Euromaidan – Anatomie des Augenblicks

Zu jeder Nacht- und Tageszeit des Frühjahrs 2014 erreichten uns im Liveticker Nachrichten über Proteste in der Ukraine. Selten erfuhren wir zu jener Zeit etwas über die Hintergründe der Revolution auf Kiews Unabhängigkeitsplatz. Dem Sammelband „Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht“ gelingt es, diese Lücke zu schließen.


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Zu jeder Nacht- und Tageszeit des Frühjahrs 2014 erreichten uns im Liveticker Nachrichten über Proteste in der Ukraine. Die dortigen Ereignisse dominierten über Wochen weltweit die Schlagzeilen. Vor allem ging es darin um die Anzahl der Toten und Verletzten, der verbrannten Reifen und Molotowcocktails auf Kiews Unabhängigkeitsplatz, dem Majdan, aber weniger um die Hintergründe der Euromajdan-Bewegung. In der Anthologie Euromaidan: Was in der Ukraine auf dem Spiel steht, die auf Deutsch beim Suhrkamp Verlag und auf Polnisch unter dem Titel Zwrotnik Ukraina beim Czarne Verlag erschienen ist, kommen unterschiedliche Zeitzeugen zu Wort, darunter Historiker, Soziologen und Politikwissenschaftler, und berichten aus ihrer Perspektive von den Anfängen der Revolution.

 

Bereits im Vorwort befindet sich der Leser mitten im Geschehen – auf dem Weg zum Majdan. Es stammt von einem der bekanntesten Schriftsteller der Ukraine, Jurij Andruchovyč , der selbst aktiv an den Protesten teilnahm und wie aus einem Tagebuch darüber berichtet. Die letzten Texte entstanden Ende März 2014, direkt nach dem Pseudoreferendum, welches Putin für die Annexion der Krim als Vorwand nutzte, und kurz bevor die Separatisten das Verwaltungsgebäude in Doneck einnahmen. Bis heute befindet es sich in ihrem Besitz. Mittlerweile haben sich die Fronten noch mehr verhärtet und aus dem Konflikt ist ein Krieg mit globalen Folgen erwachsen – voller Propaganda und Lügen. Um nicht zu vergessen, wie alles begann, brauchen wir Euromaidan und die Berichte seiner Zeugen: Einige von ihnen sind emotional und mitten aus dem Geschehen verfasst worden, andere aus einer analytischen Beobachterperspektive.

 

Für die ukrainische Autorin Kateryna Miščenko ist der Majdan zugleich Agora und Grabstätte: „Der Ort, an dem ein neues politisches Bewusstsein entsteht und der Ort der größten Tragödie seit der Unabhängigkeit der Ukraine. Mit dieser Zwiespältigkeit muss ich von nun an leben, und nicht nur ich. Der Euromaidan stellte alles auf den Kopf, er zog meine kulturellen und sozialen Konstrukte in Zweifel. Ich hatte nicht den Schimmer einer Ahnung gehabt, was für Menschen um mich herum lebten.“ Sie habe sich getäuscht, konstatiert die Schriftstellerin, indem sie vorher nur ihre eigene Umgebung als die mögliche Avantgarde einer Revolution in Betracht gezogen habe: „Ich hatte mich offensichtlich in all den flattrigen westlichen Theorien, Wirtschaftsanalysen und meinen eigenen Vorstellungen von der ukrainischen Gesellschaft und der Ukraine an sich verirrt. Das Umherirren hatte ein Ende, als ich gemeinsam mit vielen anderen auf den Platz ging und meine Mitbürger kennenlernte.“

 

