Jaroslav Rudiš über Grenzgeschichten, Kapitalismus und tschechische Comics
Jaroslav Rudiš (*1972) hat im Wintersemester 2012/13 die von der HU in Kooperation mit dem Suhrkamp Verlag ins Leben gerufene und vom DAAD geförderte Siegfried-Unseld-Professur inne. Der tschechische Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker wurde vor allem durch seine Romane Der Himmel unter Berlin (2002) sowie Grand Hotel (2006) bekannt. Kürzlich sorgte die Verfilmung seines Comics Alois Nebel international für Furore, die jetzt für den European film award vorgeschlagen ist. Rudiš schreibt neben Romanen auch Theaterstücke, Opernlibretti, performt seine Literatur auf der Bühne, verfasst Comics gemeinsam mit dem Zeichner Jaromír 99, und tritt mit seiner Band The Bombers auf, in der auch sein Verleger spielt.
novinki: Herr Rudiš. Sie wurden 1972 in Turnov geboren, leben nach Unterbrechungen heute wieder in Tschechien. Wie ist dort die Stimmung unter jungen Leuten?
Jaroslav Rudiš: Ich würde mir mehr Rebellion wünschen. Mit der politischen Wende kam nicht nur eine Sehnsucht nach Freiheit, sondern vor allem eine große Sehnsucht nach dem westlichen Konsum. Wir wollten diese Musik, diese Jeans, coole T-shirts. Es hat gedauert, bis die Leute verstanden haben, dass die Demokratie nicht gleich Kapitalismus ist. Nun herrscht eine Kater-Stimmung. Revolution ist over. Mit dem Tod vom Václav Havel ist dieses Kapitel zu Ende.
n.: Sie haben lange in Berlin gelebt. Was unterscheidet die Tschechen von den Deutschen?
J.R.: Das ist eine Frage, die ich ziemlich oft höre. Ich finde: Im Grunde genommen sind wir uns ähnlicher als wir es uns vielleicht wünschen. Aber anders als die Polen und Deutschen mussten wir uns immer durchschlagen und zeigen, dass wir auch was geschafft haben. In Tschechien passieren auch tolle Dinge. Es gibt eine ziemlich spannende Literatur-Szene, Musik-Szene, das tschechische Kino ist großartig!
n.: Wir sind uns ähnlicher, als wir uns das wünschen? Wie meinen Sie das?
J.R.: Alle suchen nach den Unterschieden, für mich sind diese Unterschiede einfach gering. In Deutschland gibt es zwischen dem Süden und dem Norden mehr Unterschiede als zwischen Deutschen und Tschechen. Ich habe so eine Essens-Theorie. Es gibt eine Knödel-, Kraut- und Bier-Kultur, die uns in Mitteleuropa schwer beweglich und langsamer macht. Und die gibt es sowohl in Bayern und Sachsen als auch in Böhmen.
n.: Alle Ihre Geschichten spielen zwischen Berlin und Prag, in Tschechien, Deutschland und im Grenzgebiet. Ist es wichtig für Sie, Geschichten über Orte zu erzählen, die Sie kennen?
J.R.: Ja. Ich bin in der Nähe von Liberec, 60 km von der Grenze aufgewachsen. Zittau war näher als Prag, und bis zur Wende haben wir die Ferien immer in der DDR verbracht. Das war ganz natürlich, dass das dann in meine Geschichten eingeflossen ist. Ich finde gerade die Grenzen spannend, die in Mitteleuropa ja auch immer beweglich sind. Ich sagte ja schon, dass wir Mitteleuropäer, also Deutsche, Tschechen, Polen und so weiter, uns sehr ähnlich sind, eine gemeinsame Geschichte haben. Aber es gibt doch gewisse Unterschiede – und es ist natürlich besonders interessant, das zu beobachten.
n.: In früheren Interviews haben Sie erwähnt, wie wichtig kleine Geschichten sind, die Sie im Alltag aufschnappen. Dialoge, die Sie etwa in der U-Bahn mitgehört haben.
J.R.: Würde ich nur mein Leben beschreiben, würde daraus nur ein einziges Buch entstehen und dazu noch ein ziemlich dünnes und langweiliges. Ich höre also immer ein bisschen mit, wenn ich unterwegs bin. Ich habe ein ziemlich gutes Gedächtnis für so etwas. Die besten Dialoge merke ich mir. Daraus lassen sich manchmal ganze Charaktere bilden.
n.: Sehen Sie sich damit in einer Tradition mitteleuropäischer Schriftsteller?
