Wie oft hat man im letzten Jahr in den Medien gehört, dass der Konflikt in der Ukraine mit einem Sprachproblem zwischen ethnischen Russen und Ukrainern zusammenhängt. Andrej Kurkov, einer der bekanntesten ukrainischen Autoren, der die meisten seiner Bücher auf Russisch verfasst hat, zeigt in seinem „Ukrainischen Tagebuch“ eindrücklich, dass es auf dem Majdan um etwas ganz anderes ging. Kurkov betont, dass sich in der Majdan-Bewegung keineswegs ein Nationalitätenkonflikt zwischen der russischen und der ukrainischen Bevölkerung der Ukraine manifestierte, so wie es in den Medien oft vereinfacht dargestellt wird. Vielmehr stehen sich, so Kurkov, zwei Geisteshaltungen entgegen: eine freiheitlich-demokratische und eine der radikalen Separatisten.
„Bei uns ist alles viel simpler und trauriger. Wir haben wieder einmal keine Zukunft“, so reagiert Andrej Kurkov auf die Ereignisse auf dem Majdan in Kiew vom 21. November 2013.
Der Grund für den Protest der Ukrainer war das Aussetzen des Assoziierungsabkommens mit der EU, womit viele Ukrainer die Hoffnung auf eine bessere Zukunft schwinden sahen. Mit „wieder einmal“ spielt Kurkov auf die rund zehn Jahre zurückliegende Orangene Revolution in der Ukraine an, bei der das Volk schon einmal aufgestanden ist, gegen korrupte Machenschaften und für Neuwahlen.. Mit „traurig“ meint er den nur kurz andauernden Erfolg der Revolution von 2004. Als „simpel“ beschreibt er die Tatsache, dass das Volk seinen Präsidenten seitdem viel Geduld entgegengebracht und auf die Erfüllung der Versprechen gewartet hat, während diese sich als Leerformeln erwiesen. In einem Essay für die Berliner Zeitung schreibt Kurkov im September 2014: „In der Ukraine vertraut man Politikern von vornherein nicht. Ein normaler, ehrlicher Mensch, so die gängige Meinung, geht nicht in die Politik. Und wenn er aus lauter Naivität doch geht, sind andere, erfahrenere Politiker sofort zur Stelle, um ihn zu dem zu machen, was sie selber sind: zu einem korrupten, verlogenen Populisten.“
Die Majdan-Bewegung setzt Kurkov trotzdem nicht mit der Orangenen Revolution gleich. Aus seiner Sicht wurden die Demonstrationen von 2013/2014 von jungen Studenten organisiert und der Majdan ähnelte oft einem Kunst- und Rockfestival. Im Tagebuch berichtet er zum Beispiel von Bandauftritten, organisierten Ausstellungen, kleinen Bibliotheken und von Lesungen, auf denen sich Künstler und Schriftsteller trafen. Der anfangs noch distanziert beobachtende Kurkov besuchte den Majdan täglich und sprach mit vielen Akteuren persönlich; später nahm er auch selbst an Literaturtreffen teil und arbeitete mit Hilfsorganisationen zusammen. Und er konnte beobachten, wie sich die friedlichen Proteste durch die zunehmenden Gewaltausbrüche, vor allem seitens der Miliz gegen die Demonstranten, in einen Krieg verwandelten. Vor allem nach dem „Blutsamstag“ vom 29. November 2013, an dem die Miliz eine Hetzjagd auf die Euromajdaner veranstaltete und brutal gegen die Demonstranten vorging. Rasch bildeten sich zahlreiche Gruppierungen, radikale Jugendliche sowie Separatisten kamen aus allen Regionen zum Majdan. Die Proteste wurden massiver, politischer und führten zu den ersten Toten. Bis es dann im Februar 2014 zum Höhepunkt der Gewalt auf dem Majdan kam, bei dem fast 100 unbewaffnete und unschuldige Menschen, u.a. durch Scharfschützen, ums Leben kamen. Kurkov notiert am 18. Februar 2014: „Einen derart idiotischen Präsidenten, der es geschafft hat, eines der tolerantesten Völker zu radikalisieren, hat es zuvor in unserem Land nicht gegeben!“
Bereits nach einigen Seiten wird deutlich, dass Kurkov zum desillusionierten Sympathisanten einer für Demokratie, für den europäischen Traum und für die Einheit der Ukraine kämpfenden Majdan-Bewegung geworden ist. Kurkov betont, dass die Radikalen und die mit Russland zusammenarbeitenden Separatisten nicht zu den eigentlichen Majdan-Demonstranten gehören. In seinem Tagebuch zeigt er auf, wie die Gewalt, Kriminalität und Anarchie auf dem Majdan mit der Radikalisierung dieser Gruppierungen zunehmen. Mit ernstem-sarkastischen Berichtstil dokumentiert er den Weg einer Protestbewegung hin zu einem kriegerischen Konflikt, ohne dabei auf subjektive Bewertungen und Meinungen zu verzichten.
