Ukrainische Poesie in Berlin

Lesereihe in der Literaturwerkstatt (08.12.08 – 29.01.09)

 

matijas_andruhovic_schriftJurij Andruchovyč hat den Begriff des „Stanislauer Phänomens“ geprägt. Damit verweist er augenzwinkernd darauf, dass es in seiner Heimatstadt Ivano-Frankivs’k, welche früher u. a. Stanislau hieß, die höchste Dichte an DichterInnen in der gesamten Ukraine gäbe. Der Schriftsteller bezeichnet Lemberg als die „allerpoetischste Stadt“ seines Heimatlandes und begrüßt die L’viver Dichterin Halyna Kruk bei der ersten von vier Lesungen der Veranstaltungsreihe „Zwischen Europa und etwas anderem“ in der Literaturwerkstatt in der Kulturbrauerei.

Auch wenn er sagt, dass er sich am liebsten im Westen – der Ukraine und Europas – aufhält, hat der „Star und kulturelle Botschafter der Ukraine“ (so der Leiter der Literaturwerkstatt, Thomas Wohlfahrt) acht Kollegen aus der Zentral-, Ost- und Südukraine nach Berlin eingeladen. Die meisten von ihnen hat Andruchovyč auf Poesiefestivals und -slams entdeckt. Jelena Zaslavskaja aus Luhans’k hat die Initiative selbst ergriffen: Sie hatte seinem Verlag nahe gelegt, ihre Stadt, die nahe der russischen Grenze liegt, bei der Promo-Tour nicht auszulassen. Mit Igor’ Sid verbinden ihn gemeinsame „geopoetische“ Aktionen des Moskauer Krim-Klubs. Die realpolitischen Visums-Grenzen hat Sid physisch nicht überwinden können; er kommt jedoch virtuell zu Wort.
Die Dokumentation und Übersetzung ins Deutsche von je 10 Gedichten aller acht Autoren für Lyrikline, ein Teil-Projekt der Literaturwerkstatt, (www.lyrikline.org) ergänzt das auf die Westukraine konzentrierte Projekt Potyah76 (www.zug76.de/cms). In der deutschen Übersetzung treffen sich die Texte – wie die russischen von Boris Chersonskij, der zwar ins Finnische übersetzt wurde, aber nicht ins Ukrainische, sowie die ukrainischen Gedichte von Bohdana Matijaš, die ins Russische bisher nicht übersetzt wurden, dafür aber u.a. ins Slowakische, Polnische und Englische. Erstmalig in Deutschland hat sich der Fokus auf eine Präsentation des literarischen Lebens der Gesamtukraine gerichtet.
Wie werden die Autorinnen und Autoren diesem Anspruch gerecht? Indem sie die Erwartungen an regionaltypische Wiedererkennung mit Hilfe übergeordneter Motivik auf den ersten Blick verweigern.

 

Gott und Feminismus

Sowohl bei der Literaturwissenschaftlerin Halyna Kruk (www.halynakruk.net) wie auch bei Jelena Zaslavskaja finden sich Variationen einer Beschäftigung mit der Gender-Thematik. Kruks Gedicht An Sylvia Plath endet mit den Versen: „oh Sylvia, warum muss eine Frau die Freiheit / teurer erkaufen als Amerika?“. Zaslavskajas Epizentrum gipfelt in der Stilisierung der Eizelle zum Zentrum einer netzartigen Körperstruktur, die vorher in akmeistisch anmutender Bienensymbolik vorgeprägt wurde:

 

„Mein Leib sind die Waben.
Mein Leib ist der Honig.
Mein Leib ist gewebt
aus jenen, die in mich reinflogen.“

 

Die Inszenierung eines dezidiert weiblichen Körpers umfasst bei Zaslavskaja die gesamte Palette von Vergewaltigung über Selbstbestimmung bis zum Spiel der Frau mit Gewalt. Klanglich fügen sich die häufigen Assonanzen und Alliterationen zu fließenden Reimlawinen. Die Freude am Leben und Leben-Geben wirkt besonders authentisch, als die hochschwangere Dichterin in knallroten Stiefeln aus ihrem Poem Pro scast’e (www.tisk.in.ua) rezitiert und mit selbstbewusstem Pathos das Wundern über das Mutterwerden mit dem Publikum teilt.

