Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Beklem­mung, Ver­zweif­lung, Enttäuschung

Rok Kohouta von Tereza Boučková

 

Es läuft ein­fach nicht, weder beruf­lich noch privat. Sie ist eine Autorin und kann nicht schreiben. Das letzte Erfolgs­er­lebnis ist schon lange her. Nie­mand will ihre Dreh­bü­cher. Sie streitet sich mit den Regis­seuren, dem Pro­du­zenten, nie­mand kann es ihr recht machen. Und das Fami­li­en­leben ist ein ein­ziger Scher­ben­haufen. Die Söhne Patrik und Lukáš lügen und stehlen. Den ältesten, Patrik, hat sie schon aus dem Haus geworfen. Da er einen Klub aus­ge­raubt hat, fahndet nach ihm die Polizei. Wie oft war sie schon wegen ihrer Söhne bei einer gericht­li­chen Anhö­rung. Ständig müssen sie und ihr Mann alles im Haus abschließen und ver­ste­cken, damit die eigenen Kinder sie nicht bestehlen. Damit muss man rechnen, sagt die Sozi­al­ar­bei­terin, denn es sind ja beide adop­tierte Roma-Kinder. Das wollte und will sie nicht wahr­haben. Hat sie doch etwas falsch gemacht, die adop­tierten Kinder und ihr drittes, bio­lo­gi­sches Kind unter­schied­lich behan­delt? Sie kann nachts nicht schlafen, ständig tut ihr etwas weh, sie fühlt sich schlecht, zit­tert, fängt an zu stot­tern. Beklem­mung, Selbst­zweifel und Angst­zu­stände über­kommen sie. Ständig muss sie weinen. Schreib alles auf, sagt AJL. Schreib, schreib, sagt der Vater. AJL ist ein bekannter Lite­ra­tur­kri­tiker und Publi­zist, dem sie das Buch widmet. Ihr Vater ist ein berühmter Schrift­steller. Es fällt ihr schwer, aus seinem über­mäch­tigen Schatten zu treten. Gleich­zeitig hat sie ein schwie­riges Ver­hältnis zu ihm. Sie und ihre Geschwister stammen aus einer frü­heren Ehe des Vaters. Er scheint nur wenig Inter­esse für sie zu zeigen. Ihre Erwar­tungen werden nie erfüllt. Kon­takt zu ihrem Vater hat sie nur sporadisch.

Nach ihrem Erst­lings­werk Indiánský běh (dt. India­ner­lauf) und dem Dreh­buch zum Film Smradi (Stinker) ist Rok Kohouta (Das Jahr des Hahns) das dritte Buch von Tereza Bouč­ková, das sich mit den Pro­blemen ihrer Familie aus­ein­an­der­setzt. Der Buch­um­schlag stammt, wie schon bei India­ner­lauf, von ihrem Bruder, dem Maler Ondřej Kohout. Mit India­ner­lauf zog sie die Kritik der ehe­ma­ligen Dis­si­denten auf sich, da sie diese sowie ihren Vater Pavel Kohout und das Auf­wachsen in einer Dis­si­den­ten­fa­milie aufs Korn genommen hat. In Smradi geht es um die Vor­ur­teile in einer Klein­stadt gegen eine Familie, die Roma-Kinder adop­tierte. Rok Kohouta bildet in dieser Reihe eine Fort­set­zung. In Smradi waren die Kinder noch klein, in Rok Kohouta sind sie schon fast erwachsen. In einer Frau­en­zeit­schrift gab Bouč­ková noch vor der Ver­öf­fent­li­chung ihres letzten Buchs ein Inter­view, in dem sie die Erzie­hung ihrer adop­tierten Roma-Kinder als Fehl­schlag bezeich­nete. Dies führte zu einer Kon­tro­verse mit dem Schrift­stel­ler­kol­legen Jáchym Topol, der ihr in der ange­se­henen Wochen­zei­tung Respekt Ras­sismus vor­ge­worfen hat. All das wird im auto­bio­gra­fi­schen Roman Rok Kohouta reflek­tiert. Tag für Tag erzählt die Autorin, was sie gerade denkt, fühlt, träumt, erleidet, erlebt. Wie sie von der Frau­en­zeit­schrift inter­viewt wird. Wie sie für die Fotos zurecht­ge­macht wird. Wie nach dem Inter­view die Kri­tiker über sie her­fallen. Empörte Leser­briefe werden zitiert. Aber auch die Gespräche mit anderen Pflege-Eltern, die ähn­liche Pro­bleme haben wie sie. Hat sie Vor­ur­teile? Das weist sie weit von sich. Aber die Zweifel bleiben. Und die Selbstvorwürfe.

