Kauderwelsch des Lebens, Russen in Berlin, Mein russisches Jahrhundert – die Titel von Fritz Mieraus Publikationsliste fügen sich zum Buchzeugnis über die slavistische Literaturwissenschaft ostdeutscher Prägung zusammen. Es führt eine Arbeit vor Augen, die über fünf Jahrzehnte hinweg bis heute andauert, leidenschaftlich und bescheiden betrieben.
Wenn ich Sieglinde und Fritz Mierau in Berlin besuche, gerate ich in eine etwas andere Welt, die aus der heutigen Zeit zu fallen scheint. Die Plattenbauten in der Nähe vom Alexanderplatz sind zwar von außen renoviert und somit eher Zeugnis der Erinnerungskultur an die DDR, in ihrem Inneren versteckt sich jedoch noch immer – unsichtbar für Einheimische und Touristen – ein intellektueller Rückzugsort der ehemaligen DDR.
Wenn der große Mann die Tür zu seiner kleinen Wohnung öffnet, spürt man zwischen Bücherwänden und dem Duft nach Pflaumenkuchen, dass man einen Ort der Arbeit und der Muße betritt. Auch seine Frau, die Germanistin und Skandinavistin Sieglinde Mierau, begrüßt mich herzlich, wofür sie sich vom Tippen auf der Schreibmaschine löst. Die beiden bilden eine einzigartige intellektuelle Gemeinschaft, u. a. verbunden durch ihre Herausgabe eines Almanachs für Einzelgänger (2001) sowie die gemeinsame Aufarbeitung der Werke von Franz Jung und Pavel Florenskij, dem Religionsphilosophen, Natur- und Kunstwissenschaftler.
Die Einrichtung der Wohnung, der Verzicht auf überflüssigen Konsum und auf „Apparate“, wie die Mieraus Telefone und Computer nennen, führen mir vor Augen, dass ich einer anderen Generation angehöre und mich nun in einem Universum fernab der Universität und mittendrin in einer literaturwissenschaftlichen „Produktionsstätte“ befinde.
Fritz Mierau verkörpert ein aus der Mode gekommenes Wissenschaftsideal, dem er in seiner über 50-jährigen Arbeit an über 100 Büchern und 500 Artikeln, die er verfasst, herausgegeben und übersetzt hat, treu geblieben ist. Außerhalb des Universitätsbetriebs, der in der DDR enorm politisiert gewesen ist, widmet er sich der zentralen Aufgabe der Literaturwissenschaft: Er forscht aus intrinsischer Motivation. Dies tut er auch noch in hohem Alter, es ist sein Alltag, ähnlich wie die emotionale Beschäftigung mit Literatur in der inoffiziellen Sowjetunion ein wesentlicher Bestandteil der Alltagskultur war.
Ebenso stark wie Mieraus Liebe zur Literatur kommt seine Liebe zur Freiheit zum Vorschein. Mit diesen beiden Standbeinen hat er sich selbstständig gemacht, wie man heute wohl sagen müsste: Als eine Ich-AG avant la lettre, losgelöst von vorgeplanten Laufbahnen und ehrgeizig lediglich in dem Sinn, nichts anderem als seinem Interesse für die in der DDR unterrepräsentierte literarische Moderne nachzugehen. Dass es mutig gewesen ist, sich diese Freiheit zu nehmen, braucht man nicht zu betonen: So schwierig es heute vorzustellen ist, so normal war es in der DDR, mit lebensbedrohlichen Repressionen zu rechnen, wenn man die Kunst verbotener und verfemter Dichter an die Öffentlichkeit herantragen wollte.
