Zwei Inszenierungen von Jan Klata
„Nie biorę – jestem wolny od narkotyków“ („Nein danke! – Ich bin frei von Drogen“) war das Motto der abendlichen Jugendbegegnung mit Benedykt XVI. auf den Błonia, der größten Wiese in Krakau. Kein Wunder also, dass angesichts dieser Konkurrenzveranstaltung mit mehreren hunderttausend Teilnehmenden am Samstag, den 27. Mai die Ränge des Krakauer Stary Teatr deutliche Lücken aufwiesen. Trzy stygmaty Palmera Eldritcha (Die Drei Stigmata des Palmer Eldritch) wurde gegeben, und es mag wohl keinen passenderen Kontrapunkt zum traditionsreichen, alkoholfreien und, bis auf Kirchenlieder und rhythmische „Be – ne – detto“-Gesänge fast stillen, kurzum: von einer eigenartigen, besonderen Stimmung erfüllten Krakau des Papstwochenendes geben als die von Jan Klata inszenierte Science-Fiction-Welt Philip K. Dicks. Eine Welt, in der Drogen allgegenwärtig sind, in der Freiheit zur Illusion und Wirklichkeit und Wahn ununterscheidbar werden. Eine theatralische Gegenwelt, deren Szenerie sich erst nach und nach abzeichnet. Wir befinden uns im bedrohten Reich des Miniaturwaren vertreibenden Universalkonzerns Perky Pat und seiner Droge Can-D, die den zwangsverpflichteten Siedlern der Außenkolonien auf dem Mars eine Erinnerung an alte Erden-Zeiten zu verschaffen pflegt. Auf der Erde ist die schützende Ozonschicht schon lange Vergangenheit, die interstellare Kommunikation erfolgt über Videoschirme und in der terrestrischen Zentrale von Perky Pat spüren Hellseher den Verkaufserfolgen der Zukunft nach. Unter ihnen Barney Mayerson – wenn man so will, der Held einer Geschichte, die alles andere als eine Heldengeschichte ist – und Roni Fugate, seine aufstrebende Kollegin und Bettgefährtin. Nacktes Profitstreben und kapitalistische Kälte herrschen vor. Von Liebe, Gefühlen, menschlicher Wärme, Hunger oder Schönheit keine Spur. Es ist eine Welt, in der die Menschen letztlich Gefangene sind, wie selbst Perky Pat-Chef Leo Bulero noch erfahren wird, gefangen in den klimatisierten Räumen, die vor der unerträglichen Hitze draußen schützen, gefangen aber auch in der eigenen, kalten Angst. Und so fernab vom leicht feuchten polnischen Maienabend diese Welt mit ihren zweidimensionalen, gefühllos agierenden Automaten-Menschen auch liegen mag, so erscheint doch irgendwo in einem entfernten Gedanken-Winkel die Frage: Sollte dies unsere Zukunft sein?
Szenenwechsel: Angekaute Zwiebelringe und fettige Fleischstückchen fliegen ins Publikum, als Sylwek, seines Zeichens ‚Mexiko-Macho’ und erfolgreicher krimineller Kleinunternehmer sich einen Döner in den Mund stopft und mit vollem Mund seinem weniger erfolgreichen Invaliden-Schulfreund, dem Wachmann Agent 0,0000007, jovial erklärt, wie man es im Leben richtig macht. Der sich im angesagten Warschauer Teatr Rozmaitości anbahnende Ekel ist angebracht: Weź, przestań! (Nimm und hör auf!) ist der Titel des neuen Stücks von Jan Klata. Es ist die alltägliche, allzu bekannte Welt des przejście podziemne (Unterführung), in der wir uns befinden. Warschau, Warszawa Centralna, Centrum, irgendwo im Untergrund. Täglich durchquert, nie angehalten an der nach Urin stinkenden Ecke gleich hinter den Kiosks, wo die Trinker lagern und die Frauen Schnürsenkel verkaufen, wo Agent 0,0000007 sich die Beine in den Bauch steht und eine graue Gedenktafel an vergossenes Blut polnischer Helden erinnert. Es ist ein przejście: ein Durch-/ Unter-/ Übergang; eine Passage. Auf jeden Fall aber kein Ort zum Bleiben. Für die meisten jedenfalls. Immer wieder neu flutet im Rhythmus der Vorortzüge und im Takt der Metro lawinenartig der Strom der Pendler und Tagesmigranten über die Bühne. Wer sich hier aufhält, ist gestrandet. Wie Bonus, der Sektglas-Yuppie im blasstürkisen Anzug, ein notorisches Großmaul – „Jestem Bonus. Za wszystko inne trzeba płacić!“ („Ich bin Bonus, alles andere kostet extra!“) – der anfangs noch mit seinen Kumpels aus der Welt der Sportwagen und heißen Frauen so tut, als sei er im przejście podziemne nur auf Armuts-Safari. Bonus, der doch eigentlich auf der Flucht vor seinem leeren Leben ist. In Klatas radikal gegenwärtiger Szenerie gibt es keine Helden. Nur Menschen, die in keinem Telefonbuch erscheinen. Menschen, die scheinbar am Rande stehen und doch vor aller Augen mitten unter uns sind. Menschen, die erfolglos nach Sinn suchen. Menschen, die leiden, streiten, hoffen und verzweifeln. Klata legt mit seiner Darstellung des przejście podziemne als einem sozialen Knoten- und Brennpunkt den Finger in die Wunde der Gesellschaft. Ob die leicht humoreske Inszenierung im Teatr Rozmaitości ein erfolgreicher Beitrag zur Behandlung ist? „Dowcip leczy“ – „Humor heilt“, heißt es an einer Stelle.
