Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Letzte Nach­richt aus dem Lager

Irina Ščer­ba­kova [Irina Scher­ba­kowa] rekon­stru­iert die Geschichten von 14 Vätern, die in der Sowjet­union in den 1930er und 1940er Jahren zu Lager­haft und Tod ver­ur­teilt wurden. Damit setzt sie den Opfern des sta­li­nis­ti­schen Ter­rors in Ich glaube an unsere Kinder ein Denkmal. Jetzt ist die deut­sche Über­set­zung erschienen.

 

Was schreibt ein Vater seinen Kin­dern, wenn er nicht sicher ist, ob es die letzte Nach­richt an sie ist? Die Mos­kauer Men­schen­recht­lerin Irina Ščer­ba­kova hat Briefe von 14 Vätern ver­öf­fent­licht, die aus dem sowje­ti­schen Gulag an ihre Fami­lien geschrieben haben. Die Texte ent­standen in den 1930er und 1940er Jahren – zu einer Zeit, in der Stalin hun­dert­tau­sende unschul­dige Men­schen als ver­meint­liche Staats­feinde inhaf­tieren und erschießen ließ. Vier Jahre nach dem rus­si­schen Ori­ginal ist nun die deut­sche Über­set­zung von Chris­tina Links unter dem Titel Ich glaube an unsere Kinder (russ. Papiny pis’ma. Pis’ma otcov iz Gulaga detjam) erschienen. Ščer­ba­kova rekon­stru­iert die Schick­sale der Männer und lässt auch ihre Kinder zu Wort kommen. Die Lager­in­sassen sind alle­samt Intel­lek­tu­elle, die meisten über­zeugte Anhänger des Sozia­lismus, aber vor allem lie­bende Väter und Ehe­männer. Ihre Briefe zeigen ein­drucks­voll: Das bleiben sie auch unter den unmensch­li­chen Bedin­gungen der Lagerhaft.

 

 

Exe­ku­tion eines Kriegshelden

Ein Stück Stoff, mit einer Fisch­gräte bestickt. Die Zeilen sind kurz, der Ver­fasser hatte Angst, die Nach­richt nicht voll­enden zu können. Ščer­ba­kova erzählt die Geschichte von Ana­tolij Koz­l­ovskij, der seiner Frau und seinen Kin­dern diese Nach­richt aus dem Minsker Gefängnis schickte. Den bestickten Fetzen hat er einem Mit­ge­fan­genen vor dessen Ent­las­sung mit­ge­geben. In der kurzen Nach­richt aus dem Jahr 1939 bittet der zum Tode Ver­ur­teilte seine Familie, nicht schlecht von ihm zu denken. Koz­l­ovskij meint dies vor allem im poli­ti­schen Sinne. Er möchte seiner Familie als guter Sozia­list in Erin­ne­rung bleiben, der (zweimal) für die Heimat sein Blut ver­gossen hat. Er bleibt ein über­zeugter Anhänger des Staates, der ihn zum Tode ver­ur­teilt hat. In den wenigen Zeilen, die er seinen Ange­hö­rigen heim­lich über­mit­teln lässt, appel­liert er sogar an seine Familie, sich in der Partei und für die Sowjet­macht zu enga­gieren. Sein eigenes Enga­ge­ment wurde ihm nicht gedankt. Nach der Okto­ber­re­vo­lu­tion kämpfte er für die Rote Armee. Anfang der 1920er Jahre befeh­ligte Koz­l­ovskij im Bür­ger­krieg eine Ein­heit der Geheim­po­lizei OGPU, ein Vor­läufer des NKWD. Später wurde er beim Geheim­dienst Leiter der Abtei­lung „Auf­klä­rung in Minsk“. 1937 wurde Koz­l­ovskij ver­haftet, den Grund erfahren wir nicht. Zwei Jahre später wird das Urteil ver­kündet: Tod durch Erschießen. Das Urteil wurde umge­wan­delt in eine fünf­zehn­jäh­rige Haft­strafe. Aller­dings war sein Glück im Unglück nicht von Dauer: Koz­l­ovs­kijs Name lan­dete auf einer der berüch­tigten Listen des sowje­ti­schen Geheim­dienst­chefs Lav­rentij Berija. Am 11. Sep­tember 1941 wurde er in einem Wald­stück erschossen.

