Rok Kohouta von Tereza Boučková
Es läuft einfach nicht, weder beruflich noch privat. Sie ist eine Autorin und kann nicht schreiben. Das letzte Erfolgserlebnis ist schon lange her. Niemand will ihre Drehbücher. Sie streitet sich mit den Regisseuren, dem Produzenten, niemand kann es ihr recht machen. Und das Familienleben ist ein einziger Scherbenhaufen. Die Söhne Patrik und Lukáš lügen und stehlen. Den ältesten, Patrik, hat sie schon aus dem Haus geworfen. Da er einen Klub ausgeraubt hat, fahndet nach ihm die Polizei. Wie oft war sie schon wegen ihrer Söhne bei einer gerichtlichen Anhörung. Ständig müssen sie und ihr Mann alles im Haus abschließen und verstecken, damit die eigenen Kinder sie nicht bestehlen. Damit muss man rechnen, sagt die Sozialarbeiterin, denn es sind ja beide adoptierte Roma-Kinder. Das wollte und will sie nicht wahrhaben. Hat sie doch etwas falsch gemacht, die adoptierten Kinder und ihr drittes, biologisches Kind unterschiedlich behandelt? Sie kann nachts nicht schlafen, ständig tut ihr etwas weh, sie fühlt sich schlecht, zittert, fängt an zu stottern. Beklemmung, Selbstzweifel und Angstzustände überkommen sie. Ständig muss sie weinen. Schreib alles auf, sagt AJL. Schreib, schreib, sagt der Vater. AJL ist ein bekannter Literaturkritiker und Publizist, dem sie das Buch widmet. Ihr Vater ist ein berühmter Schriftsteller. Es fällt ihr schwer, aus seinem übermächtigen Schatten zu treten. Gleichzeitig hat sie ein schwieriges Verhältnis zu ihm. Sie und ihre Geschwister stammen aus einer früheren Ehe des Vaters. Er scheint nur wenig Interesse für sie zu zeigen. Ihre Erwartungen werden nie erfüllt. Kontakt zu ihrem Vater hat sie nur sporadisch.
Nach ihrem Erstlingswerk Indiánský běh (dt. Indianerlauf) und dem Drehbuch zum Film Smradi (Stinker) ist Rok Kohouta (Das Jahr des Hahns) das dritte Buch von Tereza Boučková, das sich mit den Problemen ihrer Familie auseinandersetzt. Der Buchumschlag stammt, wie schon bei Indianerlauf, von ihrem Bruder, dem Maler Ondřej Kohout. Mit Indianerlauf zog sie die Kritik der ehemaligen Dissidenten auf sich, da sie diese sowie ihren Vater Pavel Kohout und das Aufwachsen in einer Dissidentenfamilie aufs Korn genommen hat. In Smradi geht es um die Vorurteile in einer Kleinstadt gegen eine Familie, die Roma-Kinder adoptierte. Rok Kohouta bildet in dieser Reihe eine Fortsetzung. In Smradi waren die Kinder noch klein, in Rok Kohouta sind sie schon fast erwachsen. In einer Frauenzeitschrift gab Boučková noch vor der Veröffentlichung ihres letzten Buchs ein Interview, in dem sie die Erziehung ihrer adoptierten Roma-Kinder als Fehlschlag bezeichnete. Dies führte zu einer Kontroverse mit dem Schriftstellerkollegen Jáchym Topol, der ihr in der angesehenen Wochenzeitung Respekt Rassismus vorgeworfen hat. All das wird im autobiografischen Roman Rok Kohouta reflektiert. Tag für Tag erzählt die Autorin, was sie gerade denkt, fühlt, träumt, erleidet, erlebt. Wie sie von der Frauenzeitschrift interviewt wird. Wie sie für die Fotos zurechtgemacht wird. Wie nach dem Interview die Kritiker über sie herfallen. Empörte Leserbriefe werden zitiert. Aber auch die Gespräche mit anderen Pflege-Eltern, die ähnliche Probleme haben wie sie. Hat sie Vorurteile? Das weist sie weit von sich. Aber die Zweifel bleiben. Und die Selbstvorwürfe.
