Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Münd­liche Aus­stel­lung: Dmitrij-Strocev-Abend

Zusammen mit “novinki” orga­ni­sierte Ende Oktober 2012 die phi­lo­lo­gisch-lite­ra­ri­sche Initia­tive „Ruthenia Poe­tica“ der neu besetzten Juni­or­pro­fessur für West­sla­wi­sche Lite­ra­turen und Kul­turen  einen lite­ra­ri­schen Abend: Der Minsker Dichter Dmitrij Strocev las aus seinem neu­esten Gedicht­band “Gazeta” vor. Yaras­lava Ananka und Hein­rich Kirsch­baum führten für “novinki” ein Inter­view mit ihm.

 

Dmitrij Strocev wurde 1963 in Minsk geboren. Archi­tekt von Beruf, arbei­tete er zunächst als Desi­gner, dann war er im Ver­lags­wesen tätig. Wäh­rend der Pere­strojka wirkte Strocev bei der Künstler-Gruppe „Bel­o­russkij klimat“ (Weiß­rus­si­sches Klima) mit, die im Genre des „izu­stnoe kino“ (münd­li­ches Kino) und der „izu­st­naja vystavka“ (münd­liche Aus­stel­lung) arbei­tete. In den 1990ern orga­ni­sierte Strocev das Minsker Lyrik­fes­tival „Vremja i mesto“ (Zeit und Ort). Strocev war und ist als Dichter und Lite­ra­tur­träger ein untrenn­barer Teil des rus­si­schen poe­ti­schen Lebens der letzten 20 Jahre, er orga­ni­siert das Fes­tival des Stim­men­ge­dichts in Moskau, gibt den Alma­nach und die poe­ti­sche Reihe Mins­kaja škola (Minsker Schule) heraus. Autor von sieben Gedicht­bänden, Mit­glied des weiß­rus­si­schen PEN, Lau­reat der renom­mierten „Russ­kaja Pre­mija“, eines Preises für die besten rus­sisch­spra­chigen Autoren außer­halb Russ­lands, war er auf der Short­list des Andrej-Belyj-Preises, eines der renom­mier­testen lite­ra­ri­schen Prä­mien Russ­lands. Sein neuster Gedicht­band Gazeta (Die Zei­tung) erschien beim Ver­lags­haus „Novoe lite­ra­turnoe Oboz­renie“ (Neue lite­ra­ri­sche Rund­schau) und wurde intensiv von der rus­si­schen Lite­ra­tur­kritik rezen­siert und reflek­tiert. Für viele Leser und Kri­tiker war völlig uner­wartet, dass Strocev in seinen Texten die für ihn neuen, scharf sozialen und poli­ti­schen, Belarus und Russ­land betref­fenden Themen aufgriff.

 

 

 

novinki: Der Titel und die Themen deines Gedicht­bandes, in dem es viel scharfe soziale Lyrik gibt, recht­fer­tigt unsere fol­genden, ein wenig poli­ti­sierten Fragen an dich, obwohl wir uns im Klaren sind, dass das Poli­ti­sche nur eine Kom­po­nente deiner Dich­tung bildet. Beginnen wir aber mit der „reinen Poesie“. Vor Berlin warst du in Regens­burg auf einer Kon­fe­renz zur Dekla­ma­tion, als deren Theo­re­tiker und Prak­tiker. Sag uns bitte, welche Rolle für dich das Vor­tragen des Gedichts spielt: Ist das Laut­lich-Arti­ku­la­to­ri­sche ein untrenn­barer Bestand­teil des Gedichts, ver­stehst du ein Gedicht in diesem Sinn als ein Ereignis, oder ist es mehr oder weniger Dekor, ein Per­for­mance-Ver­fahren, das den Text zwar anrei­chert, aber den­noch sekundärbleibt?

 

Dmitrij Strocev: Für mich ist das Vor­tragen, die Aus‑ und Auf­füh­rung des poe­ti­schen Textes äußerst wichtig. Es ist kein Zufall, dass ich das Fes­tival der Stimm­lyrik (Fes­tival’ golo­so­vogo sticha) in Moskau mit­or­ga­ni­siere. Als Dekla­mator des Gedichts bin ich bereits ein Inter­pret, d.h. ein belie­biger Leser, den das Gedicht ergreift und eine Inter­pre­ta­tion ver­langt. Als Ideo­loge und Kurator des Fes­ti­vals der Stimm­lyrik habe ich eine Kon­zep­tion dazu ent­wi­ckelt: Die Dich­tung ist ein Phä­nomen der Rede, und nicht der Schrift, des­halb liegt die Erfül­lung des poe­ti­schen Ereig­nisses in seiner Aus­füh­rung. Der Text selbst ist nur als eine gewisse Stütze zu ver­stehen, ähn­lich wie bei der Notenaufschreibung.

