Ungewohnt, doch mit gewohnter Wärme und Witz erzählt Gospodinov in seinen Kurzgeschichten vom Gewöhnlichen
Was für einen Sinn hat das menschliche Dasein? Nirgends sind wir offensichtlicher mit dieser existenziellen Frage konfrontiert als im Angesicht des Todes. Georgi Gospodinov zeigt uns, dass es keinen Grund zu verzweifeln gibt, solange der Mensch im Geiste frei und der Alltag voll Fantasie ist.
„In der Minute, in der du diesen Text zu lesen beginnst, kann die Sonne bereits erloschen sein, du weißt es nur noch nicht. Dir bleiben noch 8 Minuten und 19 Sekunden, bis dich die Nachricht von ihrem Tod erreicht.“ Es ist ein beklemmendes Gedankenspiel, das Georgi Gospodinov gleich zu Beginn in der titelgebenden Erzählung seines Kurzgeschichtenbandes 8 Minuten und 19 Sekunden einführt. Was tun wir, wenn das Ende kurz bevor steht? Gospodinovs Antwort: Wir sehen uns den letzten Sonnenuntergang an – mit unverkrampfter, fast schon gelassener Genügsamkeit.
Apokalypse und Melancholie
In den Geschichten des Bandes 8 Minuten und 19 Sekunden (I vsičko stana luna, 2013, dt. 2016), aus dem Bulgarischen übersetzt von Alexander Sitzmann, steuern die Protagonisten auf ihr Ende zu. Die Tragik der Figuren ergibt sich bei Gospodinov jedoch nicht aus der bevorstehenden Apokalypse, sondern aus der ruhigen Melancholie, mit der sie ihr Schicksal hinnehmen. Im Angesicht der Vergänglichkeit und Banalität des Daseins lebt es sich leichter. Darum besteht für Gospodinov auch kein Grund, ins Pathetische oder Theatralische zu verfallen. Er weiß vielmehr, wie er uns die Absurdität des Lebens schonungslos vor Augen halten kann. Zum Beispiel, wenn die Protagonistin in der Geschichte Do not disturb plant, sich vom Dach eines Hotels zu stürzen, sich dann aber die Frage stellt, warum sie sich überhaupt noch ihrer morgendlichen Schönheitspflege hingibt. Sie will den Abend doch gar nicht mehr erleben. Wenn die reflexartigen Routinen ihre Bedeutung verlieren, sind wir gänzlich auf uns selbst und unser Tun zurückgeworfen. Durch das wiedergewonnene Bewusstsein um unsere Freiheit eröffnen sich jedoch gleichermaßen neue Perspektiven, die dem Leben wieder Würde verleihen können: ein durchaus existenzialistischer Blick auf die Welt.
Die Welt wiederum blickt auf Gospodinov, seit er mit seinem 2014 auf Deutsch erschienenen zweiten Roman Physik der Schwermut Furore machte. Dortseziert er in essayistischem Stil mithilfe von Erinnerungsfragmenten, Ideen, Versatzstücken und kurzen poetischen Ausschweifungen das Leben einer bulgarischen Familie. Schon sein Romanerstling Natürlicher Roman ließ erahnen, dass Gospodinovs Stärke gerade in den Anekdoten, in fragmentarischen und skizzenhaften Erzählstücken liegt.In seinen 19 Kurzgeschichten überzeugt er nun davon, dass er auch die kleine Prosaform beherrscht. Hier kann er Gedankenexperimente, Assoziationen und phantasievolle Verknüpfungen von besonderer Kraft entwickeln. So „adoptiert“ ein einsamer Waisenjunge einen Vater, um familiäre Geborgenheit nachempfinden zu können. Doch dieser Vater ist ausgerechnet eine Stalinbüste! Jede erzählerische Idee fordert den Leser erneut heraus, sich auf Unerwartetes einzulassen und das Besondere im Alltag zu finden. Immer wieder sind wir angehalten, aus unserem Gewohnheitsdenken auszubrechen und hinter das scheinbar Offensichtliche zu blicken.
Geschichten vom Balkan?
