„Ein Stück über Mutter und Vaterland“ – ein Interview mit Michael Zgodzay

Im November 2010 ist im Leipziger Literaturverlag Bożena Keffs „Utwór o matce i ojczyźnie“ in der Übersetzung von Michael Zgodzay auf Deutsch erschienen. Die polnische Ausgabe wurde auf novinki.de bereits besprochen. Tanja Hofmann hat mit dem Übersetzer ein Kurzinterview geführt.

 


Tatjana Hofmann: Woher kam die Motivation, dieses Buch zu übersetzen?

 

Michael Zgodzay: Ich habe Bożena Keff als Lyrikerin und Literaturwissenschaftlerin bei einer Lesung an der HU Berlin kennengelernt und war sehr bald vor allem von ihren Gedichten so begeistert, dass ich Kontakt zu ihr aufgenommen habe. Aber vielleicht war es auch etwas Anderes: Ich fande, dass sie eine humanistische Tradition der Aufklärung repräsentiert, die ich immer noch für sehr wichtig halte. Und dann ergab es sich, dass das „Stück“ in Polen erschienen ist und Frau Keff einen Übersetzer ins Deutsche suchte, der ein Textsample für die Buchmesse besorgt. Ich sagte, ich würde es gerne machen, das sei eine Herausforderung für mich. Dann war ich in die Pläne für eine deutsche Herausgabe des Textes so weit involviert, dass recht schnell klar wurde, dass ich den ganzen Text übersetze. Ich habe dann sehr lange daran gearbeitet und diesen Text irgendwie zu meinem eigenen gemacht, auch wenn er eigentlich schon für sich sehr eigen ist und sich nicht unbedingt so einfach hergibt zum Aneignen. Aber wenn es einmal so weit ist, fragt man nicht mehr nach der Motivation.

 

T.H.: Ich finde die Lektüre erstaunlich leicht, aber den Zugang zum Text doch schwierig. Könntest Du bitte diesen Text charakterisieren?

 

M.Z.: Vielleicht liegt die Schwierigkeit darin, dass es eine sehr private Geschichte ist, eine schmerzliche Geschichte der Weitergabe des Traumas der Shoah und gleichzeitig ein gesellschaftliches Manifest, der Versuch einer Befreiung aus mythischen Verhältnissen, an der uns allen gelegen sein sollte. Eine erwachsene Frau möchte sich von den Schuldgefühlen gegenüber ihrer Mutter befreien, die diese in ihr permanent wachruft. Die Mutter hat die Shoah auf der Flucht überlebt und ist in dieser Geschichte gefangen. Einerseits soll die Tochter immer wieder diese Geschichte hören, aber andererseits darf sie an ihr nicht teilhaben. Statt wie die Mutter nun in einem (eigenen) Klagemonolog zu verharren, versucht sie, einen öffentlichen Text zu produzieren und entwirft eine therapeutische Utopie, wenn es so etwas gibt.

Das erreicht sie dadurch, dass sie die Geschichte ihrer Mutter erzählt und ihre eigene Geschichte, die nur zu ihrer eigenen werden kann, wenn sie sich von der Mutter abnabelt. Am Ende dieser Erzählung kann sie sich mit der Mutter versöhnen, obwohl es eine recht pragmatische, von der Bitterkeit nicht ganz freie Versöhnung ist. Aber die Idee, die der Erzählerin vorschwebt, ist eindeutig: Aus Abhängigkeiten sollen Beziehungen werden, die vom Gefühl der Verantwortung getragen sind. Dazu braucht es auch Klarheit über die Verhältnisse, in denen wir leben. Im Fall der Erzählerin sind es natürlich die Verhältnisse im postkommunistischen Polen. Die sind eben noch sehr patriarchal, auch die Rolle der Mutter ist dem patriarchalen Muster unterworfen. Das muss sich ändern. Bożena Keff erzählt von einer Mütterlichkeit, die keine Ausbeutung ist.

Dann ist da noch der Antisemitismus, der unter dem Realsozialismus konserviert wurde, aber vor allem auch mit dem mythischen gesellschaftlichen Kitt zu tun hat. Das hat die Autorin sehr drastisch gezeigt, indem sie die Sprache des öffentlichen Raums und die dort wirksamen Riten zitiert – sei es im Wartesaal einer Arztpraxis oder in einem Fußballstadion.

 

T.H.: Danke. Das klingt komplex. Wie blickst Du auf Deine Erfahrung der Übersetzungsarbeit zurück?