 

n.: Dima, du gibst den Alma­nach und die Lyrik­reihe “Minsker Schule” heraus, die einige weiß­rus­si­sche Dichter ver­eint, die auf Rus­sisch dichten. Wie fühlt sich die rus­sisch­spra­chige Lyrik in Weiß­russ­land, wenn für die meisten der lin­gu­is­ti­sche und ethi­sche Code des Wider­stands das Weiß­rus­si­sche ist? Wie kommst du als Mensch und Künstler, der alles ver­steht und fein­fühlig spürt, was in Belarus vor sich geht, aus diesem Dilemma heraus?

 

D.S.: Als Dichter bin ich in der Minsker non­kon­for­mis­ti­schen Umge­bung auf­ge­wachsen, die sich in den 1970–80er Jahren her­aus­bil­dete. Ein paar Worte zur Her­kunft dieses Milieus: Minsk war vor der Revo­lu­tion eine mul­ti­eth­ni­sche Stadt. Auf den Straßen hörte man Jid­disch, Pol­nisch, Weiß­rus­sisch, Rus­sisch… Und sogar in der Sowjet­zeit waren diese vier Spra­chen aner­kannte Staats­spra­chen der Repu­blik. Eine Situa­tion, die ihres­glei­chen sucht. Nir­gendwo auf der Welt war Jid­disch eine offi­zi­elle Sprache, jedoch im Weiß­russ­land der 1920er Jahre schon. Nach dem Zweiten Welt­krieg ver­suchte die Sowjet­macht alles zu kon­ver­tieren, alles auf eine Sprache, auf das Rus­si­sche zu redu­zieren. Das Weiß­rus­si­sche wurde bloß formal unter­stützt. Und die jüdi­schen Dichter mussten vom Jid­di­schen zum Rus­si­schen über­gehen, da es keine jüdi­schen (und keine pol­ni­schen) Kul­tur­ein­rich­tungen und Aus­bil­dungs­stätten mehr gab. In den 1970ern wurde das einmal kleine pro­vin­zi­elle Minsk zu einer Mil­lio­nen­stadt, und die Dichter dieser Metro­pole schrieben in der Sprache, die sie beherrschten.

In der Zeit der Pere­strojka wurde es mög­lich, öffent­lich auf­zu­treten. In Minsk fanden zahl­reiche „Barden“-Konzerte statt, sehr viele Men­schen waren dabei und alles war auf Rus­sisch. Auf diesen Kon­zerten traten auch wir auf, wir lasen Gedichte zu aktu­ellen Ereig­nissen vor, und dann ging Zenon Poznjak [radi­kaler weiß­rus­si­scher poli­tisch-gesell­schaft­li­cher Akti­vist und Oppo­si­tio­neller – Anm. d. Red.] auf die Bühne. Er sprach demons­trativ Weiß­rus­sisch, und wenn er so über die Kur­o­paty, das Mas­sen­grab der Opfer des sta­li­nis­ti­schen Ter­rors, erzählte, erklärte er das Weiß­rus­si­sche implizit zur einzig legi­timen oppo­si­tio­nellen Sprache. Als die demo­kra­ti­schen Kräfte an die Macht kamen, wurde Zenon Poznjak zu ihrem Anführer und Symbol. Sogar der kano­ni­sierte weiß­rus­sisch-sowje­ti­sche Schrift­steller Vasil’ Bykau unterlag Poznjaks Anzie­hungs­kraft und bezeich­nete „alle rus­sisch­spra­chigen Men­schen in Weiß­russ­land“ – als – „eine Art Fünfte Kolonne“. Später distan­zierte sich Bykau davon. Heute sind viele Ver­treter des demo­kra­ti­schen Lagers über­zeugt, dass diese Art Sprach­po­litik der ent­schei­dende Fehler war, der Lukašenko an die Macht ver­half. Jeden­falls gab es damals des­wegen einen Riss in der demo­kra­ti­schen Bewegung.

 

n.: Und wie sieht die Situa­tion heute aus?

 

D.S.: Heute gehen weißrussisch‑ und rus­sisch­spra­chige Schrift­steller, Dichter und andere Kul­tur­ak­ti­visten wieder auf­ein­ander zu. Unsere alten Strei­tig­keiten und gegen­sei­tigen Vor­würfe sind bei­seite gelegt, und das ist tat­säch­lich eine wich­tige Wende, die sich in gemein­samen Pro­jekten aus­drückt, in gegen­sei­tigen Über­set­zungen und im gegen­sei­tigen Respekt. Ich hoffe, dass diese Ten­denz die Ober­hand gewinnen und zu guten Ent­wick­lungen führen wird. Ich glaube, dass die Zukunft nicht der weiß­rus­si­schen Sprache gehört, die das Rus­si­sche ver­drängt, und nicht dem Rus­si­schen, das das Weiß­rus­si­sche ver­drängt. Die Zukunft gehört der Wie­der­her­stel­lung der mul­ti­l­in­gualen Situa­tion. Das mag uto­pisch klingen, aber es liegt an der his­to­ri­schen Beson­der­heit des Landes, in dem ich lebe. In Weiß­russ­land gibt es heute das Weiß­rus­si­sche und das Rus­si­sche, das Pol­ni­sche kann zurück­kehren. Ich per­sön­lich träume davon, dass auch Jid­disch irgendwie zurückkehrt.

