, Kana­li­sie­rung, Ent­las­tung. Ein rumä­ni­scher Film­re­gis­seur, der sich unseren Film jetzt auf dem Fes­tival d’Avignon ange­sehen hat und selber einen Film über das Ende der Ceauşescus dreht, hat uns inter­es­san­ter­weise fol­genden Tipp gegeben: Immer nur die Kamera zu zeigen, die auf die Ceauşescus gerichtet ist, also die Mög­lich­keiten der Mon­tage so weit wie mög­lich ein­zu­schränken. Natür­lich können wir das nicht machen, denn dann würde der Film nicht einmal mehr im Nacht­pro­gramm von ARTE laufen. Übri­gens ist es so, dass die Idee, einen Film zu machen, vor der Idee zum Stück für die Bühne da war. Das Büh­nen­stück war dann die tech­ni­sche Vor­be­din­gung dazu, aber natür­lich haben ich und mein Co-Regis­seur im Film­be­reich (Marcel Bäch­tiger) sehr schnell, also schon weit im Vor­feld gemerkt, dass der Medi­en­wechsel – das tat­säch­liche Im-glei­chen-Raum-Sein – der ent­schei­dende Punkt an der Sache ist. Der Film ist so im Pro­duk­ti­ons­pro­zess sekundär geworden, wie übri­gens auch das Buch. Es hat sich dann alles um die sze­ni­sche Wie­der­ho­lung, ums Ree­nact­ment herum ange­ordnet, wie ein Netz um die Spinne. Und wie es sich ja meis­tens mit zen­tralen Ereig­nissen ver­hält, ist es nun gerade diese Posi­tion, die auch im Film leer, uner­fahrbar bleibt. Theater ist eben immer irgend­wann abge­spielt – wie die Geschichte selbst.

 

Buchcover

n.: Arbeitet ihr in Zukunft weiter an Reenactments?

 

M. R.: Fürs HAU Berlin ent­wi­ckeln wir unter dem Titel Hate Radio eine Rekon­struk­tion des Radio­stu­dios RTLM, das zwi­schen April und Juni 1994 in Ruanda die Ermor­dung von fast einer Mil­lion Men­schen als eine Art Wer­be­kam­pagne vor­be­reitet und dann mit Talk­shows, ras­sis­ti­schen Auf­rufen und einem spe­ziell darauf abge­stellten Musik­pro­gramm begleitet hat. Wir werden das Studio nach­bauen, bespielen und tat­säch­lich auf Sen­dung gehen. In den Vor­räumen des Stu­dios werden aber die Opfer des Völ­ker­mords zu Wort kommen. Auch dieses Pro­jekt ist moti­viert durch eine mediale Erfah­rung: Ich habe vor etwa zehn Jahren in einem Film über den Genozid in Ruanda eine kurze Ton­spur aus dem Pro­gramm des RTLM gehört und konnte bis heute den gera­dezu teuf­li­schen Ein­druck dieser Stimme, dieses fröh­li­chen, mit Hip-Hop unter­legten Sing­sangs, der zum Mord an Kin­dern auf­ruft, nicht aus dem Kopf kriegen. So, als hätte ich auf einmal ‚ver­standen‘, was es eigent­lich heisst, dass zu dem Zeit­punkt, als ich als Jugend­li­cher auf Kon­zerte gegangen bin, zu einer sehr ähn­li­chen Musik Mil­lionen Men­schen ermordet wurden. Das andere Pro­jekt steht noch in den ersten Anfängen, wir ent­wi­ckeln es mit dem Natio­nal­theater Weimar, der Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion Memo­rial und Tän­zern des Bol­schoj: Es ist ein Stück über die Mos­kauer Schau­pro­zesse, spe­ziell den letzten Pro­zess gegen den Block der Rechten und der Trotz­kisten von 1938.

 

n.: Das Tota­li­täre bzw. der ehe­ma­lige Ost­block scheint euch irgendwie anzuziehen?