Der Leser wird in den Erzählprozess einbezogen. Kann sie die Namen ihres Mannes, ihrer Kinder und der unmittelbar Betroffenen nennen? Nein, das möchte sie auf keinen Fall! Daher ändert sie sie. Der Buchtitel schafft eine Brücke zu der realen Welt. ‚Kohout‘ heißt auf deutsch ‚Hahn‘. Die Erzählerin bekommt im Theater eine Freikarte, wenn sie ihren Mädchennamen angibt. Dort wird gerade nach dem chinesischen Kalender das Jahr des Hahns gefeiert. Im Jahr des Hahns ist sie geboren (1957), als ‚Kohout‘ wurde sie geboren, und im Jahr des Hahns fängt sie an, dieses Buch zu schreiben (2005). Einige Personen bleiben namenlos oder werden nur mit Abkürzungen versehen. Dennoch wird der kundige Leser kaum Schwierigkeiten haben, sie im Roman zu erkennen. Anders als in Indianerlauf, wo die Autorin reale Personen hinter phantasievolle Namen versteckt, verzichtet sie hier weitgehend auf Verschlüsselungsstrategien.
Schon in ihrem Erstlingswerk zeigte Boučková ihr großes literarisches Talent. Ganz in der Tradition eines Karel Čapek oder eines Ludvík Vaculík schreibt sie in einem lakonischen tragisch-komischen Plauderton, bei dem man sich nie sicher sein kann, ob man über die Tragik des Erzählten lieber lachen oder weinen sollte. Dadurch wird eine selbstironische Distanz zu den traurigen Ereignissen geschaffen, die umso beklemmender wirken. Auch in Rok Kohouta setzt sich dieser Stil fort, jedoch ist die Stimmung düsterer. Das Augenzwinkern blitzt an vielen Stellen auf, beispielsweise als die Autorin wieder einmal Lukáš beim Stehlen erwischt und sich fragt, ob er sich wohl entschuldigt. Das letzte Mal hat er es noch getan, aber sie hat ihn nur angebrüllt, er solle aufhören zu stehlen und sich nicht entschuldigen. Und in der Tat hörte er auf – sich zu entschuldigen.
Das erste Buch von Boučková beeindruckte mit kunstvoller Erzählkonstruktion, indem in vier Geschichten mit unterschiedlichen Motiven und Perspektiven jongliert wurde. Das neue Buch ist geradliniger. Von der ersten bis zur letzten Seite befindet sich der Leser unmittelbar in der Gefühlswelt der Erzählerin, mit allen Höhen und noch vielmehr Tiefen. Man merkt, dass die Autorin sich die Last von der Seele schreiben will. Schreiben als Therapie.
Direkt nach Erscheinen sorgte das Buch für Kontroversen. Die Vorwürfe gehen überwiegend in zwei Richtungen: Zum einen spielen die Kritiker Psychologen und fragen, ob die Autorin aufgrund ihrer schwierigen Kindheit nicht als Mutter von Adoptivkindern überfordert gewesen sei. Dieses reflektiere sie nicht. Auch erfahre man nichts über die Position des Ehemanns oder gar der betroffenen Kinder. Zum anderen muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, auf hohem literarischen Niveau erneut Rassismus und Vorurteilen gegen Roma Vorschub zu leisten. Darf man über jedes beliebige Thema schreiben, oder muss sich eine gute Autorin nicht auch Gedanken über die mögliche gesellschaftliche Wirkung ihrer Bücher machen? Die Autorin gibt keine Antworten auf die schwierigen Fragen, die sie aufwirft, sie bietet nur schonungslose Offenheit an. Das Jahr des Hahns, ein Jahr im Leben einer schwierigen Familie.
Boučková, Tereza: Rok Kohouta. Praha 2008.
Boučková, Tereza: Indianerlauf. Aus dem Tschechischen von Kathrin Liedtke und Eva Profousová. Berlin 1993.
Boučková, Tereza: Indiánský běh. Praha 1992.