Der Journalist Włodzimierz Nowak erzählt aus dem deutsch-polnischen Zusammenleben
Heidchen war zehn, als die Rote Armee das Dorf Wildenhagen (heute Lubin) erreichte. Die im Dorf verbliebenen Frauen waren starr vor Angst. Aus Furcht vor den ‚schlitzäugigen’ Vergewaltigern brachten sie sich selbst und ihre Kinder um. Einige ertränkten sich, andere schnitten sich die Pulsadern auf. Auf Heidchens Hof erhängte sich gleich ein Dutzend Frauen. Auch ihr selbst wurde von der Mutter eine Schlinge um den Hals gelegt. “Das Mädchen kniet sich hin, um zu sterben, sonst wird die Mama sauer.“ Doch sie starb nicht. Und die Rotarmisten taten ihr nichts an; sie gaben ihr zu Essen und streichelten ihren Kopf. Heute ist Heidchen fünfundsechzig Jahre alt und die einzige Zeugin der Nacht in Wildenhagen, der Nacht vom 31. Januar auf
1. Februar 1945.
Obwód głowy (Kopfumfang) gehörte zu den sieben Büchern, die 2008 ins Finale des polnischen prestigeträchtigen Nike-Literaturpreises gewählt wurden . Es ist ein Sammelband von Włodzimierz Nowaks zwölf besten Reportagen aus den Jahren 1997-2006. Der Journalist schreibt für die Beilage Duży Format (Großes Format) der Gazeta Wyborcza, der führenden Tages zeitung in Polen. Jede seiner Reportagen hat ihre eigene Spezifik und Geschichte. Für einige von ihnen recherchierte er monatelang, für andere reichten ihm wenige Gespräche, um ein differenziertes Bild zu gewinnen.
Ich lernte Nowak während der Schriftstellerwochen der Stiftung Genshagen im Herbst 2007 kennen. Ich wollte ihn zu seinen Techniken der literarischen Reportage interviewen. Bei unseren Gesprächen bemerkte ich immer wieder, welch ein hervorragender Zuhörer er ist. Sein Interesse am Gesprächspartner ist nicht vorgetäuscht, vielmehr zeigt er sich so interessiert, dass man schon beim ersten Treffen geneigt ist, vor allem von sich selbst zu erzählen. So wird der Interviewer im Gespräch mit Nowak zum Interviewten. Nun konnte ich auch verstehen, warum es ihm gelingt, die Protagonisten seiner Reportagen Geschichten erzählen zu lassen, an die sie sich nicht mehr zu erinnern glaubten, oder die sie bewusst oder unbewusst verdrängt hatten. So war es zum Beispiel mit dem Belgier Mathi Schenk (Mein Warschaukoller), der noch nie mit jemandem über seine Erfahrungen im Krieg sprechen wollte: Schließlich wurden aus der einen Stunde, die er Nowak für ein Interview gewähren wollte, drei ganze Tage.
Die Auseinandersetzung mit dem Krieg und seinen Folgen bestimmt viele der Geschichten in Kopfumfang. Nowak dokumentiert, wie sowohl Deutsche als auch Polen mit dem Trauma der Vergangenheit umzugehen versuchen, und wie unheimlich kompliziert und verwoben die Geschichten aus der deutsch-polnischen Nachbarschaft sind. Da ist zum Beispiel jener Deutsche, der aus der Wehrmacht desertierte und der Armia Krajowa, der polnischen Untergrundarmee im Zweiten Weltkrieg, beitrat (Die Abenteuer des braven Soldaten Manfred). Frau Irena (Mutterherz, Tochterherz) hingegen ist während des Krieges in Berlin als Tochter einer deutschen Feldarbeiterin geboren. Sie wurde von der Familie ihrer Mutter in Höhen Birken aufgezogen, bis sie als Dreijährige von ihrem Großvater fremden polnischen Leuten übergeben wurde. Erst auf dem Sterbebett ihres Ziehvaters erfuhr sie, dass sie nicht seine leibliche Tochter ist. Daraufhin begab sie sich auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter und fand schließlich heraus, dass diese heute in einem kleinen Dorf in Serbien lebt. Gazeta Wyborcza finanzierte ihr die Reise zu ihrer Mutter, und Nowak begleitete sie nach Serbien. So wurde er Zeuge eines Wiedersehens von Mutter und Tochter nach über fünfzig Jahren.
Nowak beschäftigt sich aber auch mit den Folgen der politischen Wende in beiden Ländern: Bochumer Arbeiter werden mit der Konkurrenz von den östlichen Arbeitsmärkten konfrontiert. Zwischen den in Bochum und dem polnischen Gleiwitz gelegenen Werken besteht ein harter Wettbewerb um die Fertigung von Automodellen und die davon abhängigen Arbeitsplätze. Die Deutschen beklagen sich, dass ihnen die Polen die Arbeit weg-
nähmen (Zwei Minuten contra drei). Frau Mohs, die Titelperson der vorletzten Reportage, ist in Halle in der DDR aufgewachsen. Sie fühlte sich dort wohl, hatte ihren Platz in der Gesellschaft gefunden und konnte sich hocharbeiten. Heute ist sie arbeitslos, „dick vom billigen Essen vom Aldi“, und fühlt sich wie eine Bürgerin zweiter Klasse.
Aus der Zeit vor dem Beitritt Polens zum Schengen-Raum stammen Reportagen über den Alltag an der deutsch-polnischen Grenze: vom Menschenschmuggel, dem Einkaufstourismus, dem Zusammenleben der polnischen und deutschen Studenten an der europäischen Universität Viadrina und schließlich dem Zusammenwachsen der Grenzstädte Gubin und Guben.
Die meisten Geschichten sind schockierend und schwer zu glauben. Nowak berührt oft heikle Themen und scheut sich auch nicht, über Stereotype und Vorurteile laut zu sprechen. Er selbst hält sich aber mit eigenen Bewertungen und Meinungen zurück. Er arbeitet die Vielschichtig-
keit der von ihm geschilderten Fälle heraus und regt damit den Leser zur Auseinandersetzung mit der Problematik an.
Im Gegensatz zu den sehr verwickelten Geschichten ist die Sprache der Reportagen Nowaks sehr einfach gehalten. Nowak schreibt knapp und pointiert. Gefühlsausdrücke finden sich nur selten – egal, ob Nowak von einem Kriegsmassaker spricht oder von einer Wiederbegegnung von Mutter und Tochter nach ein paar Dutzend Jahren, seine Ausdrucksweise ist kühl und distanziert. Wenn man seine Berichte liest, hat man stets den Eindruck, als wäre man selbst Zeuge der Ereignisse, als höre und sehe man die Menschen, deren Schicksal sie mit einem so außergewöhnlichen Lebenslauf bedachte. Dass das durchaus auch mit einer Prise Humor geht, zeigt sich zum Beispiel an folgender Passage, in der Nowak von der nicht mehr existierenden Grenze zwischen Polen und Europäischer Union berichtet: „Zwei grauhaarige Eurobürgerinnen sitzen auf einer Eurobank unter einem Eurobaum. Sie gucken über die Euro-Neiße auf das Ufer der Europäischen Union und beklagen sich.“ (Die Ufer immer näher, das Fischlein weit weg)
Nowak, Włodzimierz: Obwód głowy. Wołowiec 2007.
Das Buch erscheint in Kürze im Eichborn Verlag auf Deutsch unter dem Titel: Wlodzimierz Nowak: Die Nacht von Wildenhagen. Zwölf deutsch-polnische Schicksale.