 

M. R.: Hier liegt die ‚Inspi­ra­tion‘ eben­falls irgendwo in meiner Kind­heit. Meine Eltern waren Trotz­kisten, die Figur Sta­lins – in der Ideo­logie der 4. Inter­na­tio­nale ja immer nur Trotzkis Mörder, der Judas der Welt­re­vo­lu­tion gewis­ser­massen – stand des­halb meine ganze Kind­heit hin­durch als grosse Nega­tiv­figur, als fins­tere Chiffre über dem damals schon abseh­baren Unter­gang des Sowjet-Kom­mu­nismus. Als mich nun Weimar anfragte, ob ich was zum GULAG machen will, da wusste ich sofort, dass es etwas über diese Pro­zesse werden würde, dass dies mit Musik und Tän­zern geschehen sollte, dass es Dauer, Grösse und eine Art Über­wäl­ti­gungs­äs­thetik haben müsste, fast wie eine Oper – also ein sta­li­nis­ti­scher „Ring“, der wie­derum durch Erzäh­lungen der Opfer der Grossen Säu­be­rung kon­ter­ka­riert und gestei­gert wird. Es ist also jedes Mal ein sehr anderer Aus­gangs­punkt, und vom ein­fa­chen Fern­seh­bild bis zur quasi-abs­trakten medialen Gross­kon­stel­la­tion ist alles mög­lich: Bei den Letzten Tagen der Ceauşescus war es ein Video­gramm, bei Hate Radio eine Stimme und eine Musik aus dem Äther, bei den Mos­kauer Pro­zessen ein ganzes Nar­rativ: der Stalinismus.

 

n.: Da bin ich gespannt. Ich habe mich auch selbst mit den Schau­pro­zessen beschäf­tigt. Der rus­si­sche Regis­seur Nikolaj Evreinov hat übri­gens im Pariser Exil ein Stück über die Schau­pro­zesse geschrieben, auch eine Art Ree­nact­ment. Er hatte damals die zen­sierten ‚Pro­to­kolle‘ der Schau­pro­zesse in der sowje­ti­schen Pravda gelesen und diese für sein Stück benutzt. Er hat die Schau­pro­zesse quasi zurück­ge­holt ins Theater. Seine Schluss­pointe ist eine Anru­fung an das Publikum. Die Figuren auf der Bühne, der Ange­klagte Bucharin, der Staats­an­walt Vyšin­skij etc. geben am Schluss zu, nur Theater gespielt zu haben und fragen das Publikum, warum sie das nicht bemerkt haben und warum sie sich so etwas anschauen. Evreinov unter­stellt dem Publikum am Schluss ein Begehren und zwar jenes, sich unter­halten zu lassen. Dienen eure Ree­nact­ments auch einer Art Ent­lar­vung eines Begeh­rens, z.B. Teil von his­to­ri­schen Ereig­nissen sein zu wollen und sei es nur als Zuschauer?

 

M. R.: Das ist eine sehr schwie­rige Frage – nicht theo­re­tisch, son­dern prak­tisch gesehen. Für die deut­sche Kunst ist ja seit der faschis­ti­schen Wir­kungs­äs­thetik (und ihren Folgen) unkri­ti­sche Immersion oder gar Über­wäl­ti­gung eigent­lich der ver­bo­tene Apfel über­haupt, und das zu Recht. Vom sozi­al­psy­cho­lo­gi­schen Stand­punkt aus bin ich wie jeder klar den­kende Mensch für Ent­lar­vung und gegen Immersion, ins­be­son­dere wenn es um die Ent­lar­vung einer so ata­vis­ti­schen und aso­zialen Nei­gung wie der in den Schau­pro­zessen zum Tragen kom­menden Bestra­fungs­sehn­sucht geht. Die ein­zige Lehre aus der Gewalt­ge­schichte der letzten hun­dert Jahre ist es, dass der Mensch genau so sadis­tisch ist, wie es ihm das Gesetz bzw. die jewei­lige Situa­tion erlaubt, oder anders aus­ge­drückt: Sobald die Bühne eines Gerichts bereitet ist, sind die Henker nicht weit.

 

n.: Kannst du das erläutern?

