Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Ein Kopf­um­fang voller Geschichten

Der Jour­na­list Włod­zi­mierz Nowak erzählt aus dem deutsch-pol­ni­schen Zusammenleben

 

Heid­chen war zehn, als die Rote Armee das Dorf Wil­den­hagen (heute Lubin) erreichte. Die im Dorf ver­blie­benen Frauen waren starr vor Angst. Aus Furcht vor den ‚schlitz­äu­gigen’ Ver­ge­wal­ti­gern brachten sie sich selbst und ihre Kinder um. Einige ertränkten sich, andere schnitten sich die Puls­adern auf. Auf Heid­chens Hof erhängte sich gleich ein Dut­zend Frauen. Auch ihr selbst wurde von der Mutter eine Schlinge um den Hals gelegt. “Das Mäd­chen kniet sich hin, um zu sterben, sonst wird die Mama sauer.“ Doch sie starb nicht. Und die Rot­ar­misten taten ihr nichts an; sie gaben ihr zu Essen und strei­chelten ihren Kopf. Heute ist Heid­chen fünf­und­sechzig Jahre alt und die ein­zige Zeugin der Nacht in Wil­den­hagen, der Nacht vom 31. Januar auf
1. Februar 1945.

Obwód głowy (Kopf­um­fang) gehörte zu den sieben Büchern, die 2008 ins Finale des pol­ni­schen pres­ti­ge­träch­tigen Nike-Lite­ra­tur­preises gewählt wurden . Es ist ein Sam­mel­band von Włod­zi­mierz Nowaks zwölf besten Repor­tagen aus den Jahren 1997–2006. Der Jour­na­list schreibt für die Bei­lage Duży Format (Großes Format) der Gazeta Wyborcza, der füh­renden Tages zei­tung in Polen. Jede seiner Repor­tagen hat ihre eigene Spe­zifik und Geschichte. Für einige von ihnen recher­chierte er mona­te­lang, für andere reichten ihm wenige Gespräche, um ein dif­fe­ren­ziertes Bild zu gewinnen.

Ich lernte Nowak wäh­rend der Schrift­stel­ler­wo­chen der Stif­tung Gens­hagen im Herbst 2007 kennen. Ich wollte ihn zu seinen Tech­niken der lite­ra­ri­schen Repor­tage inter­viewen. Bei unseren Gesprä­chen bemerkte ich immer wieder, welch ein her­vor­ra­gender Zuhörer er ist. Sein Inter­esse  am Gesprächs­partner ist nicht vor­ge­täuscht, viel­mehr zeigt er sich so inter­es­siert, dass man schon beim ersten Treffen geneigt ist, vor allem von sich selbst zu erzählen. So wird der Inter­viewer im Gespräch mit Nowak zum Inter­viewten. Nun konnte ich auch ver­stehen, warum es ihm gelingt, die Prot­ago­nisten seiner Repor­tagen Geschichten erzählen zu lassen, an die sie sich nicht mehr zu erin­nern glaubten, oder die sie bewusst oder unbe­wusst ver­drängt hatten. So war es zum Bei­spiel mit dem Bel­gier Mathi Schenk (Mein War­schau­koller), der noch nie mit jemandem über seine Erfah­rungen im Krieg spre­chen wollte: Schließ­lich wurden aus der einen Stunde, die er Nowak für ein Inter­view gewähren wollte, drei ganze Tage.
Die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Krieg und seinen Folgen bestimmt viele der Geschichten in Kopf­um­fang. Nowak doku­men­tiert, wie sowohl Deut­sche als auch Polen mit dem Trauma der Ver­gan­gen­heit umzu­gehen ver­su­chen, und wie unheim­lich kom­pli­ziert und ver­woben die Geschichten aus der deutsch-pol­ni­schen Nach­bar­schaft sind. Da ist zum Bei­spiel jener Deut­sche, der aus der Wehr­macht deser­tierte und der Armia Kra­jowa, der pol­ni­schen Unter­grund­armee im Zweiten Welt­krieg, bei­trat (Die Aben­teuer des braven Sol­daten Man­fred). Frau Irena (Mut­ter­herz, Toch­ter­herz) hin­gegen ist wäh­rend des Krieges in Berlin als Tochter einer deut­schen Feld­ar­bei­terin geboren. Sie wurde von der Familie ihrer Mutter in Höhen Birken auf­ge­zogen, bis sie als Drei­jäh­rige von ihrem Groß­vater fremden pol­ni­schen Leuten über­geben wurde. Erst auf dem Ster­be­bett ihres Zieh­va­ters erfuhr sie, dass sie nicht seine leib­liche Tochter ist. Dar­aufhin begab sie sich auf die Suche nach ihrer leib­li­chen Mutter und fand schließ­lich heraus, dass diese heute in einem kleinen Dorf in Ser­bien lebt. Gazeta Wyborcza finan­zierte ihr die Reise zu ihrer Mutter, und Nowak beglei­tete sie nach Ser­bien. So wurde er Zeuge eines Wie­der­se­hens von Mutter und Tochter nach über fünfzig Jahren.

