Manifest des Retrofuturismus

Pavel Pepperštejn, Schriftsteller, Künstler und alter Moskauer Konzeptualist, entwirft eine Architektur für das neue Russland. Seine wundersamen Gebilde brechen eine Lanze für die organische Schönheit in einer bauplanerisch verschandelten Welt.

 

 

 

Ein Gebirgskamm als Umriss der Gestalt eines Betrunkenen, eine riesige Kaffeetasse mitten im Meer, in der die Weltregierung tagt, Großmütterchen Russlands zylinderförmiger Rock, der als riesige Kuppel die ganze Stadt überdacht: Bizarr und fremd muten die Bilder dieser gigantomanischen Architektur eines zukünftigen Russland in Pavel Pepperštejns bebilderten Erzählbänden oder vielmehr: erzählten Bildbänden an.

 

Moskauer Visionen

Pepperštejn trat in den späten 1980er Jahren zunächst als bildender Künstler der spätsowjetischen Avantgarde in Erscheinung und war Mitbegründer der Gruppe „Inspektion Medizinische Hermeneutik“, die dem Kreise der Moskauer Konzeptualisten entsprang. In den beiden 2016 erschienenen Bänden Stadt Russland und Der Architekt und das goldene Kind werden Visionen utopischer Architektur für sein Heimatland entworfen, für welches der Autor die Rolle des Stadt- und Zukunftsplaners übernimmt. Die Einleitung zu Stadt Russland bildet ein an den russischen Präsidenten adressierter Brief, in welchem Pepperštejn vorschlägt, aufgrund der ästhetischen Verunstaltung Moskaus und Petersburgs zwischen diesen eine neue Hauptstadt zu errichten. Zwar hat Putin auf den von Pepperštejn tatsächlich abgesendeten Brief nie geantwortet, jedoch konnte Pepperštejn mit seiner grotesken Nationalarchitektur im russischen Pavillion auf der Biennale in Venedig einige Jahre später sein Heimatland repräsentieren.

Seine dort ausgestellten und in den Bänden abgebildeten Denkmäler der Zukunft will er in der Tradition der konstruktivistischen Sowjetarchitektur verstanden wissen. Diese konnte sich am Anfang des 20. Jahrhunderts nicht gegen den diktierten stalinistischen, neoklassizistischen Mainstream durchsetzen und der Erhalt der Gebäude erweist sich auch heute noch als schwer. In Černichovs 1933 in Berlin vorgestellten Skizzen 101 Architektonische Phantasien kann man vor allem in der spielerischen Vermischung historischer Elemente und der rigorosen Ablehnung eines vulgären Funktionalismus einen Vorläufer Pepperštejns erkennen. Dessen erdachte Gebäude sind lebendige, mit der menschlichen Geschichte verwobene Organismen. Die Relikte unserer faktualen Gegenwart werden in Pepperštejns Fiktion zu schimmernden Artefakten transformiert: Sie gedenken der Biosphäre, der Landschaft, also der womöglich abhanden gekommenen Naturwüchsigkeit des Planeten, den althergebrachten Weltreligionen, Ikonen, politischen Ideen, typisierten Gestalten und vergessenen Kulturtechniken. So findet sich in der Sammlung ein „Denkmal der Farbe Gelb“ oder ein überdimensionales „A“, eine Buddha-Statue genauso wie ein Monument des Sowjetkommunismus. Fürs nationale Gedenken sorgt in der „Stadt Russland“ ein kolossales anthropomorphes Gebäude namens „Alte“, eine architektonische Darstellung des russischen Archetyps einer kopftuchtragenden Babuška mit Einkaufstaschen.

 

Phantastik und Futurismus

Der Blick durch die Lupe der Erinnerungskultur der „Stadt Russland“ bewirkt, dass unsere Gegenwart jetzt schon im Licht der Nostalgie erscheint. Pepperštejns Vision ist eine romantische Umkehrprojektion der Gegenwart als Geschichte der Zukunft, ein welt- und naturgeschichtlicher neuer Historismus, dessen Zweck die „tiefe Achtung vor der Vergangenheit und ihre Bewahrung“ ist. Seine Entwürfe stehen zwar einerseits in der Tradition avantgardistischer sowjetischer Architektur, erinnern aber andererseits in ihrer unfassbaren Übergröße und teils hypnotisch-halluzinatorischen Motivik an die literarische Phantastik. Genau wie in seinem in Russland zum Kultbuch avancierten Roman Die mythogene Liebe der Kasten oder seinen Kriegsgeschichten (die demnächst in der deutschen Übersetzung von Maria Rajer im ciconia Verlag erscheinen werden) mischen sich auch in die Rahmenerzählung der Bildbände phantastische Elemente. Die lebendigen Hausmäntel der Führungsriege, der unsterbliche, von Mystikern synthetisierte Regent Russlands, angeblich verschollene Muschelzivilisationen, spiritistische Kommunikation mit den Toten, oder auch schlicht der klassisch märchenhafte Auftakt der Rahmenerzählung durch „once upon a time“ unterstreichen die Verortung in dieser Tradition.

Pepperštejns international bekannter Landesgenosse, der Schriftsteller Vladimir Sorokin, mischt in seinen beiden zuletzt erschienen Romanen Der Schneesturm und Telluria ebenfalls munter Romantik mit Science-Fiction. Und auch in der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahre zeichnet sich ein Trend zu einer solchen Poetik ab. Kürzlich erschienene Romane wie Juan S. Guses Lärm und Wälder, Jakob Noltes Alff, Leif Randts Planet Magnon oder auch Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten werfen auf sehr ähnliche Weise beides zusammen und wurden im Literaturmagazin Metamorphosen in einem Manifest der Ultraromantik für gerade diese Vermischung gefeiert.

 

Mut zur Geschichte

Auch wenn einer der Pepperštejn-Entwürfe, das „Denkmal des Islams“ erstaunliche Ähnlichkeiten mit dem halbmondförmigen Crescent Moon Tower in Dubai aufweist, werden wohl die meisten seiner Skizzen genau wie die der frühsowjetischen Avantgarde keine Verwirklichung finden. Nichtsdestotrotz, stünden die wahnsinnigen Gebilde wirklich in den Steppen Sibiriens oder wie geplant in der Gegend von Bologoje, diese wären mit Sicherheit ästhetisch bereichert. Pepperštejn zeigt auf, dass der Funktionalismus und die Abwendung vom Ästhetischen und Mythischem in der Architektur nicht alternativlos sind. Nicht jeder Bezug auf Historisches endet notwendigerweise in historizistischem Kitsch, nicht jedes überdimensionierte Gebäude muss prätentiös und opulent wirken. Seine Visionen sind die Erinnerung an die Zukunft einer Welt, die die unsere ist, und deren Schönheit und Eigentümlichkeit in seinen architektonischen Entwürfen uns klar wieder vor Augen tritt.

 

Pepperstein, Pavel: Stadt Russland. Aus dem Russischen von Maria Rajer. Berlin: ciconia, 2016.
Pepperstein, Pavel: Der Architekt und das goldene Kind. Aus dem Russischen von Maria Rajer. Berlin: ciconia, 2016.

 

Weiterführende Links

Musikalisch untermalte Präsentation von Pepperštejns Gemälden auf der Biennale in Venedig 2009.

Reinecke, Willi: VOENNYE RASSKAZY – KRIEGSGESCHICHTEN. Pavel Pepperšteins Variationen zum Thema Krieg. novinki-Rezension, 2009.

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