Fritz Mierau ist ohne Übertreibung einer der bedeutendsten deutschsprachigen Slavisten, und das bei bewusstem Verzicht auf eine Universitätskarriere. Im Jahr 1952 beginnt er ein Studium der Slavistik an der Humboldt-Universität – ursprünglich, um Handelskorrespondent zu werden. Nach einer kurzen Zeit als Assistent und Lehrbeauftragter kündigt er seine Stelle und ist sieben Jahre lang freiberuflich unterwegs. Die 1970er Jahre verbringt er unter Leitung von Werner Mittenzwei am Zentralinstitut für Literaturgeschichte, dem Vorläufer des heutigen Zentrums für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) in Berlin. Um nicht als SED-gefügiger und mustergültiger Massenschreiber zu gelten, nimmt er auch bald von dort Abschied. Dennoch hat er mehr geschrieben, als es im Universitätsbetrieb üblich ist. Zu schwarzem Tee mit selbst gebackenem Pflaumenkuchen legt Mierau eine Broschüre auf den Tisch, die den schlichten Titel Veröffentlichungen trägt. Darin stehen auf über 100 Seiten Literaturangaben aller von ihm publizierten Texte, akkurat von Karteikarten kopiert und teils mit Fotos und Kopien der Buch-Cover illustriert.Geschrieben hat er über revolutionäre Lyrik, linke Plakat- und Verskunst, die Sprache Lenins, über Maksim Gorkij und Vladimir Majakovskij. Diese Themen und Autoren waren in der DDR gern gesehen, auch wenn Mierau sie anders anging, anders mit ihnen umging, als man sich das vorstellte. Und dann waren da die anderen Themen und Schriftsteller: Gleich eine der ersten Monografien, Erfindung und Korrektur, veröffentlicht 1976, widmet sich dem 1937 erschossenen Avantgardisten Sergej Tret’jakov. Dieser hatte versucht, sich als Schriftsteller am Aufbau der Sowjetunion zwar zu beteiligen, diese aber durch seine operativen Reportagen auch zu ,korrigieren’. Diese Korrektur weist auf Verbesserungsbedarf hin und behält sich dabei vor, ein miterlebendes Schreiben auszuführen, das sich nicht eindeutig politisch positionieren lässt. Auch die Herausgabe von Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule (1987) ist den ungewöhnlichen Weg gegangen, biografie- und geschichtsferne Literaturtheorie mit Biografischem und Historischem zu verbinden. Damit hat der Band, bis heute ein Klassiker, mit der Vorstellung aufgeräumt, dass die gelebte Utopie der Intellektuellengemeinschaft sich nachfolgenden Denkern verschließt.
Sein Buch über Probleme sowjetischer Lyrik der zwanziger und dreißiger Jahre, das Mierau noch als Assistent an der Humboldt-Universität für eine Dissertation in Angriff genommen, aber als solche nie verteidigt hat, legt das Fundament für seine weitere Arbeit zu Protagonisten der russischen Avantgarde, darunter Isaak Babel’, Velimir Chlebnikov, Osip Mandel’štam und Sergej Esenin, nicht zu vergessen die beiden grandes dames Anna Achmatova und Marina Cvetaeva. Die Auswahl ist nicht zufällig, Mierau faszinieren eigensinnige Dichter und Intellektuelle, die ihre poetische Sprache trotz und gerade aufgrund der politischen Vereinnahmungen bewahrt haben.
Fritz Mieraus Bibliographie enthält auch Werkstattberichte. Bereits seit 1969, lange vor den selbstkritischen Wenden im Wissenschaftsdiskurs, kommentiert er die Slavistik als Disziplin. Diese Begleittexte könnten bedeutsame Quellen für eine noch ausstehende Geschichte des Fachs werden, schließlich hat sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts in die Slavistik wie in kein zweites Fach eingeschrieben.
Es ist immer wieder die kontextualisierte Biografie und die ,Stilgrafie’ der Autorinnen und Autoren, die Mierau bei seinen Erkundungen der russischen Literaturlandschaft in feinen Beobachtungen und originellen Bezeichnungen zu fassen vermag. Doch sind sein eigenes Leben und sein Schreiben nicht minder interessant. Gäbe es in der Literaturwissenschaft das Genre poetischer Artikel, könnte man Mierau ohne Umschweife als einen Meister dieser Disziplin bezeichnen. Denn seine eigene, unprätentiöse Beschreibungssprache entspricht im Grunde ganz und gar dem geforderten Standard des russischen Nationaldichters Aleksandr Puškin: Verständlich und zugänglich vermitteln die Lektüren komplizierte Zusammenhänge zwischen Geschichte und ästhetischem Geschehen.