 

M. R.: Dazu kann ich gern ein Bei­spiel aus meinem pri­vaten Leben geben: Vor ein paar Monaten wurde in einigen Schwei­ze­ri­schen Medien (zuerst in Bou­le­vard­blät­tern wie 20minuten oder Blick, dann aber auch in der NZZ, dem Schweizer Fern­sehen etc.) irr­tüm­lich behauptet, ich würde ein Thea­ter­stück über die Leiden einer armen Witwe vor­be­reiten und dies aus reinem Pro­fit­in­ter­esse, worauf ich, das Theater und meine ganze Familie im Lauf weniger Tage über hun­dert Mord­dro­hungen erhielten, jede unter Hin­weis darauf, dass wir es „ver­dient“ hätten. Meine Eltern mussten den Wohnort wech­seln, das Thea­ter­pro­jekt (das einen kom­plett anderen Inhalt als den behaup­teten hätte haben sollen) musste abge­sagt werden. Was mich an den Arti­keln, Leser­briefen und Mails am meisten erschreckt hat, war die lust­volle Selbst­ver­ständ­lich­keit, mit der die Illu­sion einer ‚Gefähr­dung‘ des gesell­schaft­li­chen Lebens kon­stru­iert, jede Rück­sicht­nahme fallen gelassen und jede Rich­tig­stel­lung als zusätz­liche Frech­heit gewertet wurde – ähn­lich wie Bucha­rins Hin­weise auf allzu offen­sicht­liche Wider­sprüche in Vyšin­s­kijs ‚Beweis­ketten‘ ja immer nur eine wei­tere Bestä­ti­gung seines recht­ha­be­ri­schen, abweich­le­ri­schen, „jüdi­schen“ Cha­rak­ters waren. Von den Hexen­pro­zessen über die Schau­pro­zesse bis zu dem ver­gli­chen damit natür­lich völlig bedeu­tungs­losen ‚Thea­ter­skandal‘, dessen Opfer ich wurde: Das Begehren, recht­schaf­fener Teil eines Straf­ge­richts zu sein, ist stärker als jede Dis­kus­si­ons­kultur, und Roland Bar­thes hat in seinen Mythen des All­tags behauptet, die „Phi­lo­so­phie des Heim­zah­lens und der Abrech­nung“ sei über­haupt die ein­zige Dia­lektik, die der Durch­schnitts­bürger ver­stehen würde. Nun ist das Anpran­gern dieses bedau­er­li­cher­weise nor­malsten mensch­li­chen Ver­hal­tens das eine, das Her­stellen einer kathar­ti­schen Situa­tion, also der schuld­haften Ver­stri­ckung des Zuschauers in ein Büh­nen­ge­schehen eine völlig andere.

 

n.: Glaubst du wirk­lich an Katharsis?

 

M. R.: Der Zuschauer muss sich selbst als Täter erlebt haben, er muss von der Hand­lung im Alt­huss­er­schen Sinn gemeint sein, er muss sich tat­säch­lich fragen, warum er nicht anders (oder über­haupt) gehan­delt hat, und diese Selbst­be­fra­gung muss schmerz­haft, boh­rend sein. Ich will dazu noch einmal ein Bei­spiel geben: Vor einigen Wochen war ich in der Volks­bühne, und in einem slo­we­ni­schen Stück wurde, nachdem dar­über abge­stimmt worden war, ein Messer gewetzt und ein Huhn geschlachtet. Etwa fünf Zuschauer ver­liessen den Saal, die anderen (unter anderem ich selbst) blieben wie ver­stei­nert sitzen, kicherten hys­te­risch und ver­si­cherten sich gegen­seitig, dass ‚über­haupt nichts‘ geschehen würde. Dann starb das Huhn, das Licht ging an und eine Art gene­relles Schuldig-geworden-sein legte sich über die Zuschauer. Die nor­malen Ent­las­tungs­re­ak­tionen traten ein: Die einen zwei­felten an der Rea­lität der Schlach­tung (obwohl alle den Leichnam des Huhns gesehen hatten). Die anderen rich­teten Vor­würfe an die slo­we­ni­sche Künst­ler­gruppe, die ihnen das zuge­mutet hatte (obwohl sie selbst für den Tod des Tiers gestimmt hatten). Die dritten flüch­teten sich in die alt­be­kannte Argu­men­ta­tion, dass man, da Fleisch­esser, ohnehin tag­täg­lich mit­schuldig an so-und-so-vielen Morden würde (die man aber nie zu Gesicht bekommt). Und einige Unent­wegte ver­suchten sogar, hinter die Bühne zu gelangen, um dort ein lebendes Huhn anzu­treffen oder mit den slo­we­ni­schen Künst­lern eine Prü­gelei anzu­fangen. Die Formel lautet also: Ohne Über­wäl­ti­gung keine Ent­lar­vung. Und inso­fern ist Evreinovs Stra­tegie natür­lich auch die, die ich selbst als die rich­tige (oder ein­zige mög­liche) erachte.

