Stefan Kis’ovs Roman Der Exekutor
Mit dem Job-Angebot verhielt es sich auf dem bulgarischen Arbeitsmarkt in den 1980ern ähnlich wie mit dem Waren-Angebot in den meisten bulgarischen Supermärkten – man stand lange an, um dann zu sehen, dass doch nichts da ist. Das ‚Super‘ vor ‚Markt‘ war lediglich eine euphemistische Hyperbel aus dem westlichen Sprachgebrauch, und nach der Schule wurde man – trotz Abitur – ‚nur‘ Elektromonteur.
So zumindest ist es Stefan Kis’ov ergangen. Als Absolvent eines französischen Gymnasiums arbeitete er 1984 zuerst in einem Sofioter Straßenbahndepot als Elektriker, später an einer Hotelrezeption an der Schwarzmeerküste. Anschließend war er für kurze Zeit Mechaniker und kellnerte im Regierungsgebäude für den Präsidenten, emigrierte dann in die Schweiz, um schließlich in seine Heimatstadt Stara Zagora zurückzukehren und einen Job als Bühnenarbeiter anzutreten. Nebenbei studierte er an den Universitäten von Plovdiv und Sofia sowie an der Pariser Sorbonne. Das Studium führte Kis’ov zum Journalismus; zuletzt schrieb er für diverse bulgarische Zeitungen wie Sega, Dnevnik und 168 časa.
Von ähnlicher Unstetigkeit wie die Arbeitsbiografie Kis’ovs ist auch der Roman Der Exekutor geprägt. Der Held des Romans, Stefan Gaštev, ist mal hier und mal da, aber nirgendwo richtig. Und vor allem nirgendwo wirklich angekommen.
Ich war kaum 28 Jahre alt und gerade einer Welt entkommen, in der die Kaserne und das Gefängnis mein einziges Zuhause waren. Hauptsächlich von Männern sowie von einer Grobheit und Grausamkeit bewohnt, die absurden Gesetzen folgte. Diese zwei, sich in ihrer Sehnsucht nach Frauen und Zärtlichkeit ähnelnden Welten wetzten meinen Sexualtrieb, ähnlich der Klinge eines fabrikneuen Rasiermessers. Aber die Mädchen waren auch nicht ohne! Sie trainierten tagelang unermüdlich zusammen mit uns in den Sportsälen und Stadien, um die für alle so notwendige Fitness und kosmische Ausdauer zu erlangen. Und trotz hässlicher Militäruniformen, die wir alle ausnahmslos tragen mussten, war keine besondere Auffassungsgabe oder Intellekt von Nöten, um die Natürlichkeit und Schönheit weiblicher Formen unter den zerknitterten Uniformen zu erkennen. Während man sich den imaginären Renaissancebildern hingab – träumte man ein wenig von ihnen.*
Bevor die Geschichte einen haarsträubend absurden Verlauf nimmt und Stefan Gaštev zum Astronauten, unfreiwilligen Attentäter und Mörder wird, wächst er in der Welt des Zirkus auf. Er ist der Sohn eines berühmten bulgarischen Zirkusclowns, welcher durch die Lande tourt. Natürlich immer nur bis zur „roten Linie“, entlang der Grenzen des Ostblocks. Während der Vater als Star des Zirkus Dobrič glänzt, ist die Figur des Sohnes Stefan eher matt: Im Alter von zwei Jahren an Rachitis erkrankt, ist sein Brustkorb eingefallen, seine Haltung gekrümmt und seine Beine auch im Erwachsenenalter ein wenig verbogen. Die Krankheit scheint nach außen zu tragen, was er im Innersten fühlt und prophezeit dem Leser den holprigen Lebensweg des Protagonisten.
Kleinere und größere Fehltritte des Vaters können Stefans Bewunderung für den Vater nicht schmälern. Dieser hat dafür gesorgt, dass Stefan sich trotz seiner Makel stets außergewöhnlich und besonders gefühlt hat. Allerdings auch besonders einsam. Dazu trägt in hohem Maße bei, dass Evtim Gaštev seinem Sohn eines Abends von seiner außerirdischen Herkunft berichtet, was den kleinen Stefan zwar verzaubert, aber auch ebenso verwirrt hinterlässt.