In seiner Autobiografie Mein russisches Jahrhundert (2002) beschreibt der Breslau-Berliner Sachse die wichtigsten Stationen seines Schaffens. Dessen nationales und internationales Renommee spiegeln zahlreiche Ehrungen und Preise wider. Wäre Mierau nicht schon 1996 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet worden, könnte man ihn jetzt, da Russland sich in eine Schieflage manövriert, dafür vorschlagen. Sein Werk realisiert den Brückenschlag zwischen Ost- und Westeuropa. In dem Ausbalancieren beider kultureller Sphären steckt das Bemühen, die Wechselbeziehungen zwischen Künstlern, Konzepten und Konzentrationsorten einer gesamteuropäisch gedachten Kultur zu beleuchten. So hat das Buch Russen in Berlin (1987) die gemischte migrantische Bohème im Berlin der Zwischenkriegszeit entgegen dem politisch verordneten Vergessen ins Bewusstsein des deutschsprachigen Publikums gebracht.
Nicht zu vergessen das persönliche Engagement als Russlandvermittler in Deutschland und als Deutscher in Russland. Mierau war Ende der 1980er Jahre das letzte Mal dort. Umso neugieriger fragt er nach meinen Eindrücken von der diesjährigen Moskaureise. Zurückgefragt, ob sich sein Bild von Russland im Laufe der Jahrzehnte verändert habe, antwortet er, das lasse er sich nicht ändern. Sein Russland sei das 20., nicht das 21. Jahrhundert.
Mierau bezeichnet sich nicht als Wissenschaftler, sondern als Liebhaber der russischen Literatur, verfällt aber weder einer blinden Russlandliebe noch einer Rhetorik der Abwertung.
Seine Kritik, die er aus der eigenen Erfahrung, Literatur und Religionsphilosophie in einem früheren Gespräch mit Adelbert Reif ableitet, bleibt ausgewogen: Russland sei gewaltsamer, die orthodoxe Tradition kenne nur Gehorchen oder Bestrafen, die freundschaftlichen Beziehungen wahren nicht jene Distanz, die wir gewohnt sind, und so wie der russische Schriftsteller Andrej Belyj von seinem Freund Florenskij erwartet habe, geistig angeleitet zu werden, bestehe in Russland generell ein starker Wunsch nach einer dominierenden Macht. Doch sollte man sich durch die politische Rhetorik der Entfremdung nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass Deutsche und Russen sehr vieles verbunden hat und verbindet. Das Verbindende als literaturhistorisches Phänomen untersucht er nun in seinem aktuellen Buch über Maksimilian Vološin, den Dichter und Maler, dessen Haus auf der Krim die künstlerische Elite der Moderne versammelt hat. Mögen Mieraus Alltag und Haltung auf den ersten Blick anachronistisch erscheinen, seine Arbeit bleibt zeitlos.
Dem 1934 Geborenen merkt man sein Alter nicht an. Auch nicht den Ruhm. Allüren und Selbstdarstellung bleiben ihm fremd. Preise und Ehrungen nimmt er im engsten Kreis entgegen. Er steht abseits heutiger Medien, er möchte sie weder benutzen, noch von ihnen benutzt werden. In Gegenwart der Apparate verschwindet die Spontaneität, kommentiert seine Frau. Er möchte kein Interview zu seinem 80. Geburtstag geben; später und vielleicht gemeinsam mit seiner Frau. Ich hoffe, mich bald wieder auf den Weg aus dem Slavischen Seminar in der Plattenstraße zu den Plattenbauten in Berlins Mitte, dem heimlichen Slavistikmuseum und einer Insel der Inspiration, machen zu können.
Fotos: E. J. Ditschek, Tatjana Hofmann