Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Die Melan­cholie des Unausweichlichen

Mit dem Blick eines stillen Beob­ach­ters beschreibt Andrzej Sta­siuk, mal nüch­tern-exis­ten­tia­lis­tisch, mal zärt­lich-nost­al­gisch, den Antritt der letzten aller Reisen.

 

Kurzes Buch über das Sterben heißt Sta­siuks zuletzt erschie­nener Kurz­ge­schich­ten­band. Das zier­liche, weiße Büch­lein ent­hält vier auto­bio­gra­phi­sche Erzäh­lungen: Erin­ne­rungen und Rück­blicke an Dage­we­senes, an Ver­gan­genes, an Gesagtes und Ver­schwie­genes. Es ist ein sehr per­sön­li­ches Werk. Denn erst der Umgang mit dem Tod, dem Abso­luten, legt die phi­lo­so­phi­schen Grund­festen eines Men­schen frei. Man merkt es nicht gleich, doch die distan­zierte Erzähl­weise trügt. Es schim­mert stets die blanke Ohn­macht eines War­tenden durch. Der Erzähler ent­blößt sich vor uns und gibt seine intimsten Gedanken preis. Gedanken, die nur selten aus­ge­spro­chen werden. Aus Angst, aus Scham, aus tiefster Ver­un­si­che­rung. Gedanken, die man für sich behält: „Jetzt sehe ich, wie schwer es ist, diese Erfah­rung zu beschreiben – das Gefühl von schreck­li­cher Fremd­heit und zugleich Nähe.“

 

Von einer anderen Welt, einem anderen Sterben

Die erste Erzäh­lung ist Sta­siuks Groß­mutter gewidmet, einer vor langer Zeit in der pol­ni­schen Pro­vinz ver­stor­benen Greisin, die noch an Geister glaubte.  In den Erin­ne­rungen des Erzäh­lers ver­mischt sich die beson­dere Wahr­neh­mung eines Kindes, eine phan­ta­sie­volle, sym­bol­be­la­dene Mystik, mit der exis­ten­tia­lis­ti­schen Abge­klärt­heit eines Erwach­senen. Die Geschichten von den Geis­tern, die so natür­lich zum Leben der Dorf­frauen gehörten und dem länd­li­chen Aber­glauben dienten, lehrten den Erzähler zum ersten Mal die „Domi­nanz des Sym­bols über die Wirk­lich­keit“ und er ver­stand „die Wahr­heit, dass der Mensch dem Tod, der Ver­dam­mung und dem Zufall näher ist als der Erlö­sung“. Im mys­tisch umwo­benen Leben seiner Groß­mutter hat diese Erkenntnis ihre Ver­kör­pe­rung gefunden.

 

Über Augustyn und Die Hündin und den Umgang mit dem Tod

Das Tier leidet. Es hat seine Sin­nes­kräfte ver­loren. Es frisst und scheidet aus. Es hat keinen Wert mehr, keinen Nutzen: „Eine Spritze und fertig. Das könnte ich sogar selbst machen. Wenn es sein musste, habe ich früher Schafe und Ziegen geschlachtet.“ Der Ver­lust jeg­li­cher Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fä­hig­keit, der Ver­lust von Sinnes- und Lei­bes­kräften, der fort­schrei­tende Zer­fall, ver­wan­delt ein Lebe­wesen in ein Ster­be­wesen. Sta­siuk sin­niert: „Unsere Zivi­li­sa­tion ist seltsam. Sie rettet, bewahrt, ver­län­gert  uns das Leben. Und zugleich macht sie uns dem Tod gegen­über hilflos. Wir wissen nicht, wie wir uns ihm gegen­über ver­halten sollen.“ Und auch wenn der Fort­schritt es uns erlaubt, länger zu leben. Die Alten und Kranken liegen in den Kran­ken­häu­sern, vege­tieren vor sich hin. Kran­ken­pfleger werden zu Todes­be­glei­tern: „Wir bezahlen sie dafür, dass sie das Sterben begleiten. Letzten Endes bezahlen wir sie dafür, dass sie in gewisser Weise für uns sterben. Denn wenn wir am Tod anderer Men­schen, am Tod Ange­hö­riger teil­nehmen, sterben wir selbst ein biss­chen, werden selbst ein biss­chen sterblicher.“