Andrej Kurkov wurde 1961 in St. Petersburg geboren und lebt seit Jahrzehnten in Kiew, nur rund 500 Meter vom Majdan entfernt. Als ethnischer Russe und ukrainisches Multitalent war er u.a. als Gefängniswärter in Odessa, beim Radio und Fernsehen als freier Autor, als Kameramann, Zeitungsredakteur und Drehbuchautor tätig. Im Ausland ist er insbesondere durch seinen Roman Picknick auf dem Eis (1999), seine Kolumnen in internationalen Zeitungen und seine Kritik an Putin bekannt geworden. Auch in seinem Tagebuch, das vorerst nur im westeuropäischen Ausland erschien (übersetzt ins Deutsche, Englische, Französische, Italienische, Polnische und Estnische) und erst ein Jahr später, im Februar 2015, beim Verlag Folio auf Ukrainisch, kritisiert er Putins Machtkampf und sieht die Einheit der Ukraine durch ihn gefährdet. Aufgrund der stetigen Kritik an Putin sind Kurkows Bücher seit 2008 in Russland verboten und auch das Tagebuch ist dort bislang nicht erschienen.
Kurkovs Tagebuch stellt eine persönliche Chronik der Ereignisse vom 21. November 2013 bis zum 24. April 2014 dar. Der Chronist beschränkt sich darin nicht auf einfache Erklärungen, sondern versucht vielmehr die komplexe Problematik der politischen Ereignisse in der Ukraine als Insider zu analysieren. Zwischen politischen Berichten, Kommentaren und Zukunftsprognosen gewährt er den Lesern Einblicke in das Leben und die Ängste der Ukrainer im Ausnahmezustand – sowie in den „normalen Alltag“ seiner fünfköpfigen Familie. Sein Tagebuch wird zum Dokument des Ukraine-Konflikts.
Trotz oder gerade wegen der angespannten Lage und Ungewissheit schafft es Kurkov, einen ironischen Witz durchscheinen zu lassen, z.T. zynisch und sarkastisch, dann wieder absurd und humorvoll, indem er beispielsweise von den nun russischen Kampfdelphinen auf der Krim schreibt. Den Ernst der Lage verliert er dennoch nicht aus den Augen und verweist immer wieder auf die russische Wetterkarte, auf der die ukrainische Krim bereits als Teil Russlands eingeblendet wird – und nach der Okkupation auch das Doneckbecken und Charkiv. Am 24. März 2014 schreibt er: „Wovor ich Angst habe, ist eine mögliche russische Intervention im Osten und Süden des Landes.“
Das Tagebuch endet am 24. April 2014, einen Monat vor den Präsidentschaftswahlen, die für viele Ukrainer einen Etappenerfolg darstellten und neue Hoffnungen mit sich brachten: „Alle sind des Wartens auf den Krieg müde, den Drohungen Russlands, der Angst um die Zukunft. Man möchte diese Seite der ukrainischen Geschichte so schnell wie möglich umblättern und zum Happy End kommen!“
Petro Porošenko wurde zwar zum neuen Präsidenten gewählt, doch die Ukraine-Krise ist damit noch lange nicht beendet. Die Lage in Kiew hat sich entspannt, der Majdan wurde geräumt, aber die Lage in der Ostukraine eskaliert zusehends, während der Westen mit Russland weiterhin unversöhnt bleibt. Kurkovs Zukunftsprognosen haben sich bislang bewahrheitet: „Doch eine Rückkehr zur bisherigen ‚Politik der guten Nachbarschaft‘ wird es nicht geben. Das ist klar.“ (24. März 2014).
Kurkow, Andrej: Ukrainisches Tagebuch – Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests. Aus dem Russischen von Steffen Beilich. Innsbruck / Wien: Haymon, 2014.
Weitere Literatur und Links:
Kurkow, Andrej: Picknick auf dem Eis. Aus dem Russischen von Christa Vogel. Zürich: Diogenes, 2000.
Kurkow, Andrej: Putin ist stärker als das Gewissen. Essay in der Berliner Zeitung vom 04.09.2014. Aus dem Russischen von Steffen Beilich.
Interview auf BAYERN2 von Achim Bohdan mit Andrej Kurkow. In: Eins zu Eins. Der Talk. 06.11.2014. ARD Mediathek.