Das Leben eines bedeutsamen Unbedeutenden
Es war einmal ein kleiner Lazik, der ging hinaus in die weite Welt und schlängelte sich so mir nichts, dir nichts unbeschadet durch die Scherben ihrer zerberstenden Fassaden. Il’ja Ėrenburgs lange Zeit in Vergessenheit geratener Roman Burnaja žizn’ Lazika Rojtšvaneca (Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz) ist 2016 schelmisch wie sein Protagonist ohne jegliche Erlaubnis der Parteigenossen von den Toten auferstanden.
Womöglich inspiriert von Falladas „kleinem Mann“, den Protagonisten Evgenij in Puškins Mednyj vsadnik (Der eherne Reiter) und Akakij Akakievič in Gogol´s Šinel’ (Der Mantel), zwei paradigmatischen Beispielen für gescheiterte Existenzen, deren Dasein im Bewusstsein der Menschen keine bleibenden Spuren hinterlässt, schreibt sich Ėrenburgs Held in eine lange literarische Tradition ein. Bereits Laziks Vater wurde vor der Geburt seines Sohnes zum Objekt eines symbolischen Aktes, der den Tod quasi herausfordern sollte nach dem Motto: Es sterben immer die Falschen. „Sie [die reichen Juden] fanden den unglücklichsten aller Juden, einen Moitel Lasik Roitschwantz. […] Er besaß nur einen trübseligen Familiennamen. […] Mit einem Wort, er hätte ruhig an der Cholera sterben können, und kein Mensch hätte ihn beklagt.“ Sie suchten das „allerungücklichste Mädchen“ aus und sagten: „Ihr sollt von uns dreißig Rubel kriegen, ihr sollt Huhn und Fisch haben, aber eure Hochzeit wollen wir auf dem Friedhof begehen, um den Tod ein wenig aufzuheitern.“ Man könnte annehmen, dieses gleichzeitig tragische und irrsinnig komische Ereignis würde den späteren Lebensweg des Lazik Rojtšvanc [Lasik Roitschwantz] vorgezeichnet haben, der einerseits vom ständigen Scheitern, andererseits von traditionell jüdischer Lebenshaltung durchzogen war.
Ein anpassungsfähiges Chamäleon?
Der Protagonist Lazik Rojtšvanc, ein kleinwüchsiger, armer jüdischer Herrenschneider aus dem weißrussischen Schtetl Homel, muss mehrere Monate im Gefängnis absitzen. Der Grund: ein versehentlicher Seufzer als Reaktion auf ein Plakat, das vom Tod des ehrenvollen Parteigenossen Schmurygin berichtet. So seltsam es auch scheinen mag, mit dem Motiv des Seufzens werden mehrere Kapitel eingeleitet, in denen in ironischem und hinterfragendem Ton über die Folgen eines solchen Versehens nachgedacht wird: „Man kann behaupten, daß das ganze Leben Lasiks mit einem unvorsichtigen Seufzer begann. Es wäre besser gewesen, er hätte nicht geseufzt.” Dem Gefängnisaufenthalt folgt der erschütternde Verlust des ganzen Hab und Guts sowie seiner Herzensdame, es bleiben ihm lediglich das Portrait eines portugiesischen Kämpfers und seine schmutzige Kleidung. Doch aufgeben ist für Lazik ein Fremdwort. Lazik ist ein Narr par excellence, der sich dafür bezahlen lässt, die Stadt zu verlassen, um – so seine Begründung – den Einwohnern des Hauses nicht „auf die Pelle zu rücken“ und vor ihrem Haus zu „verwahrlosen“. Er begibt sich auf eine „Pilgerreise“, die ihn über Kiew, Moskau, Königsberg, Berlin und Paris ins Heilige Land führt. Ob er in Kiew im Kaninchenzuchthaus ohne Kaninchen arbeitet, sich in Frankfurt am Main als Rabbiner ausgibt und der Gemeinde zur Freude den Menschen alle Speisegesetze erlässt und das am höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur – Lazik ist ein Anpassungskünstler, der vor keiner Tätigkeit zurückschreckt, um sich über Wasser zu halten. Vom Kommunismus im nachrevolutionären Russland der Jahre 1918/19 über Kapitalismus im Westen und christliches Missionarentum in London bis hin zum Zionismus in Palästina werden alle Ideologien, mit denen er in den diversen Ländern Erfahrung macht, in Frage gestellt und letztendlich ad absurdum geführt. Was bleibt, ist der Wunsch nach dem Ausleben der eigenen Individualität, der jedoch nicht verwirklicht werden kann.