 

Lehr­buch aus dem Lager

Anders als Ana­tolij Koz­l­ovskij durfte Aleksej Van­gen­gejm, dessen Lebensweg der fran­zö­si­sche Autor Oli­vier Rolin für den Roman Der Meteo­ro­loge recher­chierte, seiner Familie regel­mäßig schreiben. Ščer­ba­kova wählt zahl­reiche Brief­aus­schnitte für ihr Sam­mel­werk aus. Van­gen­gejm, Sohn eines Ade­ligen, war Meteo­ro­loge, Sozia­list und begeis­terter Wis­sen­schaftler. Nach dem Ersten Welt­krieg, in dem er für den Wet­ter­dienst arbei­tete und mit seinen Pro­gnosen an Gas­an­griffen auf öster­rei­chi­sche Sol­daten betei­ligt war, hielt er einige Jahre lang in rus­si­schen Dör­fern vor Bauern Vor­träge über die Vor­züge des Sozia­lismus. Später ver­folgte der stu­dierte Phy­siker und Mathe­ma­tiker eine wis­sen­schaft­liche Kar­riere: Er wurde Pro­fessor an der Mos­kauer Uni­ver­sität und brachte es bis zum Prä­si­di­ums­mit­glied des staat­li­chen Wis­sen­schafts­rates, mit Pas­sier­schein für den Kreml. Auf seinem Feld – der Meteo­ro­logie – war er ein füh­render Kopf des Landes: Seit 1929 lei­tete er den lan­des­weiten Wet­ter­dienst. 1934 wurde Van­gen­gejm ver­haftet und zu zehn Jahren Lager­haft ver­ur­teilt. Der genaue Grund für seine Ver­haf­tung bleibt unklar – mög­li­cher­weise hängt sie mit einer Rede auf einem wis­sen­schaft­li­chen Kon­gress zusammen. Trotz des aus­drück­li­chen Wun­sches aus Sta­lins Büro hielt Van­gen­gejm eine Rede vor inter­na­tio­nalem Publikum nicht auf Rus­sisch, son­dern auf Fran­zö­sisch. Seine Strafe ver­büßte Van­gen­gejm im nord­rus­si­schen Lager Solovki, dem ersten großen sowje­ti­schen Straf- bzw. Arbeits­lager, dem Pro­totyp des Gulag. Seiner Frau und seiner Tochter schreibt er regel­mäßig. In Van­gen­gejms Briefen sind seine Fort­schritts­be­geis­te­rung und sein unge­bro­chener Glaube an den Sozia­lismus zu spüren: So schreibt er etwa über die großen Chancen, welche die Wind­kraft für die Sowjet­union biete. Seiner zum Zeit­punkt seiner Ver­haf­tung drei­jäh­rigen Tochter möchte er mit seinen lie­be­voll geschrie­benen Briefen auch Wissen ver­mit­teln: Er schreibt über Pflanzen, Tiere und Pilze, gibt ihr spie­le­ri­sche Auf­gaben auf. Im Oktober 1937 wurde Van­gen­gejm ange­klagt, Mit­glied einer ukrai­ni­schen bür­ger­lich-natio­na­lis­ti­schen Orga­ni­sa­tion gewesen zu sein, und zum Tode ver­ur­teilt. Am 3. November 1937, dem 20. Jah­restag der Okto­ber­re­vo­lu­tion, wurde er im Wald von Sand­ar­moch erschossen.

 

