Aus Kellern und Abwasserkanälen im Warschauer Stadtteil Muranów tauchen Juden als Untote auf. Am Anfang nur einige, dann werden es immer mehr und plötzlich sind sie überall: auf den Straßen und in den Medien, in öffentlichen Verkehrsmitteln und auf Motorrollern, in Einkaufszentren. Junge Leute mit rechten Ansichten kommen aus ganz Polen zusammen und die Geschichte droht sich zu wiederholen…
Mit Noc Żywych Żydów (Die Nacht der lebenden Juden) ist Igor Ostachowicz die polnische Variante von Zombie-Geschichten wie The Walking Dead und World War Z gelungen. Nicht nur der Titel des Buches spielt auf Die Nacht der lebenden Toten an, auch das sozialkritische Thema lässt an den Kultfilm von 1968 als Inspirationsquelle denken. Noc Żywych Żydów ist jedoch mehr schwarze Satire als blanker Horror – reich an literarischen, politischen und historischen Bezügen und nicht ohne eine gewisse Raffinesse.
Warum sind die Keller in Warschau voll von wandelnden Untoten jüdischer Herkunft? Weil sie immer noch ans Leben gebunden sind: Einige von ihnen stehen unter Schock, andere fühlen sich von Gott beleidigt, wieder andere möchten sich nicht an die Vergangenheit erinnern und wollen nicht verzeihen. Die junge Rachela zum Beispiel hat während ihres kurzen Lebens nie gelächelt. Doch ohne ein Lächeln kann sie nicht in den Himmel kommen.
Diese Idee mag den polnischen Lesern bekannt vorkommen. Adam Mickiewicz greift sie in seinem Drama Dziady (Ahnenfeier) auf, einem kanonischen Werk der polnischen Nationalromantik, das jeder in Polen in der Schule lesen muss. Im zweiten Teil seines Dramas schildert Mickiewicz eine heidnische slawische Zeremonie, in der die Geister der Verstorbenen beschworen werden. So auch die Seelen von zwei kleinen Kindern, die nicht ohne Hilfe der Lebenden ins Himmelreich gelangen können: „Hört und wollet wohl erwägen dies Gebot von Gottes Hand: Wer nicht Bitternis gekannt, hat im Jenseits keinen Segen.“ Erst als sie je eine „Prise Bitterrinde“ bekommen, können sie die Erde verlassen. Auch bei Ostachowicz tun sich die Protagonisten zusammen, um Rachela zu helfen und sie zum Lächeln zu bringen. Um das zu erreichen, bringen sie die kleine Untote zum irdischen Paradies aller Teenager – ins Einkaufszentrum Arkadia, das im Warschauer Stadtteil Muranów tatsächlich existiert.
Das ganze Buch hindurch spielt Ostachowicz mit der Groteske: Er verortet ernsthafte Themen in trivialen Situationen, erläutert metaphysische Konzepte mit banalen Ausführungen und lässt drollige Protagonisten heikle Fragen angehen. Dazu benutzt er umgangssprachliche, manchmal vulgäre Ausdrücke, um philosophische Überlegungen oder historische Analysen anzustellen. Zu seinem Repertoire gehören auch die Zeitreise und die Magie, die mit Absicht etwas übertrieben und plump daherkommen. Plötzlich finden sich die Bewohner des heutigen Warschaus in der Zeit des Zweiten Weltkriegs wieder, obwohl sie einfach nur ihre Haustür öffnen wollten.
Die lustigen Gags und das Spiel mit den Literaturkonventionen sind Mittel, die zum einen schlicht der Unterhaltung dienen, zum anderen aber bewusst mit unseren Erwartungen brechen. So werden die Zombies nicht als Horrorfiguren dargestellt, sondern als sympathische Charaktere. Neben der schon erwähnten Rachela, die sich nach einem kurzen Styling schnell in der heutigen Wirklichkeit zurecht findet und sich bald mit allen Apple-Produkten bestens auskennt, lässt der Autor auch ihren Vater aus dem Keller auftauchen. Im Unterschied zu seiner nun emanzipierten Tochter, bleibt der Hauptmann des Ghetto-Aufstands seinen konservativen Ansichten treu. So ist er der Meinung, dass Kaffeetrinken nichts für Frauen sei, da es zum intensiven Denken anrege. Doch der sonst eher wortkarge und reservierte Hauptmann wird auf einmal redselig und gesellig, wenn er an einem Joint zieht. Auch Szymek und Aaron tauchen auf. Dem einen fehlt ein Auge, dem anderen die Hälfte seines Gesichts. Die Jungs leben sich ebenfalls sehr gut in der Gegenwart ein und schaffen es sogar, Geld zu verdienen: Sie organisieren Wettbewerbe an Supermarktkassen und nehmen Wettgebote an.