 

n.: Žižek hatte ein ähn­li­ches Ver­fahren bei Lai­bach und der NSK als „Über­iden­ti­fi­ka­tion“ beschrieben. D.h. die Aktionen oder Per­for­mances waren so ange­legt, dass die Zuschauer oder Teil­nehmer sich zunächst mit dem Geschehen iden­ti­fi­zieren sollten, um später diese Iden­ti­fi­ka­tion zu reflek­tieren. Bei einem Gerichts­pro­zess findet noch etwas anderes statt, da iden­ti­fi­zieren sich die Zuschauer mit der Rolle, die ihnen im Gerichts­pro­zess zuge­wiesen wird, und zwar zuzu­schauen. Sie geniessen diese Rolle, geniessen auch den kathar­ti­schen Effekt des stell­ver­tre­tenden Erle­bens des Ver­bre­chens und werden sich dann am Schluss ihres Genusses bewusst. Schwebt euch so etwas vor, wenn ihr Ree­nact­ments macht?

 

M. R.: Ja, wobei ich denke, dass das viel­leicht jedem Künstler und auch jedem Theo­re­tiker oder Poli­tiker vor­schwebt – eine Rezep­ti­ons­si­tua­tion zu schaffen, in der das Ver­han­delte so intensiv erlebt wird, dass die Bar­riere zwi­schen pas­sivem Zuschauen und aktivem Nach­vollzug über­schritten wird, in der der Zuschauer mit­schuldig wird an etwas, in das er rein fak­tisch betrachtet nicht direkt ver­wi­ckelt ist. Ich habe vor einiger Zeit einen albernen, aber sehr ein­drück­li­chen Hor­ror­film gesehen, The Gathe­ring, in dem es um genau diese The­matik geht: um das Schul­dig­werden durch Schau­lust, durch den Genuss am Leiden anderer. Kon­kret han­delt The Gathe­ring von der ewigen Ver­dammnis der Seelen jener Leute, die bei der Kreu­zi­gung Jesu zuge­schaut haben und des­halb über die Jahr­tau­sende hinweg gezwungen sind, immer wieder bei Kata­stro­phen dabei zu sein, immer wieder Ster­bende, Lei­dende zu sehen, bis ihnen der Genuss am Zuschauen im christ­lichsten Wort­sinn aus­ge­trieben ist. Doch ich weiss nicht, ob das aus­ge­trieben, oder wie man in der Psy­cho­ana­lyse sagen würde: sub­li­miert werden kann, auch wenn man eine Seele (oder ein Augen­paar) 2000 Jahre nicht zur Ruhe kommen lässt. Als Kind sah ich in einer Aus­gabe der NZZ ein post­kar­ten­grosses Bild, das ich aus­ge­schnitten und immer wieder angeschaut habe. Es war in den späten 1930ern auf­ge­nommen worden, nach der Beset­zung Chinas durch Japan, und zeigte eine Art Krater oder Graben, an dessen Rand gefes­selte, seltsam gleich­mü­tige chi­ne­si­sche Sol­daten standen. Unten lagen ein paar von ihnen am Boden, und vor dem Lei­chen­berg stand in Angriffs­stel­lung ein japa­ni­scher Soldat mit einem Bajo­nett. Der Unter­titel des Bilds lau­tete: „Die japa­ni­sche Armee erprobt ein neues Bajo­nett”. Und das war eine zwang­hafte Erfah­rung: Ich musste immer wieder in die Augen und die Gesichter der war­tenden chi­ne­si­schen Sol­daten und des Manns mit dem Bajo­nett schauen. Es war eine Art Genuss, aber ein sehr schreck­li­cher, klarer. Ich hatte, wenn ich dieses Bild her­vor­holte, immer das Gefühl, dass ich, könnte ich etwas über diesen Genuss in Erfah­rung bringen, auch etwas über den Tod lernen würde (und natür­lich das Töten, das mich noch viel mehr inter­es­sierte). Ich erin­nere mich sehr genau, wie ich jedesmal dachte: Diesmal werde ich es begreifen – und mir dann das Bild kon­zen­triert vor die Augen hielt wie jene Such­bilder, die man nur ein paar Sekunden anschauen darf und dem Doktor dann mög­lichst viele der gezeigten Gegen­stände nennen muss. Was ich damit sagen will: Es war eine sehr-sehr kühle, ana­ly­ti­sche, und zugleich eine absolut auf Genuss, auf Angst und Tri­umph aus­ge­rich­tete, ja sadis­ti­sche Aktion, wenn das Kind, das ich damals war, auf diese längst schon toten Chi­nesen und Japaner starrte. Es war ja ein Bild, also musste ich es ver­stehen können. Und doch ver­stand ich es nicht. Es gab keinen Lösungsweg, aber ich hatte das Gefühl, die Lösung stehe ganz bild­lich vor mir. Obwohl ich das Bild ver­loren habe, schaue ich es heute noch an, inner­lich, ein Vier­tel­jahr­hun­dert später.