Zwei völlig unterschiedliche Theater-Welten scheinen sich hier gegenüber zu stehen. Die kalte, sich über mehrere Planeten erstreckende futuristische Welt der „Trzy stygmaty…“ scheint mit der auf den immer gleichen Warschauer przejście podziemne beschränkten schlichten und doch lebhaften Szenerie von Weź, przestań! auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam zu haben. Was im einen Fall Teil einer fernen, fremden Welt der Zukunft voller Spezialeffekte ist, ist im anderen Fall nur eine Ellenbogenweite abseits des ganz alltäglichen Wegs durch die polnische Hauptstadt, fremd, aber auch allzu vertraut. Und doch: Es ist zweimal Theater à la Jan Klata. Zweimal Theater, in dem Menschen nicht Herr ihres eigenen Schicksals sind. Zweimal Theater ohne wirkliche Helden. Beim erneuten Blick wird deutlich, dass sich beide Szenarien keineswegs so diametral gegenüber stehen, wie es zunächst scheint. Viel eher wirken sie zeitlich verbunden, bilden e i n e Welt, bilden Gegenwart und Zukunft: Es ist die zukünftige Welt der „Trzy stygmaty…“, auf die die gesichts- und namenlose Masse der rastlos Vorbeieilenden im Warschauer Untergrund der Gegenwart zusteuert, eine kalte Welt des Kapitalismus, in der nur Erfolg und Weiterkommen zählen und das Gesetz des Stärkeren gilt: „gruba ryba łyka małą rybę” (Großer Fisch frisst kleinen Fisch). Diejenigen, die am Rande des Menschenstroms stehen, bekommen den Verlust des sozialen Zusammenhalts, den Verlust von Sinn und Religion zu spüren. Unter ihnen herrscht die Sprache der Verachtung vor. Rassismus sowie frauen- und schwulenfeindliche Sprüche sind allgegenwärtig. „Der Mensch ist ein Bazillus des Planeten Erde“, meint der Mann vom Bücherstand. Und doch zeigt das Schlaglicht, das auf die Menschen des przejście podziemne geworfen wird, dass zwar die Umstände alles andere als gut sind, dass es sich aber dennoch leben lässt, irgendwie. Leben! Da steht die Schnorrerin immer wieder aufs Neue im Strom der Vorübereilenden und sagt ihren Spruch auf, erfolglos meist und dennoch, als Bindeglied zwischen dem Strom und den Menschen am Rand, nicht völlig vergebens. Da ist der wundersame Hund Gryźli, der einem für 5 Złoty jede Krebsvorsorgeuntersuchung ersetzt, und durch instinktives Beschnuppern anzeigt, wer krank und wer gesund ist. Und da ist der erwähnte Wachmann Agent 0,0000007, der in all seiner Naivität und Harmlosigkeit wohl der einzige ist, der im przejście podziemne mit seiner Schnürsenkel verkaufenden Mutter noch eine Art interessenlose Solidarität verkörpert. Was alle verbindet, ist manches Mal die Klage – „W tym kraju się nie da!“ („In diesem Land kommt man nicht weit!“) – doch weit häufiger jene kleine Hoffnung, die im przejście podziemne alle teilen: den bescheidenen Traum von einem anderen Leben. Als der Hund stirbt, bekanntlich der ‚beste Freund des Menschen’, tritt die Fragilität des ‚Lebens an der Schwelle’, wie es der italienische Philosoph Giorgio Agamben wohl nennen würde, deutlich zu Tage. Mit seinem Tod stürzt auch die mühsam durch Hoffnung, Illusion und Glauben zusammengehaltene Lebenswelt am Rande der Unterführung in sich zusammen. Es ist der joviale Ganove Sylwek, der den Hund mit einem Schuß in den Kopf zu Boden streckt, nachdem dieser bei ihm Krebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert hat. Sylwek, der einzige, der sich im przejście podziemne vorbehaltlos wohl fühlt, der einzige, der hier Erfolg hat, der einzige, der keine Hoffnung braucht. Sylwek, der Pragmatiker, der sich wie ein Fisch im Wasser der Wirklichkeit bewegt, der sich auch durch den natürlichen Instinkt eines Hundes beim Erkennen von Zivilisationskrankheiten nicht beirren lässt, für den jede enge Moral nur hinderlich wäre. Was folgt? Die Schnorrerin verliert ihre bisher unerschütterliche Contenance und kann angesichts der taub vorbeihastenden Menschen nur noch fluchend eine „Pierrrdolona znieczulica!