Ewig auf Reise
Ilja Ėrenburg (1891–1967) bringt die Zumutungen des 20. Jahrhunderts in seinen umfassenden Memoiren Ljudi, gody, žizn’ (Menschen Jahre Leben, 1960) wie folgt auf den Punkt: „Wenn wir als sowjetische Schriftsteller noch am Leben sind, so deshalb, weil wir die größten Akrobaten der Welt sind […].“ Ėrenburg war jüdisch-sowjetischer Schriftsteller, Dichter und aktiver Kriegsberichterstatter während des spanischen Bürgerkrieges ebenso wie während des Zweiten Weltkrieges; er fungierte als kultureller Vermittler zwischen Ost und West, Paris und Moskau. Sein Roman Tauwetter (1954) gab einer ganzen Epoche ihren Namen. Hinzu kommt sein Einsatz im Jüdischen Antifaschistischen Komitee und die daraus resultierende Herausgabe einer Sammlung von bedeutsamen Zeugnissen über den Genozid an sowjetischen Juden während des Zweiten Weltkrieges unter dem Titel Černaja kniga (Schwarzbuch, 1947). Umso überraschender ist der lebensgefährliche Drahtseilakt, den Ėrenburg als einer der wenigen sowjetischen Schriftsteller physisch unbeschadet übersteht.
Überlebenskünstler und Schelm
Im Eingehen von Risiken und sich trotz aller Umstände immer wieder Herauswinden ähneln sich Ėrenburg und sein Held Lazik. Burnaja žizn’ Lazika Rojtšvaneca steht in der Tradition des Schelmenromans. Als Schelm sondergleichen, erinnert Lazik an seinen tschechischen Zeitgenossen Švejk im Roman von Jaroslav Hašek.
Sprache – Sinnbild einer untergegangenen Kultur?
Der durchgängig ironische und zuweilen sogar sarkastische Stil lässt Freiraum für diverse Lesarten, kann gleichzeitig aber auch zu Fehlinterpretationen verleiten. Der Roman, der auf den ersten Blick wie leichte Feuilletonistik wirkt, setzt einen gebildeten und aufmerksamen Leser voraus.
Komplexe Stilistik ist eines der wesentlichen Spezifika, die den Roman ausmachen. In Laziks Wortgebrauch vermischen sich jiddischer Jargon, wie er ihn sich durch das Talmudstudium und sein jüdisches Umfeld in Homel angeeignet hat, und die vorrevolutionäre russische Sprache, mit dem Sprachregister der bolschewistischen Nomenklatur und ihren Neologismen, und lässt so ein „Jidrusbolschisch“ (Erfindung der Autorin), eine Art jüdisch-russisches Esperanto entstehen. Mit Hilfe talmudischer und chassidischer Lebensgeschichten, die Lazik perfekt erzählen kann, entflieht er in eine imaginäre Welt, die ihn ein Stück weit vor der grausamen Realität bewahrt. Doch gerade der Gebrauch jüdischer- und jiddischer Weisheiten, Parabeln, Gleichnisse und Anekdoten weckt den Argwohn von Parteigenossen und gibt Anlass für Sanktionen gegen ihn. Die mit der jüdischen Lebenswelt und ihren Erzähl- und Kommunikationsformen weniger vertrauten Leser könnten manchmal Gefahr laufen, sich in den verzweigten Exkursen zu verirren.
Kongenial übersetzt
Der 1927 zuerst in Paris erschienene Roman stieß dort sofort auf große Resonanz. Später geriet er in Vergessenheit, bis er erst 1989 in der Sowjetunion offiziell zugänglich und in postsowjetischer Zeit erneut aufgelegt wurde. Schon 1928 hat sich Waldemar Jollos an eine deutsche Übersetzung gewagt, deren Meisterleistung nun 2016 von der Anderen Bibliothek endlich wiederentdeckt, neuaufgelegt und mit einem aufschlussreichen Nachwort von Peter Hamm zur (Werk-)Biografie versehen wurde.
„Jeden Tag, glaube ich, werden hundert Roitschwantze gekreuzigt, und kein Mensch legt dagegen Verwahrung ein. Aber das Kinderlachen? Aber das frische Brot auf dem Tisch der Armen? Nun, das sind lächerliche Vorstellungen. Schweig still, törichter Roitschwantz! Du hast hier nicht zu philosophieren! Das Höchste, was man von dir verlangt, ist – ohne Hosen zu galoppieren.“
Ėrenburg, Il’ja: Burnaja žizn’ Lazika Rojtšvaneca. Moskva: Sovetskij pisatel‘, 1991.
Ehrenburg, Ilja: Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz. Aus dem Russischen von Waldemar Jollos. Berlin: Die Andere Bibliothek, 2016.
Weiterführende Literatur:
Sicher, Efraim: Jews in Russian literature after the October Revolution: writers and artists between hope and apostasy. Cambridge: Cambridge University Press, 1995.