Erin­ne­rung und Todesquoten

Irina Ščer­ba­kova arbeitet als Jour­na­listin, His­to­ri­kerin und Über­set­zerin – außerdem ist sie Mit­ar­bei­terin der Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion MEMORIAL in Moskau. MEMORIAL wurde Ende der 1980er Jahre in der ehe­ma­ligen Sowjet­union gegründet und hat es sich zur Auf­gabe gemacht, den Opfern des Sta­li­nismus ein Denkmal zu setzen und für die Öffent­lich­keit zu bewahren, was ihnen wider­fahren ist. Die Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tion sam­melt in eigenen Biblio­theken und Archiven Akten, Pro­zess­un­ter­lagen, Häft­lings­er­in­ne­rungen und Bilder aus den Lagern der Sowjet­union. Außerdem errichtet MEMORIAL Gedenk­stätten an den Orten, an denen sich sowje­ti­sche Arbeits­lager oder Mas­sen­gräber befanden. So konnten die ehren­amt­li­chen Mit­ar­beiter von MEMORIAL nach dem Fall des Sozia­lismus in Russ­land eine Erin­ne­rungs­po­litik ‚von unten‘ eta­blieren. Es war der MEMO­RIAL-His­to­riker Jurij Dmit­riev, der das Mas­sen­grab von Sand­ar­moch fand und zum Gedenkort machte. In dem kare­li­schen Wald­stück wurden in den 1930er Jahren viele tau­send Men­schen hin­ge­richtet, unter ihnen auch Aleksej Van­gen­gejm. Dmit­riev fand heraus, aus wel­chem Grund Aleksej Van­gen­gejm erschossen wurde: Er war ein Opfer des Aus­füh­rungs­be­fehls Nr. 00447, unter­schrieben von NKWD-Chef Nikolaj Ežov (1940 hin­ge­richtet und Vor­gänger Lav­rentij Berijas, auf dessen Liste Ana­tolij Koz­l­ovs­kijs Name stand). Der Befehl sah Ver­ur­tei­lungs­quoten für jede Region der UdSSR vor. Ins­ge­samt 750.000 Hin­rich­tungen. Tat­säch­lich kamen jedoch viel mehr Men­schen ums Leben. Für das Lager Solovki betrug die Quote 1.200 Todes­ur­teile, Van­gen­gejm war einer der Namen auf der Liste.

 

Dimit­riev wurde 2016 wegen des Besitzes kin­der­por­no­gra­phi­schen Mate­rials ver­haftet. Es han­delt sich dabei um Fotos seiner Pfle­ge­tochter. Nach eigener Aus­sage doku­men­tierte er damit den Gesund­heits­zu­stand des Kindes für das Jugendamt, nachdem er das unter­ernährte Mäd­chen aus einem Heim geholt hatte. 2018 wurde er aus der Unter­su­chungs­haft ent­lassen. Auch wenn im Fall Dimit­riev viele Fragen unge­klärt sind, halten viele Beob­achter das Ver­fahren für poli­tisch moti­viert. Denn die dif­fe­ren­zierte Betrach­tung und Fokus­sie­rung auf die Opfer durch MEMORIAL passt immer weniger ins staat­liche Geschichts­bild. Die Arbeit der Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion wird durch die rus­si­sche Regie­rung massiv ein­ge­schränkt und kann aktuell nur sehr schwer auf­recht­erhalten werden.

 

Dem Buch ist Ščer­ba­kovas wis­sen­schaft­li­cher Hin­ter­grund anzu­merken: Die Autorin lässt die Quellen – die Briefe und Stimmen der Ange­hö­rigen – für sich spre­chen und ergänzt diese mit kurzen Erklä­rungen sowie räum­li­chen und zeit­li­chen Ein­ord­nungen. Auch wenn es wün­schens­wert wäre, dass einige Hin­ter­gründe des sta­li­nis­ti­schen Ter­rors noch ein wenig aus­führ­li­cher und grund­le­gender erklärt werden würden: Ščer­ba­kova gelingt es, die Frag­mente – also die Briefe, Erin­ne­rungen und his­to­ri­schen Kon­tex­tua­li­sie­rungen – zu einem Mosaik zusam­men­zu­setzen, und so die Geschichten vom Leben und Sterben der Väter wieder lebendig werden zu lassen.

 

 

Lite­ratur

Ščer­ba­kova, Irina: Papiny pis’ma. Pis’ma otcov iz Gulaga detjam. Moskau 2014.

Scher­ba­kowa, Irina: Ich glaube an unsere Kinder. Über­setzt aus dem Rus­si­schen von Chris­tina Links. Berlin 2019.

Rolin, Oli­vier: Le météo­ro­logue. Paris 2014.

Rolin, Oli­vier: Der Meteo­ro­loge. Über­setzt aus dem Fran­zö­si­schen von Holger Fock und Sabine Müller. Mün­chen 2015.