J.R.: In der tschechischen Literatur gibt es eine Tradition, aus vielen kleinen Geschichten eine größere zu basteln. Ich denke, dass man in dieser fragmentarischen Art zu erzählen, den Einfluss der jüdischen auf die tschechische oder mitteleuropäische Kultur sieht. Dazu gehört auch ein ausgeprägter Sinn für das Tragikomische. Wenn man die großen Bücher der tschechischen Literatur liest, von Jaroslav Hašek oder Bohumil Hrabal, findet man lauter kleinere Geschichten, die am Ende eine größere Geschichte ausmachen. Das ist bei mir auch so. Vielleicht ist Tschechien einfach zu klein für große Romane.
n.: Mit Ihrer Graphic Novel-Trilogie Alois Nebel haben Sie etwas Neues probiert, tschechische Comics sind eher selten.
J.R.: In Tschechien, eigentlich im ganzen Ostblock gibt es so gut wie keine Graphic Novel-Tradition. Lange Zeit sah man Comics als „kapitalistischen Müll“ an. Es gab höchstens ein paar Bilder für Kinder. Als sich dann aber in den 60er Jahren – mit dem Prager Frühling – die Politik und Kultur ein wenig zu öffnen begannen, änderte sich das.
n.: Inwiefern?
J.R.: Ich erzähle Ihnen eine Anekdote. Einmal ging ich, eigentlich aus reiner Eitelkeit, in ein großes Buchkaufhaus in Prag und fragte eine ältere Verkäuferin dort: „Haben Sie Alois Nebel?“ Sie tippe „Alois Nebel“ in ihren Computer ein und sagte dann, ja, Alois Nebel, den finden sie bei der Verkehrsliteratur. Ich reagierte erstaunt und sie sagte: „Ja das hat doch was mit Zügen zu tun, oder?“. Vielleicht war ich damals auch deshalb so überrascht, dass sich unser Comic in Tschechien so gut verkauft hat. Weder Jaromír, der Zeichner, noch ich hätten gedacht, dass daraus sogar ein Theaterstück, ein Hörspiel und ein Film entstehen könnten. Und natürlich hat mich auch sehr gefreut dass es ins Deutsche und Polnische übersetzt wurde. Mittlerweile finden sich in allen tschechischen Buchhandlungen Regale mit Comics.
n.: Bei der Lektüre von Alois Nebel fallen optische Parallelen zu Filmen wie Sin City oder Persepolis auf. Liegt es an der fehlenden Comictradition Tschechiens, dass der Zeichner auf eine amerikanische Ästhetik zurückgegriffen hat?
J.R.: Jaromír kommt aus der Nähe des Altavtergebirge, einem Gebiet das selbst in Tschechien nur wenige Leute kennen. Dort ist die Scherenschnitttechnik weit verbreitet, auch als Beschäftigung für zu Hause. Jaromir hat den Look von beispielsweise Frank Millers Werken mit dieser Holzschnitttechnik kombiniert.
n.: Alois Nebel ist Fahrdienstleiter an einem kleinen Bahnhof in Bílý Potok. Gibt es ein reales Vorbild für die Hauptfigur?
J.R.: Mein Großvater. Ich habe ihn nie kennengelernt, er ist1960 gestorben. Aber ich kenne seine Geschichte und Geschichten. Als Eisenbahner im Sudetenland vor und nach dem zweiten Weltkrieg hat er viele traumatisierte Menschen erlebt. Aus seinem Namen Alois Rudiš habe ich dann die Metapher Alois Nebel gebaut. Die Ereignisse der Zeit, die Geschichten und Wunden der Menschen, scheinen manchmal wie von einem Nebelschleier umhüllt zu sein.
n.: Ihr erster Roman Der Himmel unter Berlin spielt hauptsächlich in der U-Bahn und Alois Nebel arbeitet bei der Eisenbahn. In Stille in Prag sind es Straßenbahnen. Warum?
J.R.: Diese Bahnen – Eisenbahn, U-Bahn, Straßenbahn – halten die Welt zusammen. Als ganz Mitteleuropa nach dem Krieg zerstört war, gab es trotzdem die Eisenbahnen und Schienensysteme. Auch in den 50er Jahren, der Zeit des Stalinismus in Tschechien, gab es immer noch Zugverbindungen zwischen München, oder Nürnberg und Prag. Mich fasziniert, was die Bahn als stummer Zeuge der Geschichte alles erlebt hat. Deshalb spielt Alois Nebel auf einem kleinen Bahnhof im Grenzgebiet, und durch diesen Bahnhof fahren die Züge, beladen mit dem ganzen 20. Jahrhundert. Das Gleiche gilt für die U-Bahn in Berlin. Vor zehn Jahren, als ich den Roman geschrieben habe, konnte man immer noch Bahnhofe finden, in denen sich nichts verändert hatte. Es gab da diese alten Kacheln und wenn du wirklich genau hingeschaut hast, dann konntest du noch die Einschusslöcher sehen.
n.: Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führten Patrycja Karaszewska, Hannes Puchta und David Zurschmitten.
Illustration von Nastasia Louveau