Nowak beschäf­tigt sich aber auch mit den Folgen der poli­ti­schen Wende in beiden Län­dern: Bochumer Arbeiter werden mit der Kon­kur­renz von den öst­li­chen Arbeits­märkten kon­fron­tiert.  Zwi­schen den in Bochum und dem pol­ni­schen Glei­witz gele­genen Werken besteht ein harter Wett­be­werb um die Fer­ti­gung von Auto­mo­dellen und die davon abhän­gigen Arbeits­plätze. Die Deut­schen beklagen sich, dass ihnen die Polen die Arbeit weg-
nähmen (Zwei Minuten contra drei). Frau Mohs, die Titel­person der vor­letzten Repor­tage, ist in Halle in der DDR auf­ge­wachsen. Sie fühlte sich dort wohl, hatte ihren Platz in der Gesell­schaft gefunden und konnte sich hoch­ar­beiten. Heute ist sie arbeitslos, „dick vom bil­ligen Essen vom Aldi“, und fühlt sich wie eine Bür­gerin zweiter Klasse.

Aus der Zeit vor dem Bei­tritt Polens zum Schengen-Raum stammen Repor­tagen über den Alltag an der deutsch-pol­ni­schen Grenze: vom Men­schen­schmuggel, dem Ein­kaufs­tou­rismus, dem Zusam­men­leben der pol­ni­schen und deut­schen Stu­denten an der euro­päi­schen Uni­ver­sität Via­drina und schließ­lich dem Zusam­men­wachsen der Grenz­städte Gubin und Guben.

Die meisten Geschichten sind scho­ckie­rend und schwer zu glauben. Nowak berührt oft heikle Themen und scheut sich auch nicht, über Ste­reo­type und Vor­ur­teile laut zu spre­chen. Er selbst hält sich aber mit eigenen Bewer­tungen und Mei­nungen zurück. Er arbeitet die Vielschichtig-
keit der von ihm geschil­derten Fälle heraus und regt damit den Leser zur Aus­ein­an­der­set­zung mit der Pro­ble­matik an.

Im Gegen­satz zu den sehr ver­wi­ckelten Geschichten ist die Sprache der Repor­tagen Nowaks sehr ein­fach gehalten. Nowak schreibt knapp und poin­tiert. Gefühls­aus­drücke finden sich nur selten – egal, ob Nowak von einem Kriegs­mas­saker spricht oder von einer Wie­der­be­geg­nung von Mutter und Tochter nach ein paar Dut­zend Jahren, seine Aus­drucks­weise ist kühl und distan­ziert. Wenn man seine Berichte liest, hat man stets den Ein­druck, als wäre man selbst Zeuge der Ereig­nisse, als höre und sehe man die Men­schen, deren Schicksal sie mit einem so außer­ge­wöhn­li­chen Lebens­lauf bedachte. Dass das durchaus auch mit einer Prise Humor geht, zeigt sich zum Bei­spiel an fol­gender Pas­sage, in der Nowak von der nicht mehr exis­tie­renden Grenze zwi­schen Polen und Euro­päi­scher Union berichtet: „Zwei grau­haa­rige Euro­bür­ge­rinnen sitzen auf einer Euro­bank unter einem Euro­baum. Sie gucken über die Euro-Neiße auf das Ufer der Euro­päi­schen Union und beklagen sich.“ (Die Ufer immer näher, das Fisch­lein weit weg)

 

Nowak, Włod­zi­mierz: Obwód głowy. Woło­wiec 2007.

Das Buch erscheint in Kürze im Eich­born Verlag auf Deutsch unter dem Titel: Wlod­zi­mierz Nowak: Die Nacht von Wil­den­hagen. Zwölf deutsch-pol­ni­sche Schicksale.