Was bedeutet der Wert des Lebens? Eines Lebens? Was ist Moral? Wie geht man damit um? Hat der Mensch es ver­lernt, das Sterben? Sta­siuk gibt sich Gedan­ken­spielen hin, wie es nun mal so ist, wenn man nicht weiter weiß. Die Gedanken strömen dann in alle erdenk­li­chen Rich­tungen. Begräb­nis­ri­tuale, Hoch­häuser, früher, heute, Stadt, Land, morgen… „Aber mir scheint, auch die in Zukunft zu erfin­dende Unsterb­lich­keit wird nur eine ins Unend­liche ver­län­gerte Ein­sam­keit sein. Denn wor­über wird so ein Unsterb­li­cher reden mit einem Sterb­li­chen, der sich die Unsterb­lich­keit nicht leisten kann?“

Man legt das Buch unwei­ger­lich zur Seite. Man gleitet ab, erin­nert sich. Man gibt sich den Gedanken des Erzäh­lers hin. Unaus­weich­lich wird es per­sön­lich, intim. Auf einmal sind es die eigenen Gedanken und Gefühle, die in einem erzählen.

Dieses Buch braucht Zeit. Die kleine Form hat den Vor­teil, dass man das Buch jeder­zeit bei sich tragen kann. Denn es lässt einen nicht los und man will weiterlesen.

Stiche in Kopf, Brust und Seele. Augustyn war ein Schrift­stel­ler­kol­lege. Ein alter Mann mit einem schönen Stil. Er erlitt einen Schlag­an­fall und wurde erst spät gefunden. Man brachte ihn in ein Kran­ken­haus. Dann in ein anderes. Dann ins Sana­to­rium. Orte der Unter­ord­nung. Die durch Krank­heit erzwun­gene Unmün­dig­keit raubt dem Men­schen die Würde. Man kommt zu Besuch und dann sitzt man da. Und man weiß nicht, was man sagen soll oder tun soll. Wie man ihn anfassen soll. Wie man damit umgehen soll. Man ver­sucht die Gegen­wart mit der Ver­gan­gen­heit auf­zu­füllen. Weißt du noch? Und dann die beschä­mende Erleich­te­rung beim Ver­lassen des Kran­ken­hauses. „Fünf, sechs, sieben Begeg­nungen im Leben. Hin­terher ist es immer zu wenig. Hin­terher merkt man, dass man sich öfter hätte sehen sollen.“

 

Im pol­ni­schen Ori­ginal trägt das Buch den Titel Grochów

„Ist dir jemals in den Sinn gekommen, dass du sterben wirst? Oder dass ich sterben werde? Dass wir irgend­wann zusehen werden, wie sie den anderen ver­graben oder in den Ofen schieben? Dass wir nur noch das für den anderen werden tun können? Nur zusehen?“. Grochów ist die letzte, die längste – und im pol­ni­schen Ori­ginal titel­ge­bende – Erzäh­lung des kleinen Buches. Sta­siuk nimmt darin Abschied von seinem Jugend­freund Olek, mit dem er in Gro­chów, einem Vorort War­schaus, auf­wuchs. Das Beson­dere an dieser Erzäh­lung ist, dass Sta­siuk nicht mehr als Beob­achter auf­tritt. Er schrieb diese Erzäh­lung nicht für uns. Er schrieb sie für Olek. Die Erin­ne­rungen werden trans­pa­rent: „Die Ereig­nisse von früher sind so deut­lich wie die jüngsten. Sie schim­mern, scheinen durch. Und jetzt, da ich an sie denke, geschieht alles gleich­zeitig.“ Es ist eine Geschichte vom Träumen und von der Frei­heit, vom gemein­samen Reisen und Erleben. Von Wut und Scham und Verrat und der Angst und dem lächer­li­chen Auf­keimen von Hoffnung.

 

Sta­siuks Kurzes Buch über das Sterben ist ein kleines Geleit durch ver­gan­gene Land­schaften und erlo­schene Leben. Ein wenig ungreifbar und ver­träumt, mal ver­wir­rend und dann wieder sehr klar. Wie Gedanken nun mal sind, wie Erin­ne­rungen, die wir in uns tragen.

 

Sta­siuk, Andrzej: Kurzes Buch über das Sterben. Aus dem Pol­ni­schen von Renate Schmid­gall. Berlin: Suhr­kamp, 2013.
Sta­siuk, Andrzej: Gro­chów. Woło­wiec: Czarne, 2012.

 

Wei­ter­füh­rende Links:
Andrzej Sta­siuk im Gespräch: „Willst du frei sein, musst du einen Verrat begehen“. FAZ, 08.03.2013.