“ („Verfickte Gefühlslosigkeit!“) konstatieren. Przyruch, einer der Penner, schlägt die Schnürsenkelverkäuferin tot, weil sie sich über seine dreckigen Witze beklagt. Ihr Sohn, Wachmann Agent 0,0000007 stürzt herbei, bekommt einen Herzanfall und begibt sich ebenfalls auf die Reise ins Jenseits. Für sein übliches „ej, ej, przestańcie” („Ey, ey, hört auf!“) ist es schon lange zu spät. Die Zeit der Haie hat begonnen.
Doch zurück in die Zukunft: In der Welt der „Trzy stygmaty…“ leben die Gestrandeten auf dem Mars von derartigen Turbulenzen völlig unberührt. Eine Veränderung der Lage in den Außenkolonien ist auch völlig ausgeschlossen, Hoffnung ist nicht nötig. Und schließlich gibt es ja immer noch Can-D, das die temporäre Flucht in die nostalgische Kunstwelt der Erden-Vergangenheit ermöglicht… Aber gerade im Bereich der die dröge Realität erträglich machenden Drogen bahnt sich eine Revolution an. Ein neuartiges Produkt namens Chew-Z erscheint und verspricht den Marsbewohnern kein begrenztes Eintauchen in eine Welt der Nostalgie mehr, sondern nicht weniger als das ewige Leben. Kein Wunder, dass sich Perky Pat-Chef Leo Bulero angesichts dieser Konkurrenz Sorgen um seinen Absatz macht. Hinter dem neuen, angeblich aus Flechten gewonnenen Narkotikum steckt ein großer Unbekannter: Palmer Eldritch, der einst in den Weltraum aufbrach, um Gott zu finden. Nun ist er wieder da. Ohne Gott, dafür mit dem Erlösungsmittel Chew-Z. „Gott verspricht das ewige Leben. Wir liefern es frei Haus“, verkündet er werbewirksam. Während Can-D noch den Zugang zu einer Spielzeugwelt vermittelte, in der es das höchste der Gefühle bedeutete, als Barbie oder Ken ein Wunschbild der eigenen Vergangenheit nachzuspielen – und genau das wollen alle, die sich in der vorgefertigten Perky Pat-Welt wieder treffen – ist mit Chew-Z jegliche Gemeinschaft am Ende, gibt es nicht einmal mehr eine Gemeinschaft des Begehrens. Mit Chew-Z schafft sich jeder seine eigene Welt. Individuell, schrankenlos, grenzenlos! Freiheit pur.
Alle Versuche Leo Buleros, Palmer Eldritch zu stellen, sind kläglich zum Scheitern verurteilt. Stattdessen muss Bulero, als er in Eldritchs Gewalt gerät, selbst die Erfahrung der Ununterscheidbarkeit von eigener Vorstellung und Wirklichkeit machen, die mit der neuen Super-Droge Chew-Z Einzug hält. In Philip K. Dicks Roman aus dem Jahr 1964 findet sich in Palmer Eldritch am Ende eine letztlich unergründliche Lebensform verkörpert, die sämtliche Vorstellungs-Welten kolonisiert, um ihr Überleben zu sichern. Es sind die drei Stigmata des Palmer Eldritch: die pupillenlosen High-Tech-Weitwinkelaugen, der künstliche rechte Arm sowie die stählernen Zähne, die sich schließlich verbreitet durchsetzen. Es sind Zeichen einer Welt nach dem Sündenfall der Entmenschlichung. Palmer Eldritch ist überall. In der Krakauer Inszenierung Jan Klatas ist es die Evolutionstherapie des unheimlichen Dr. Denkmal, die die übersteigerte Welt der Entmenschlichung aufzeigen soll.