Der Leser wird in den Erzähl­pro­zess ein­be­zogen. Kann sie die Namen ihres Mannes, ihrer Kinder und der unmit­telbar Betrof­fenen nennen? Nein, das möchte sie auf keinen Fall! Daher ändert sie sie. Der Buch­titel schafft eine Brücke zu der realen Welt. ‘Kohout’ heißt auf deutsch ‘Hahn’. Die Erzäh­lerin bekommt im Theater eine Frei­karte, wenn sie ihren Mäd­chen­namen angibt. Dort wird gerade nach dem chi­ne­si­schen Kalender das Jahr des Hahns gefeiert. Im Jahr des Hahns ist sie geboren (1957), als ‘Kohout’ wurde sie geboren, und im Jahr des Hahns fängt sie an, dieses Buch zu schreiben (2005). Einige Per­sonen bleiben namenlos oder werden nur mit Abkür­zungen ver­sehen. Den­noch wird der kun­dige Leser kaum Schwie­rig­keiten haben, sie im Roman zu erkennen. Anders als in India­ner­lauf, wo die Autorin reale Per­sonen hinter phan­ta­sie­volle Namen ver­steckt, ver­zichtet sie hier weit­ge­hend auf Verschlüsselungsstrategien.

Schon in ihrem Erst­lings­werk zeigte Bouč­ková ihr großes lite­ra­ri­sches Talent. Ganz in der Tra­di­tion eines Karel Čapek oder eines Ludvík Vaculík schreibt sie in einem lako­ni­schen tra­gisch-komi­schen Plau­derton, bei dem man sich nie sicher sein kann, ob man über die Tragik des Erzählten lieber lachen oder weinen sollte. Dadurch wird eine selbst­iro­ni­sche Distanz zu den trau­rigen Ereig­nissen geschaffen, die umso beklem­mender wirken. Auch in Rok Kohouta setzt sich dieser Stil fort, jedoch ist die Stim­mung düs­terer. Das Augen­zwin­kern blitzt an vielen Stellen auf, bei­spiels­weise als die Autorin wieder einmal Lukáš beim Stehlen erwischt und sich fragt, ob er sich wohl ent­schul­digt. Das letzte Mal hat er es noch getan, aber sie hat ihn nur ange­brüllt, er solle auf­hören zu stehlen und sich nicht ent­schul­digen. Und in der Tat hörte er auf – sich zu entschuldigen.

Das erste Buch von Bouč­ková beein­druckte mit kunst­voller Erzähl­kon­struk­tion, indem in vier Geschichten mit unter­schied­li­chen Motiven und Per­spek­tiven jon­gliert wurde. Das neue Buch ist gerad­li­niger. Von der ersten bis zur letzten Seite befindet sich der Leser unmit­telbar in der Gefühls­welt der Erzäh­lerin, mit allen Höhen und noch viel­mehr Tiefen. Man merkt, dass die Autorin sich die Last von der Seele schreiben will. Schreiben als Therapie.

Direkt nach Erscheinen sorgte das Buch für Kon­tro­versen. Die Vor­würfe gehen über­wie­gend in zwei Rich­tungen: Zum einen spielen die Kri­tiker Psy­cho­logen und fragen, ob die Autorin auf­grund ihrer schwie­rigen Kind­heit nicht als Mutter von Adop­tiv­kin­dern über­for­dert gewesen sei. Dieses reflek­tiere sie nicht. Auch erfahre man nichts über die Posi­tion des Ehe­manns oder gar der betrof­fenen Kinder. Zum anderen muss sie sich den Vor­wurf gefallen lassen, auf hohem lite­ra­ri­schen Niveau erneut Ras­sismus und Vor­ur­teilen gegen Roma Vor­schub zu leisten. Darf man über jedes belie­bige Thema schreiben, oder muss sich eine gute Autorin nicht auch Gedanken über die mög­liche gesell­schaft­liche Wir­kung ihrer Bücher machen? Die Autorin gibt keine Ant­worten auf die schwie­rigen Fragen, die sie auf­wirft, sie bietet nur scho­nungs­lose Offen­heit an. Das Jahr des Hahns, ein Jahr im Leben einer schwie­rigen Familie.

 

Bouč­ková, Tereza: Rok Kohouta. Praha 2008.

Bouč­ková, Tereza: India­ner­lauf. Aus dem Tsche­chi­schen von Kathrin Liedtke und Eva Pro­fou­sová. Berlin 1993.

Bouč­ková, Tereza: Indiánský běh. Praha 1992.