Es bedarf schon eines großen literarischen Geschicks, um die Charaktere sowohl grotesk als auch menschlich-authentisch zu gestalten. Mit den positiven Figuren gelingt dies Ostachowicz hervorragend. Der Hauptprotagonist des Romans, ein grüblerischer Fliesenleger mit Universitätsabschluss, der seine Lebensdoktrin als Nicht-Beteiligung definiert, und letztendlich doch allen möglichen Toten und Lebendigen hilft, ist als Charakter überzeugend, gerade weil er nicht einseitig konzipiert ist. Mit einem feinen Gespür für Nuancen, für die Komplexität der Beweggründe menschlichen Handelns und die Vielfalt von Menschentypen, Gemüter und Eigenschaften, belebt der Autor eine ganze Reihe unterschiedlichster Figuren. Es fällt schwer, sie für ihre Schwächen zu tadeln, aber umso leichter, sie einfach zu mögen.
Im Gegensatz zu den Guten sind die Bösewichte weniger glaubwürdig: Da gibt es zum Beispiel die denkfaulen Neonazis, die sich von Ktoś Zły (Jemand Bösem) bereitwillig benutzen lassen. Völlig unerwartet verwandelt sich dieser in Ktoś Zupełnie Zły (Jemand Vollkommen Bösen), bekommt Kuh-Hörner, einen Schwanz und Hufe. Seine Metamorphosen sind verwirrend und aus der Geschichte schwer nachvollziehbar. Daher muss Ostachowicz auf umständliche Monologe zurückgreifen, die dem Leser den Ursprung alles Bösen darlegen sollen. Die Taten der Bösen sind letzten Endes die Taten des Teufels.
Es ist insgesamt dennoch beeindruckend, wie treffend der Autor menschliche Eigenschaften und soziale Verhaltensweisen zu erfassen vermag. Ähnlich wie in richtig guten Comics gibt Ostachowicz Ereignisse in einer schnellen Abfolge wieder, in der sich Superheldentaten und Bemerkungen à la Beavis und Butt-Head mit Selbstironie und Kritik an der Konsumgesellschaft mischen. Darüber hinaus thematisiert der Autor auch das Phänomen der Intoleranz, das im Roman immer wieder auftritt: in den Handlungen der Figuren, ihren Emotionen und Vorstellungen.
Der Roman endet mit dramatischen, gewaltsamen Szenen, die Ostachowicz jedoch konsequent grotesk gestaltet. Und vielleicht ist so ein apokalyptisches Finale zwangsläufig notwendig, wenn am Anfang die grausame und noch lange nicht aufgearbeitete Vergangenheit plötzlich aus Kellern und Abwasserkanälen ans Licht gekommen ist.
Eine gewisse Eigenartigkeit kann man dem Buch nicht absprechen, und nicht weniger merkwürdig ist der Autor selbst. Nein, er ist kein Wunderkind der neuen polnischen Literatur, er ist nicht die Stimme der klagenden Generation Y, er ist auch kein Jude. Igor Ostachowicz ist Staatssekretär in der Kanzlei des Premierministers Donald Tusk, wo er das Regierungs-Informationszentrum leitet und für die Kommunikationsstrategie verantwortlich ist. Romane schreibt er in seiner Freizeit. Sein erstes Buch Potwór i panna (Das Monster und das Fräulein) hat er unter einem Pseudonym veröffentlicht. Die Identität des Autors dieser Horrorstory voller gewagter Erotik und Grausamkeit hat einige Spekulationen ausgelöst. Dann kam das zweite Buch, Noc Żywych Żydów, diesmal unter seinem eigenen Namen, und… der Skandal blieb aus.
Ostachowicz, Igor: Noc Żywych Żydów. Warszawa 2012.
Mickiewicz, Adam: Die Ahnenfeier. Aus dem Polnischen von Walter Schamschula. Köln 1991.