Doch kehren wir noch einmal zurück in den przejście podziemne, wo der Tod des Hundes die positive Kraft des Lebens im Keim versiegen lässt und die Realität schließlich durch keine Hoffnung mehr gehemmt wird.
Es ist Bonus, der am Ende den Schlussstrich zieht. Es ist Bonus, der nicht mit seinen Yuppie-Kollegen schon bald wieder das Weite sucht, sondern strandet. Es ist Bonus, der sein Geld nicht halten kann. Es ist Bonus, der an der Zivilisationskrankheit Krebs leidet. Es ist schließlich Bonus, der seine kindliche Angst eingesteht, die Erlösung durch Christus zu verpassen. In Klatas Warschauer Inszenierung sucht Bonus im kleinen Häuschen des Wachmannes Schutz, bevor er schließlich entflieht. Niemand bückt sich, um die umher fliegenden Banknoten aufzusammeln. Ob er sich in die Luft sprengt, wie es der Dramentext vorsieht? Seine letzten Worte stehen für das Bedürfnis nach einem direkten Draht ins Jenseits, für das Bedürfnis nach Erlösung: „I wanna taxi!“. Wo es keinen Bonus gibt, der mehr wäre als eine kostenlose Dreingabe, der die Frage aufwirft, was wohl wichtig und was gut (=bonus) ist im Leben.
Und doch wird Bonus vielleicht weiterleben, so wie die Übriggebliebenen aus dem przejście podziemne eben irgendwie weiter leben werden. Das Leben im przejście kennt keinen Anfang und kein Ende. Die Sympathie Klatas für die einfachen und häufig doch tragischen Gestalten, die Sympathie für das Leben, schimmert immer wieder durch, und so mag es nicht verwundern, dass Klata seinen eigenen Dramatext „Weź, przestań!“ nicht allzu ernst genommen hat: „Humor heilt“, heißt es schließlich darin. Doch vielleicht sind es ja auch gar nicht so sehr die im Übergang Gestrandeten, die uns zu denken geben sollten, sondern vielmehr die vielen Vorübergehenden, jene, die keine Zeit, keine Kraft oder keinen Mut haben, um im przejście inne zu halten. All jene, die sich unaufhörlich auf die Perky Pat-, auf die Can-D-, auf die Chew-Z-Welt zu bewegen. Dorthin, wo es am Ende nur noch eine scheinbare Wahl zwischen ununterscheidbaren Welten und Wirklichkeiten gibt.
Es mag kaum verwundern, dass nach Ende der Vorstellung am 27.Mai 2006 unter den Besucherinnen und Besuchern im Stary Teatr zunächst ein etwas ratloses Schweigen herrschte und sich dann alle doch recht schnell verliefen. Mich eingeschlossen. Zurück in der Gegenwart des päpstlichen Krakau, verkündeten nach wenigen Metern die Türme der Marienkirche: „Trwajcie mocni w wierze!“ (Bleibt fest im Glauben!) Ja doch! Nur welcher Glaube nochmal? Der an Can-D oder Chew-Z? Oder vielleicht doch jener an christliche Erlösung? An Liebe? Wirklichkeit? Auf den Krakauer Błonia dauerte die Jugendbegegnung mit Papst Benedikt und dem friedvollen Wachen und Singen im Anschluß noch die ganze Nacht. Es gab wohl nur wenige, die sich nach dem Theater noch den singenden Christen-Menschen anschlossen, um am nächsten Morgen bei der sonntäglichen großen Papstmesse dabei zu sein. Eine Million und der Papst. „Bóg obiecuje życie wieczne!“ – „Gott verspricht das ewige Leben.“ Alles ohne Drogen. Ob Jan Klata auch dabei war?
Trzy stygmaty Palmera Eldritcha. Nach einem Roman von Philip K. Dick. Text und Regie: Jan Klata. Bühne: Justyna Łagowska. Stary Teatr. Krakau. Premiere: 14. Januar 2006.
Rezensionen unter: www.teatry.art.pl/!recenzje/trzyspe_kla/index.htm
Weź, przestań! Text und Regie: Jan Klata. Bühne: Justyna Łagowska. Choreografie: Maćko Prusak. Teatr Rozmaitości. Warschau. Premiere: 21. April 2006.
Rezensionen unter: www.teatry.art.pl/!recenzje/wezp_kla/index.htm
Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt/ M. 2002.
Dick, Philip K.: The Three Stigmata of Palmer Eldritch. London 2003 (zuerst 1964), dt. Ausgabe Die drei Stigmata des Palmer Eldritch. München 2002.
Klata, Jan: Weź, przestań!. In: Echa, repliki, fantazmaty. Antologia nowego dramatu polskiego. Kraków 2005. S. 67-97.