 

Zaslavskaja_schrift

Hingegen fallen die aufgerufenen Bilder Halyna Kruks durch ihre Düsterkeit auf. Im Gegensatz zu vielen anderen Lemberger DichterInnen schreibt sie nicht über die Stadt. Unter ihren drei Gedichtbänden und zahlreichen Publikationen in Zeitschriften und Anthologien ist die Gestaltung von dramatischen Frauenschicksalen wiederholt anzutreffen (wie im Zyklus Kil’ka nepevnych viršiv či to pro žinku, či pro smert’). Ein mit lautem Applaus bedachtes Gedicht liest sie beinahe flüsternd zu Ende: „Eine Frau, das weißt du selbst, ist ein eigensinniges Wesen, / vergib ihr, Herr“.

Die promovierte Mediävistin erklärt ihren Hang zur Auseinandersetzung mit dem Tod mit ihrer wissenschaftlichen Untersuchung des ukrainischen Barock. Formal lässt sich der Einfluss nicht heraushören, die Verse bewegen sich stark rhythmisiert, jedoch meist ohne Reim oder andere rigide Ordnungsmuster. Kirchensymbole wie z. B. in Smutna Bohorodyzja und die Du-Form erinnern an den religiös inspirierten zweiten Gedichtband (rozmovy s Bohom, 2007) von Bohdana Matijaš aus Kyjiv.

Für die 26jährige Übersetzerin von Andrzej Stasiuks Fado und Redakteurin einer der wichtigsten ukrainischen Kulturzeitschriften, Krytyka, ist Religion jedoch mehr als ein Metaphernreservoir. Über die Artikulation des persönlichen Glaubens hinaus inszeniert ihre Lyrik die Kommunikationssituation des Gebets während des Schreibens. Dabei wird die Instanz Gottes zum impliziten Leser, den es zu erreichen gilt und dessen implizit imaginierte Antworten vom lyrischen Ich mitreflektiert werden. Die verbal beschworene Präsenz des Göttlichen produziert eine Asymmetrie zwischen dem fragenden lyrischen Ich und dessen Bewusstsein um das Fehlen eindeutiger Antworten. Die Schreib-Suche perpetuiert sich immer weiter. Nur äußere Kriterien scheinen sie begrenzen zu können. Die an einen Bewusstseinsstrom erinnernden Verse „gehen“ bis an die Grenze des Seitenrands, legen dem Band das Querformat auf:

9 (21)

Herr Regen bitte mach die Fenster nicht auf da draußen ist so viel Unruhe/
du weißt doch wann sie anbricht und weißt wann sie vergeht/
aber ich weiß es nicht ich  schaue/
einfach auf das Wasser mein Gott und denke an diejenigen die kommen und diejenigen die gehen/
die du herführst und die du wegnimmst vielleicht führst du auch nur her Gott […]

 

Die Zahlen anstelle von Überschriften weisen auf den Auswahlprozess der gedruckten Gedichte hin. In einem Zeitraum von 18 Monaten hat sie ungefähr 100 „Gottgespräche“ verfasst, aus denen sie ein Drittel für den Band ausgesucht hat. Das sei die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen. Sie habe sich abhängig von dem Schreibprozess gefühlt, in welchem sie intuitiv ihre Überzeugung realisiert habe, dass alle Gespräche, ob Monologe oder reale mit Menschen, letztlich mit Gott stattfinden würden. Die Wortkraft könne nur dann wirkungsmächtig sein, wenn sie sich an Gott richte.
Wie Halyna Kruk hat Bohdana Matijaš eine philologische Ausbildung: Auch sie promoviert über ein Thema, zu welchem ihre Lyrik eine direkte Anbindung hat: Über das Schweigen. Ausgehend von der Unmöglichkeit absoluter Stille inszenieren viele ihrer Gedichte das Schweigen als dokumentierten inneren Monolog. Das Schreiben ginge bei ihr dem Sprechen voraus, sagt sie. Erste Gedichtspublikationen und die Erfahrung öffentlichen Sprechens auf Lesungen gaben ihr den Impuls dazu, den Prozess der Mitteilung aus dem Inneren an die Öffentlichkeit zu thematisieren, die Grenze zwischen Innen und Außen aufzulösen.