Aus einer anderen Perspektive nähert sich dem Euromajdan der US-amerikanische Osteuropa-Historiker Timothy Snyder, der vor allem durch sein viel diskutiertes Buch Bloodlands, in dem er die Verbrechen an der Bevölkerung der Territorien zwischen Hitlerdeutschland und der Sowjetunion analysiert, bekannt wurde. Snyders nüchterne Beobachtungen sind auch in Euromaidan eine Bereicherung. Vor allem sieht er in der ukrainischen Bewegung eine durch verschiedene Varianten von Propaganda verschleierte Revolution des Volkes. Von Moskau über London bis New York sei es die gleiche Geschichte gewesen: „spärliche Fakten zum Ursprung der Proteste, stattdessen eine Neigung, die Idee eines Staatsstreichs durch Nationalisten, Faschisten oder gar Nazis ins Spiel zu bringen.“ Dabei sei das Eigentliche übersehen worden: „Das Volk errang den Sieg durch schiere physische Tapferkeit“.

 

Auch im Beitrag des österreichischen Autors Martin Pollack geht es um Propaganda. In Abducken und Kopfeinziehen. Über die Macht der Lügen spricht er von der russischen Lüge und warnt eindringlich vor Putin und davor, die Handlungen Russlands zu ignorieren: „Um eine weitere Eskalation zu verhindern, muss Europa, muss die Welt Putin auf der Stelle energisch entgegentreten, um seine Ambitionen zu stoppen. Sonst droht ein böses Erwachen.“ Ein Problem, welches nicht an Brisanz und Aktualität verloren hat. Über den Umgang damit herrscht nach wie vor europaweit keine Einigkeit.

 

Auf gewohnt poetische Art erörtert der polnische Autor Andrzej Stasiuk das Phänomen und die Selbstwahrnehmung Russlands. In seinem Essay bezeichnet er Russland als einen „uneindeutigen Staat“, welcher zu Europa ebenso gehört wie zu Asien. Die Geschichte des Landes sieht er als eine, „die mehr im Raum als in der Zeit spielte, es ist eine Geschichte, die im Grunde Geographie ist.“ Eines Staates mit definierten Grenzen, der zugleich beweglich ist, eines Staates „unterwegs“. In dem Zusammenhang erinnert Stasiuk an einen alten Witz mit tiefer Bedeutung: „An wen grenzt die Sowjetunion? An wen sie will.“ Der polnische Autor betont, er rechtfertige Russland nicht, versuche es jedoch zu verstehen.

 

Dank der vielfältigen Perspektiven von Stasiuk, Andruchovyč, Snyder und der anderen in Euromaidan vertretenen Autorinnen und Autoren erschließt sich auch, was mit dem östlichen europäischen Nachbarland seit der Orangenen Revolution im Jahr 2004 bis November 2013 passierte. In dieser Zeit stand die Ukraine nicht im Zentrum der europäischen Aufmerksamkeit und driftete unbemerkt in Richtung eines (typisch) postsowjetischen Autoritarismus. Mit Euromaidan sehen wir auch Europa aus einer anderen Perspektive. Die ukrainische Bewegung schaut in Richtung der Europäischen Union und hofft auf ihre Solidarität. Euromaidan zeigt ein größeres Europa, das nicht an der heutigen EU-Grenze endet.

 

Was in der Ukraine auf dem Spiel steht, wurde erst in den Monaten nach den Majdan-Protesten richtig deutlich. In nur kurzer Zeit wurde die europäische Nachkriegsordnung erschüttert. Heute stehen Russland und der Westen sich wieder feindselig gegenüber. Friedensabkommen sind trotz internationaler Vermittlungsversuche brüchig. Wie konnte es dazu kommen? Und was bedeutet das für das künftige Zusammenleben in Europa? Auf diese Fragen versuchen Schriftsteller und Publizisten im Nachfolgeband zum Euromaidan, Testfall Ukraine, der im März 2015 beim Suhrkamp Verlag erschienen ist, eine Antwort zu geben.

 

Andruchowytsch, Juri (Hg.): Euromaidan: Was in der Ukraine auf dem Spiel steht. Berlin: Suhrkamp, 2014.
Andruchowycz, Jurij (red.): Zwrotnik Ukraina. Wołowiec: Czarne, 2014.

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