 

n.: Was machst du mit dieser Kind­heits­er­kenntnis im Theater?

 

M. R.: Fürs Theater oder die Kunst kon­kret heisst das, dass man Situa­tionen schaffen muss, in denen diese Zer­ris­sen­heit zur Erfah­rung wird: diese Mischung aus Über­iden­ti­fi­ka­tion, also dem Genuss des stell­ver­tre­tenden Lebens, des stell­ver­tre­tenden Tötens und Ster­bens, und dem Nicht-Ver­stehen, also der Beschrei­bung des Abstands, der immer da ist zwi­schen sich selbst und einem Bild, einem Schau­spiel, einem anderen – und in dem sich eben auch so etwas wie „Schuld“, „Hal­tung“ oder „Katharsis“, also all diese Formen emo­tio­naler oder mora­li­scher Ana­lyse ent­wi­ckeln können. Wonach ich als Kind auf der Suche war, wenn ich mir die Bajo­net­tie­rung dieser Men­schen anschaute, war tat­säch­lich eine ‚Auf­lö­sung‘, das plötz­liche Auf­bre­chen einer Distanz, eines Sinns in der ganzen unver­ständ­li­chen Krass­heit, in die diese Erwach­senen vor so vielen Jahren und so weit ent­fernt ver­wi­ckelt gewesen waren (und von der ich aus­ging, dass ich es später auch sein würde). Kunst – und Theater im spe­zi­ellen – ist ja nicht nur des­halb auf eine gera­dezu reni­tente Art und Weise ‚krass‘, weil das einer avant­gar­dis­ti­schen Ver­ab­re­dung oder der Selbst­er­fah­rung der Schau­spieler zuträg­lich wäre, son­dern weil das situa­tive Ver­stehen erst in einer ganz bestimmten Über­spannt­heit zu funk­tio­nieren beginnt. Gerade wo Theater oder Kunst all­ge­mein am ‚künst­lichsten‘ ist, funk­tio­niert sie am besten, und ich habe mich des­halb immer gewun­dert, dass viele Kri­tiker, wenn es um das geht, was sie ‚doku­men­ta­risch‘ nennen (und auch Ree­nact­ments werden, der Ein­fach­heit halber, noch zum ‚Doku­men­ta­ri­schen‘ gezählt), von einer The­matik spre­chen, die „inter­es­sant“ oder eben „lang­weilig“ sei, „nach­voll­ziehbar“. Aber was ist denn nach­voll­ziehbar, inter­es­sant oder lang­weilig an dem, was dort in China im Graben geschah? Was beschreiben denn diese Wörter über­haupt von dem, wonach ich in meinem kind­li­chen Sadismus auf der Suche war? Was hätte mir dabei irgendein Hin­ter­grund­wissen über den japa­nisch-chi­ne­si­schen Krieg geholfen? Denn das Inter­es­sante an sol­chen Szenen, an sol­chen Bil­dern ist ja, dass man sie nicht ver­stehen muss, um still­zu­sitzen und mit­ge­rissen zu sein. Letzt­lich funk­tio­niert hier das berühmte psy­cho­ana­ly­ti­sche „Je sais, mais quand-même“, also die Grund­figur des Men­schen­ver­stands: “Das alles ist ja nur ein Bild, ein Schau­spiel, und ich bin nur ein Betrachter. Aber trotzdem…”