In seiner Themenwahl setzt Gospodinov dabei durchaus auf Muster, die wir bereits von ihm kennen. Die Geschichten sind, wie stets, geprägt von den Erfahrungen des Autors und der Geschichte und Kultur Bulgariens. Ein wiederkehrendes Motiv ist die Leerstelle, die jene hinterlassen, die ihre Heimat verlassen. So wartet ein Mann im Angesicht des Todes darauf, dass sein Sohn noch einmal in die Heimat zurückkehrt. In einer anderen Geschichte besucht ein Freund nach 14 Jahren zum ersten Mal wieder Sofia und schlägt als Treffpunkt ein nicht mehr existierendes Mausoleum vor. Die Vorstellung vom Balkan als Peripherie, die junge Menschen ver- und hinter sich lassen, wird aufgegriffen und zugleich humoristisch verarbeitet.
Darauf lässt auch die Geschichte um eine Filmcrew schließen. Hier werden Stereotype besonders auffällig präsentiert: Die Crew will eine Hochzeit in einem abgeschiedenen bulgarischen Dorf inszenieren. Die Hochzeitsgäste, die von Statisten gespielt werden und zugleich echte Dorfbewohner sind, müssen ohne das sich im Ausland befindliche Brautpaar feiern und beklagen dabei allzu real die leeren Stühle: „Jeder hat einen solchen leeren Stuhl im Haus“, heißt es in der der Geschichte. Spiel und Realität, Balkanismen und migrationssoziologische Fakten gehen ineinander über. Die Hochzeitsgäste inszenieren – unfreiwillig und entgegen dem ursprünglichen Drehbuch – letztlich Balkanstereotype. Sie tragen alte abgewetzte Anzüge, denn zeitgemäße Festtagskleidung besitzen die Dorfbewohner schlicht und ergreifend nicht. Unterdessen fragt sich der Kameramann, wann sie wohl zuletzt ein derartiges Festmahl vorgesetzt bekommen haben. Am Ende muss der Lammbraten mit Diesel übergossen werden, damit die einheimischen Schauspieler nicht in Versuchung geraten, die Requisite zu verzehren.
Im Interview mit novinki stellte Gospodinov klar, dass er sich nicht als typischen Vertreter des Balkans sieht. So baut er die typischen Klischees balkanischer Dörflichkeit und Peripherie überwiegend spielerisch in die Geschichten ein, um unsere Vorstellungen zu hinterfragen und auf die Vielfältigkeit des Raumes hinzuweisen. Sein Credo: Der Balkan lässt sich nicht verallgemeinern; bei seiner eigenen Darstellung handelt es sich nur um „eine mögliche balkanische Identifikation“. Zudem verurteilt Gospodinov weder seine Figuren, noch die Stereotype, die er selbst aufgreift. Sie dienen eher dazu, dem Leser ein Schmunzeln auf die Lippen zu zaubern und fordern dazu auf, weder den Autor noch unsere eigenen Vorstellungen und Vorurteile allzu ernst zu nehmen.
Das verbindende Element in allen Geschichten ist neben dem apokalyptischen Szenario die Beschreibung der conditio humana, durchwoben von Melancholie und Empathie. Gospodinov schafft es, diese Schwermut in unterschiedlichsten Szenarien durchscheinen zu lassen, sie aber immer mit einem Hauch von Ironie und Witz zu versehen. Tribut zu zollen ist hier dem preisgekröntem Übersetzer Alexander Sitzmann, der Gospodinovs lakonische Poetik unaufgeregt und mit Sinn für stilistische Nuancen ins Deutsche übertragen hat. Und so erwischt man sich beim Lesen bei dem Gedanken: Hoffentlich ist es doch noch nicht zu Ende.
Gospodinov, Georgi: I vsičko stana luna. Plovdiv 2013.
Gospodinov, Georgi: 8 Minuten und 19 Sekunden. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Graz/Wien 2016.
Weitere Literatur von Georgi Gospodinov:
Estestven Roman. Sofia 1999.
Natürlicher Roman. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Graz/Wien 2007.
Fizika na tagata. Plovdiv 2011.
Die Physik der Schwermut. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Graz/Wien 2014.
Weiterführende Links:
Von Facettenaugen, Theater-Scratch und der Inventarisierung des Sozialismus. novinki-Interview mit Georgi Gospodinov vom 22.07.2008.