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Frauen und Religion sind auch bei Pavlo Korobčuk anzutreffen, der ebenfalls in Kyjiv lebt. In taksyst vergleicht er die Informationsflut der Hauptstadt mit einer erregten Frau, von deren Vereinnahmungslust selbst die Geborgenheit des Autos nicht zu retten vermag. Bevor das lyrische Ich sich mit den einzelnen Blutkörperchen der grotesk lebendigen „Information“ vereinigt, sinniert es darüber nach, dass sie genau wie Gott und Geld unerschöpflich ist.
Die Reaktionen des Publikums haben vor allem Bohdana mit dem Vorwurf konfrontiert, dass ihre Gedichte zu persönlich seien. Sie werde oft gefragt, was eine junge Frau erlebt haben muss, um so zu schreiben. Nichts Besonderes habe sie durchgemacht, erklärt sie mit ruhiger Stimme und fragt zurück: Wenn Gedichte über Sex nicht zu intim sind, um gelesen zu werden, warum sollen welche über Gott ein Tabu sein?
Körperliche Intimität ersetzt Religion bei Andrij Ljubka aus Užhorod. Der rotwangige 21jährige ist vor allem mit einem Liebesgedicht aufgefallen. Hier hat er die Du-Anrede genutzt um auszudrücken, es sei ihm „tödlich zuwider […] / In Kondomen zu kommen“. Ein größerer Abstand des „Barden“ zu seinen manchmal spickzettelartigen Texten kommt dem Lenin-Gedicht zugute, das in sarkastischer Weise die Auswahlpraxis zeitgenössischer Literaturschulbücher angreift. Das lyrische Ich beklagt, dass es keinen Eingang in den Schulkanon findet, was schon fast einen eigenen Kanon aufmacht, da auch der neben ihm sitzende Jurij Andruchovyč auf eine solche Ehre verzichtet hat.

 

Postsowjetische Spuren und  internetgestützte Landkarten

Generell haben sich die meisten Autorinnen und Autoren von dem ukrainischen Schriftstellerverband, der aus „postsowjetischen Dinosauriern“ bestünde (Andruchovyč), distanziert. Die Organisation des literarischen Lebens verläuft oft privat, über das Internet sowie über die verbreitete Praxis des Broterwerbs-Journalismus, der den Zugang zu Lesungen und Slams ermöglicht.

Die journalistische Tätigkeit stellt mitunter eine Nähe zu sozialen Themen her: Der 25jährige Pavlo Korobčuk (www.koroboro.livejournal.com) aus Kyjiv stellt fest: Je länger er schreibe, desto mehr nähme für ihn die Relevanz sozialer Motive zu. Während er seinen ersten Band (Natščenebo, 2005) als hermetisch bezeichnet, verarbeitet der auch als Musiker auftretende schmächtige Mann mittlerweile reale Ereignisse zu Gedichten. Sein Lieblingsbeispiel ist das einer Schülerin, die heimlich einen Gefängnisinsassen heiratet, der für Todschlag an seinen Eltern einsitzt. Diese Entwicklung kommt bei seinem Publikum gut an – er hat besonders in den letzten Jahren viel Erfolg bei Poetry Slams zu verzeichnen.

korobcuk_schriftBereits Korobčuks lyrisches Debüt ist eng mit dem Problem des gesellschaftlichen Außenseitertums verbunden gewesen. Pavlo hatte damals keinen legalen Wohnraum. In dieser Zeit hat er seinen Tag mit Sport und klassischer Musik durchstrukturiert, so dass seine Gedichte von der Disziplin und dem Körpererleben durchdrungen sind. Die Not zur Tugend umgeformt, setzt er sich mit der Freiheit auseinander, wenn er die Weigerung zum Armeedienst in reimfreien Sequenzen auffächert. Das Gedicht Pronykajuči rušnyci antizipiert Erfahrung von  Gewalt und führt die Absurdität von Fremdherrschaft vor.

Derselben literarischen Gruppe wie Pavlo Korobčuk gehört Oleh Kozarev aus Charkiv an, wovon die Kooperations-Anthologie Cilodobrovo zeugt. Bereits vor sechs Jahren ist sein eigener Gedichtband Korotke i dovhe erschienen. Bis auf die Gruppenzugehörigkeit finden sich bei beiden wenige Gemeinsamkeiten. Kozarevs Vortrag hat die Kraft und den Klang eines Rap-Songs, allerdings im freien Vers. Er gilt auf Grund seiner neofuturistischen Stilistik, die unter anderem von Ihor’ Bondar’-Tereščenko und Serhij Žadan beeinflusst sei, als einer der vielversprechendsten Lyriker seiner Generation.
Der 27-jährige arbeitet mit Neologismen, die er unter anderem aus der Vermischung des Ukrainischen mit dem Russischen gewinnt. Die Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit erfolgt bei ihm auch auf der Ebene der Tropen: Im Gedicht Moskovskyj Prospekt bedecken Schneeflocken und Spucke die Straße. Insgesamt versucht Kozarev stilistisch an die Tradition Charkivs als der ukrainischen Hauptstadt und eines Zentrums des Literaturbetriebs anzuknüpfen. In einem seiner Artikel schreibt er, er wünsche sich, die Lebensstrategien ukrainischer Autoren der 1920er-30er würden irgendwann nicht denen heutiger ukrainischer Autoren ähneln.