 

n.: Ein biss­chen wie Schlin­gen­siefs „Tötet Helmut Kohl“, wo er dann immer zur Beru­hi­gung derer, die an das Theater als Theater glauben, sagte, aber das ist doch alles nur Theater… Woraus besteht dann das „Trotzdem“?

 

M. R.: Dieses „Trotzdem“ ist natür­lich die Unwi­der­ruf­lich­lich­keit, das So-Sein des REALEN (im Sinn Lacans): dass diese Spiel­fi­guren, diese Japaner und Chi­nesen, diese 30er-Jahre-Men­schen nicht wieder auf­ge­stellt werden, dass ein Wesen leidet und zu Grunde geht, dass jemand zusticht mit einer bestimmten Geschwin­dig­keit und einer bestimmten Kraft­an­stren­gung und einem wirren Emp­finden, es also Posi­tionen in diesem ‚Spiel‘ gibt, die REAL sind, die aus der all­ge­meinen sym­bo­li­schen Ver­ab­re­dung her­aus­fallen. Und bei guten, das heisst funk­tio­nie­renden Kunst­werken, wie jenes Bild eines war, wird man von dieser REALITÄT selbst infi­ziert. Man wird von ihr nicht nur beläs­tigt, ana­ly­siert, abge­stossen oder hys­te­ri­siert, ver­pestet oder gerei­nigt, son­dern gleichsam unheilbar ver­wirrt und zer­rüttet, man hört einen Ruf, den man nicht ver­steht, obwohl er ver­dammt laut ist.

 

n.: Was bedeutet das alles für das Reenactment?

 

M. R.: Ein Ree­nact­ment, glaube ich, tut nun genau dies: In die völlig offen­ge­legte Ver­ab­re­dung, dass alles nur ein Spiel, ein Bild, eine Repro­duk­tion, eine Wie­der­ho­lung ist, die REALITÄT selbst herein zu tragen, also die beiden alten geschichts­phi­lo­so­phi­schen Wider­sa­cher auf die Bühne zu zerren – den objek­tiven Sinn und das sub­jek­tive Leiden, das „Wir wissen, dass dies ein Bild ist“ und das „Es ist so geschehen, Wirk­lich­keit“. Ein funk­tio­nie­rendes Ree­nact­ment und über­haupt ein funk­tio­nie­rendes Kunst­werk reak­ti­viert also im Zuschauer die His­to­ri­zität seines Emp­fin­dens, seinen kör­per­li­chen, mime­ti­schen Drang, das Schreck­lichste mit­zu­er­leben und seinen Wunsch nach Gewiss­heit, es zu ver­stehen, eben einen Sinn daraus zu ziehen. Ich würde hier gern mit einer all­ge­meinen Betrach­tung schliessen: Nach über einem halben Jahr­hun­dert ver­schärfter Reprä­sen­ta­ti­ons­kritik, bei der man davon aus­ging, dass man es dem REALEN und den Wäch­tern der GEWISSHEIT schon irgendwie zeigen würde (der Geschichte, dem Tota­li­ta­rismus, dem Sub­jekt, dem Geschlecht, dem Tod), dass am Schluss alles zum fröh­li­chen Spiel der imma­te­ri­ellen Simu­lacren und zur demo­kra­ti­schen Col­lage irgend­wel­cher Dis­kurse würde und sogar die Toten irgendwo zwi­schen­ge­la­gert und bei Bedarf wieder auf die Bühne geholt werden könnten, wäh­rend die Lebenden sich wie kleine Hünd­chen gegen­seitig Zitate zuwerfen. Im Ver­gleich dazu ist man heute, glaube ich, einiges ernster geworden, oder, wenn man so will, ‚rea­lis­ti­scher‘. Ich weiss nicht, warum das so ist, aber es ist so.