Wenn man den poe­ti­schen lite­ra­ri­schen Pro­zess als ein Wellen-Phä­nomen begreift, dann sehen wir, dass die weiß­rus­sisch­spra­chige Dich­tung heute „auf der Welle“ ist, und die rus­sisch­spra­chige eine Krise erlebt. Die weiß­rus­sisch­spra­chige Dich­tung ist kom­plex und viel­fältig. Ich nenne hier nur Vera Burlak oder Maryjka Mar­ty­sevič: Diese jungen Dich­te­rinnen machen letzt­end­lich das, was auch ich auf meine Art und Weise mache. Maryjka Mar­ty­sevič hat ein Gedicht „Naradzi prė­zi­dėnta!“ („Gebäre den Prä­si­denten!“) geschrieben. Das ist eine Ant­wort auf das rus­sisch­spra­chige Gedicht Sla­vamir Ada­mo­vičs aus den 1990er Jahren „Ubej pre­zi­denta!“ („Töte den Prä­si­denten!“). Ich finde, es ist eine gute Tendenz.

 

n.: In Minsk prä­sen­tier­test du deinen Gedicht­band “Gazeta” (Die Zei­tung) am 10. Oktober, am Tag des Kampfes gegen die Todes­strafe. Die Explo­sion in der Minsker U‑Bahn 2011 und die Hin­rich­tung der Ange­klagten wurden für viele zum letzten Tropfen, nach dem man nicht mehr apo­li­tisch bleiben und mit der herr­schenden Macht und Staats­ge­walt fried­lich ko-exis­tieren kann. Du hast einen offenen Brief an Lukašenko geschrieben mit der Bitte, das Todes­ur­teil auf­zu­heben, die Tat gründ­lich zu unter­su­chen oder dich mit den Ange­klagten zu erschießen. Was geschah mit dem Land und mit dir per­sön­lich nach dieser Hinrichtung?

 

D.S.: Es ist nicht leicht, sich zu diesem Thema lako­nisch zu äußern. Ich ver­suche es trotzdem. Dieser Pro­zess und diese Hin­rich­tung gingen jeden Weiß­russen an. Und es ist seltsam. Natür­lich gab es viele außer­halb des Landes, die diesen Pro­zess kri­tisch und teil­nah­me­voll mit­ver­folgten. Aber alle Weiß­russen, unab­hängig von ihrer poli­ti­schen Ein­stel­lung, erlebten es als ihr per­sön­li­ches, fami­liäres Unglück, weil die Opfer keine Aus­länder waren und keine Ver­treter der Oppo­si­tion oder der Macht­struk­turen, son­dern Men­schen, die man aus der Men­schen­menge auf der Straße her­aus­riss. Und alle begreifen nun, das ist der Punkt, wo jeder seine Wahl treffen muss: Ent­weder ver­steht man, dass es zuhause keine Gewalt geben darf, oder man ent­scheidet sich dafür, dass es Ziele gibt, für die wir unsere Kinder opfern können. Natür­lich kommt es im Bewusst­sein der Men­schen zu allerlei Ver­drän­gungen und Sub­sti­tu­tionen in der Art: Ja, die Hin­rich­tung gab es, aber viel­leicht waren sie doch irgendwie schuldig etc. Das sind alles Beru­hi­gungs­mittel und Abwehr­me­cha­nismen, damit man nicht mit dem ent­blößten, nackten Gewissen lebt. Trotzdem kann so ein Schlag gegen das Gewissen der Men­schen nicht ohne Folgen bleiben. Weiß­russ­land ist das ein­zige Land in Europa, wo die Todes­strafe voll­streckt wird. Den Grad des Ver­trauens gegen­über der Gewalt zu über­prüfen oder die Frage nach der Todes­strafe zur Volks­ab­stim­mung zu bringen, ist aus­sichtslos. Die Mehr­heit wird sich natür­lich für die Todes­strafe aus­spre­chen. Aber heute gibt es eine starke Min­der­heit, die zu einem Dialog inner­halb des Landes bereit ist, bereit zur müh­samen Arbeit in dieser Richtung.

 

n.: Vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Inter­view führten Hein­rich Kirsch­baum und Yaras­lava Ananka.

 

Illus­tra­tion von Nastasia Louveau