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Die Gruppe, der Jelena Zaslavskaja angehört, heißt STAN (www.tisk.in.ua). Ihre Anthologie Perevorot beginnt mit der Forderung, Luhans’k als „literarische Hauptstadt der Ukraine“ anzuerkennen (S. 4). Jurij Andruchovyč erzählt nach der Lesung, wie fasziniert er war, in Luhans’k die Realisierung eines weiten Geopoetik-Begriffs anzutreffen. Da es nur wenige Möglichkeiten für organisierte Lesungen gibt, liefern STAN-Mitglieder auf dem Universitätscampus literarische Performances und stellen einen (pseudo)mythischen Bezug zur weiblichen Symbolkraft der herumstehenden Frauenskulpturen her. Zaslavskaja zeigt Fotos, auf denen die Mitglieder der Gruppe gegen die Abschaffung der günstigen Straßenbahn protestieren: Militärisch verkleidet stürmen sie eine Tram, um dort Musik zu spielen und Gedichte zu lesen. Man kann gespannt sein, zu welchen Aktionen die Auswirkungen der Finanzkrise führen werden.
Entgegen dem anfänglichen Grundtenor der Lesereihe, dass regionale Zugehörigkeiten in keinem Zusammenhang mit stilistischen Unterschieden stehen würden, haben besonders die russophonen Lesungen gezeigt, dass der geografische Lebensschwerpunkt doch indirekt das Schaffen der AutorInnen mitprägen – und dieser Umstand die Lyrik aus der Ukraine von außen gesehen bereichert.
Ungeachtet übergreifender Motive und der nachwirkenden „klassischen Moderne“ russischer und ukrainischer Provenienz macht sich der Produktionsort bei der Wahl der Sprache, der Netzwerke und der Intertexte bemerkbar. Zum Beispiel kannte Halyna Kruk Sylvia Plath nicht, bevor sie bei ihrem Aufenthalt in Krakau von einer deutschen Autorin auf sie hingewiesen wurde. Zaslavskaja, die in einer ukrainischen Redaktion arbeitet, sagt, dass sie auf Grund ihrer Sprachwahl Cvetaeva und Achmatova viel zu verdanken hätte.

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Auf die bewusste Entscheidung bei der Schreibsprache setzt auch Boris Chersonkskij, Jahrgang 1950 (www.borkhers.livejournal.com). Der Professor für Psychologie aus Odessa spricht mit dem Moderator Ukrainisch und zitiert ganze Gedichte auf Deutsch. Während die meisten jungen DichterInnen sich ausschließlich auf ukrainophone Lyriktraditionen bezogen, setzen Chersonskij wie Zaslavskaja auf Brodskij. Dem produktiven Psychologen, der den Eindruck vermittelt, dass er überwiegend in Versen denkt, geht es u. a. um die Beschäftigung mit der regionalen Geschichte. Dabei arbeitet er nicht wie STAN sozial engagiert, sondern eher erinnerungskulturell. Semejnyj al’bom entfaltet eine (jüdische) Familiengeschichte, die nicht nur, aber stark mit Odessa verbunden ist.

Paradoxerweise zwingt das am Kreuzungspunkt verschiedener Reisewege gelegene Odessa, das durch die Emigrationswelle der letzten Jahrzehnte zu intellektueller Isolation tendiert, neben der Schreibsprache, die keine Staatssprache ist, zur Nutzung des Internets. Chersonskijs gut besuchtes Blog ist mit der literarischen Karte (www.litkarta.ru/ukraine) verlinkt. Dort werden – aufgeschlüsselt nach ihrem Tätigkeitsort, u. a. in der Ukraine, – auf Russisch Schreibende aus der ganzen Welt vorgestellt. Vielleicht wäre der Isolation weiterer Orte mit einem regen Literaturbetrieb in der Ukraine vorgebeugt, wenn diese Art der literarischen Geografie an Bedeutung zunimmt. Indem die Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach ihrem realen oder virtuellen Aufenthaltsort gefunden und gelesen werden können, statt nach der Literatur- bzw. Nationalsprache getrennt zu sein.

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