 

n.: Sind Ree­nact­ments nicht Simu­lacren schlechthin?

 

M. R.: Ja, das stimmt, wobei es natür­lich zwei­erlei Arten gibt, wie der Begriff ‚Simu­la­crum‘ ver­standen werden kann: der eine wurde von Bar­thes in den frühen 60ern in die Dis­kus­sion ein­ge­führt, der andere wurde durch Bau­dril­lard etwa dreissig Jahre später populär. Für Bar­thes war das Her­stellen von Simu­lacren der eigent­liche Kern der theo­re­ti­schen Praxis, quasi ihr insze­na­to­ri­sches Prinzip: Der Theo­re­tiker stellt ein (künst­li­ches) Double her, um im Aus­ein­an­der­bauen und Wie­der­zu­sam­men­fügen der Ein­zel­teile einer Vor­lage (etwa der ver­schie­denen Bild­ele­mente einer Wer­be­fo­to­grafie oder der syn­tak­ti­schen Ele­mente eines Satzes von Flau­bert) ihr Funk­tio­nieren zu ver­stehen. Wie man weiss, begann sich Bar­thes dann etwas später vor allem für jene Teile zu inter­es­sieren, die eben gerade nicht „funk­tio­nierten“, die „über­flüssig“ waren und des­halb, wie er schrieb, „nichts anderes als die Rea­lität selbst meinten“. Bar­thes Simu­la­crum-Begriff bezeichnet damit die para­doxe oder unmög­liche Arbeit einer reprä­sen­ta­tiven Ver­dop­pe­lung, das unauf­lös­bare Hier- und Dort­sein eines Ree­nact­ments, der unab­weis­bare Rea­li­täts­ge­halt einer Abbil­dung, dieser stän­dige „Über­fluss“ des Realen. Bau­dril­lard dagegen kappt diese Bezie­hung – etwa in seinen Unter­su­chungen zu den „doku­men­ta­ri­schen“ Bil­dern aus dem Irak-Krieg – und kommt damit zu einem ganz anderen Simu­la­crum-Begriff. Das Bau­dril­lard­sche Simu­la­crum meint eine unab­hän­gige, künst­liche Zei­chen-Welt ohne Refe­renten, ohne Körper und vor allem ohne Geschichte. Für Bau­dril­lard hat der Irak-Krieg, den wir ja nur aus Bil­dern kennen, „nicht statt­ge­funden“, und zwei­fellos hätte er, hätte ich ihn zu den Ceauşescus befragt, darauf beharrt, dass auch die rumä­ni­sche Revo­lu­tion eine reine „Tele-Revo­lu­tion“ war.

Aber wie auch immer – und das mag wie gesagt spitz­findig erscheinen: Ich finde den Begriff „Simu­la­crum“ für Ree­nact­ments sehr zutref­fend, nur würde ich ihn gern alt­mo­disch ver­standen wissen, also im Sinn von Bar­thes. Denn Ree­nact­ments sind, in erster Linie, kein Pro­dukt, son­dern eine Prak­to­logie, also der Ver­such, eine Kunst­praxis zu finden, die sich der Unmög­lich­keit der Dar­stel­lung von Wirk­lich­keit ganz aus­setzt – und zwar, indem der ursprüng­lichste Kunstakt über­haupt, also das Dar­stellen von Etwas, das geschehen ist, wie­der­holt und in Szene gesetzt wird.

 

n.: Danke für den aus­führ­li­chen E‑Mail-Wechsel!