Alles begann vor vielen, vielen Lenzen, während einer Winternacht, als ein wild tanzender Schneewirbel hinter den bereiften Fenstern meines Kinderbettchens, in welches ich mich friedvoll eingekugelt hatte, sein Unwesen trieb. Die Embryonalstellung war immer meine liebste Schlafposition. Und ist es heute noch, nebenbei bemerkt. Man legt sich auf die eine Seite, zieht seine Knie ganz nah an sich heran und senkt den Kopf ab. Und wenn man will, bahnt sich nur die Nase einen Weg durch die Decke. Ganz egal, was draußen passiert. Vollkommen egal. Man befindet sich an einem warmen, dunklen und sicheren Ort. Die Augen sind geschlossen. Die Wärme durchdringt dich, zuerst von außen, bis sie dein Innerstes erreicht. Und der Schlaf einkehrt. Dann, kurz bevor ich einschlief – im Nebel unseres Zimmers im Erdgeschoss, einzig und allein vom Widerschein des beinahe erloschenen, knisternden Feuerholzes im Ofen gestört – erzählte mir mein Vater die bezauberndste Geschichte, die ich bis dahin gehört hatte. Und nach dieser besagten Nacht, war nichts mehr wie zuvor. Weder ich, noch das Leben, das ich geführt habe.*
Von hier an will der kleine Gaštev ganz groß heraus – eine Illusion schaffen, die die ganze Welt erstaunt. Doch das Schicksal sieht anderes für ihn vor und schon bald findet er sich im Staatsgefängnis von Sofia wieder, wo aus dem infantilen Träumer ungewollt der Exekutor mit der todbringenden Kamera wird. Hier muss Gaštev als Gefängnisinsasse andere Insassen mit einer präparierten Kamera hinrichten. Doch selbst die Grausamkeit seines Schicksals kann Stefan durch die unvorstellbare Größe seiner Naivität überstehen. Er zieht immer weiter und findet sich mal in der Raumfahrtstation von Baikonur, mal auf dem Petersplatz im Vatikan wieder.
Kis’ov hat es wie sein Protagonist gemacht, auch er zog weiter und entfloh der ersten Lebensstation im Straßenbahndepot, bis er auf Umwegen zum Schreiben gelangte. Auf über 50 Erzählungen folgten die Romane Džuboks (dt. “Jukebox”), Nikăde ništo (dt. “Überall nichts”), Ne budete somnambula (dt. “Weckt den Schlafwandler nicht”) und Tvoeto ime e žena (dt. “Frau ist dein Name”) bis hin zu Eksekutorăt, dem vorliegenden Roman, der bislang nicht in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Kis’ov verwebt in seinem Roman hoch komplex die Fantasiewelt eines einfachen Jungen mit dem weiten Kosmos jüngster bulgarischer Geschichte, etwa wenn er den Fall der „bulgarischen Spur“ oder des „bulgarischen Schirms“ in den Roman (ein-)fügt. Diese Begriffe, die sich in Bulgarien als geflügelte Worte etabliert haben, deuten auf das Attentat auf Papst Johannes Paul II., das zunächst dem bulgarischen Balkan-Air-Mitarbeiter Sergej Antonov zugeschrieben wurde, und auf den Regenschirmmord am Schriftsteller und Dissidenten Georgi Markov hin, in die Kis’ov, ebenso wie in viele andere Ereignisse auch, seinen Protagonisten hineinzieht und ihm eine – manchmal recht unorthodoxe – Beteiligung andichtet.
Nahezu unbeschwert und dabei immer wieder überraschend steht Gaštev vor den Windmühlen der Historie und wird doch zum Kämpfen gezwungen. Der harmlose Mann wird zum Instrument gemacht, das widerstandslos zu funktionieren hat und Kis’ov zeigt dabei Mechanismen einer Gesellschaft und Politik auf, in der die freie und persönliche Wahl keine Option darstellt.
Kis’ov schafft mit dem Roman ein bulgarisches Panoptikum, eine Sammlung schöner, wichtiger Momente seiner Geschichte und seines Alltags, die einen interessanten und keinesfalls unkritischen Einblick in das Bulgarien von gestern und heute gewähren. Dabei will die Figur Gaštev sich gar nicht mit Geschichte oder Politik beschäftigen; er geht den Dingen nie auf den Grund, klärt nichts auf. Seine naive Gutgläubigkeit, sein Durchhaltevermögen und seine Tapferkeit lassen ihn zum Helden seines eigenen Schicksals werden. Und mehr wollte er ja auch nie sein. Das wird nicht zuletzt deutlich, als ein amerikanischer Autor Gaštevs turbulentes Leben zum Stoff seines Romans machen will.
ich hielt meine Zweifel vorerst zurück. Allerdings deutete mein schriftstellerndes Gegenüber mein Schweigen wohl falsch und klärte nervös auf:
-Der Protagonist ist der Held eines Romans.
Als ob ich das nicht gewusst hätte.
-Selbstverständlich – stimmte ich letztlich zu.
Wer würde nicht gerne ein Held sein?*
Doch aus dem kleinen Jungen wird nur ein großer kleiner Junge, dessen Träumereien ihn ungebremst von einem Abenteuer ins Nächste katapultieren. Zurück bleibt der Eindruck, dass der Junge mit den krummen Beinen zwar ein großer Cowboy werden will, dass ihm jedoch das Pferd dazu fehlt.
*Alle Übersetzungen aus dem Bulgarischen von Irina Kirova
Kis’ov, Stefan: Eksekutorăt. Sofia 2007.