 

M.Z.: Wie auf eine Beziehung: große Begeisterung, Skepsis zwischendurch, Wut und Verzweiflung über das eigene Unvermögen (typische Anfänger-Erfahrung), dann natürlich die Projektion dieses Unvermögens auf die Autorin, weiterhin viele Schmerzen und am Ende weiß man nicht mehr richtig, wo man angekommen ist, selbst wenn die Übersetzung abgeschlossen zu sein scheint…
Ja, und was mache ich dann mit dieser Erfahrung? Aber dann kommt die Freude darüber, dass etwas entstanden ist, was sein eigenes Leben hat: ein eigener Text.

 

T.H.: Was hat Dir Freude bereitet und was war eher problematisch?

 

M.Z.: Probleme sind für mich immer akute Probleme, an die ich, wenn sie gelöst sind, nicht mehr denke. Es geht gar nicht so sehr um absolut unübersetzbare Ausdrücke oder Idiome oder Ungereimtheiten oder Inkonsequenzen des Textes, die der Übersetzer immer wieder versucht ist, dem Autor oder der Autorin anzulasten (dabei ist es nur mein Nahblick, der Manches zum Problem werden lässt), und sich darüber aufregt, dass er nun mit diesem/r Partner_in irgendwie zurande kommen muss. Oft ist das größte Problem, den richtigen Ton zu treffen, damit der übersetzte Text tatsächlich auch klingt und seine Lebendigkeit nicht verliert. Im „Stück“ war es besonders die Vielstimmigkeit, die vielen Anleihen aus verschiedenen Idiolekten, aus verschiedenen Bereichen der Kultur und Popkultur. Ich weiß nicht, ob mir das immer gelungen ist. Aber natürlich ist es ein Glücksgefühl, wenn diese Probleme gelöst sind, oder wenn es mir gelingt, über sie hinwegzugehen und weiterzumachen.

 

T.H.: Welche Hilfsmittel, Tricks und Strategien hast Du beim Arbeiten verwendet bzw. entwickelt?

 

M.Z.: Viele geduldige Menschen fragen, viel in Texten nachschlagen, sein eigenes Textwissen abfragen. Mit Wörterbüchern kommt man da nicht weit. Und abwarten, wenn der Kopf nicht will, dass der richtige Ausdruck, die richtige Phrase erscheint, dann muss man ihn in Ruhe lassen. Er verrät es dann meistens von selbst – in den unmöglichsten Situationen, versteht sich. Aber das ist schon aus dem Nähkästchen geplaudert…

 

T.H.: Wie ist es, als Mann einen Text von einer Frau über das Frausein zu bearbeiten?

 

M.Z.: Ich glaube nicht, dass es hier einen privilegierten Zugang zum Text gibt, falls deine Frage das impliziert. Zunächst ist es ein Text über das KIND-Sein, über Familienverhältnisse, auf die die Autorin marxistische Terminologie anwendet, d.h. sie zeigt Mechanismen der Ausbeutung. Dass solche Mechanismen Frauen besonders stark treffen, ist sicher unbezweifelbar. Gleichzeitig zeigt sie auch, wie ungerechte Verhältnisse ständig reproduziert werden, und hier hat die Geschlechterrolle m.E. keine große Bedeutung, weil die Konservierung gegenseitiger Abhängigkeiten jenseits der Geschlechterzuteilungen geschieht.

 

Die Autorin hat noch etwas Tolles gemacht. Sie hat durch ihre quasi-marxistische Interpretation der Familie den in Polen noch höchst wirksamen Mythos von Familie und organischen Verwandtschaften als „gesunder Keimzelle“ (was für ein schrecklicher Ausdruck in diesem Kontext) der Gesellschaft angetastet. Nun sind die Familien in den seltensten Fällen „gesund“. Warum? Weil das Verhältnis genau umgekehrt ist. In den Familien werden gesellschaftliche Strukturen mit aller Härte und Ernst reproduziert und naturalisiert. Dagegen wehrt sich das Buch von Bożena Keff.

 

T.H.: Inwiefern hat sich Dein Verhältnis zur Autorin und ihrem Werk geändert?

 

M.Z.: Es hat sich nicht wesentlich verändert.

 

T.H.: Was würdest Du als nächstes übersetzen, wenn Du die Zeit und freie Wahl hättest?

 

M.Z.: Vielleicht einen Text von Stanislaw Ignacy Witkiewicz (Witkacy) – das ist eine echte Herausforderung. Aber um die Klassiker kümmern sich schon andere Übersetzer_innen.

 

T.H.: Vielen Dank für das Gespräch.

 

 

Literatur

Keff, Bożena: Ein Stück über Mutter und Vaterland. Aus dem Polnischen von Michael Zgodzay. Leipzig 2010.

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