Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Der Mensch ist, wie er isst

Mensch­liche Ess­ge­wohn­heiten spielen in Vla­dimir Sor­okins neuem Werk eine Schlüs­sel­rolle. Das sprengt in erfri­schendem Maße die Grenzen des guten Geschmacks. Offenbar basiert „Pfer­de­suppe“ auf einem bes­seren Rezept als Pferde-Lasagne.

 

Boris Il´ič Bur­mis­trov [Boris Iljitsch Bur­mistow] hat den Appetit ver­loren. Seit seiner Ent­las­sung aus einem Straf­lager im kasa­chi­schen Nie­mands­land, wo der poli­ti­sche Häft­ling sieben Jahre am Stück, tagein tagaus, Pfer­de­fleisch in sich hinein schau­feln musste, um zu über­leben, scheint er son­der­bare Ernäh­rungs­ge­wohn­heiten ent­wi­ckelt zu haben. Als er und Olja in einem Nachtzug der Route Moskau-Sim­fe­ropol auf­ein­an­der­treffen, weiß er es sofort: Beider Schick­sale werden von nun an eines sein. Wir schreiben das Jahr 1980. Die Wei­chen der Geschichte sind gestellt, die Sowjet­union steuert in das letzte Jahr­zehnt ihrer Exis­tenz. Olja und ihre Freunde sind ver­stört von der Erschei­nung des „unscheinbar, alterslos“ wir­kenden Mannes, der sich ihnen am Tisch des Zug­re­stau­rants auf­drängt und nicht abschüt­teln lässt. Nicht bevor er Olja ein Ver­spre­chen abge­nommen hat.

 

 

Wie Men­schen essen, das wird in Pfer­de­suppe, Vla­dimir Sor­okins neuem – ja, was denn eigent­lich? Roman, Novelle, Gra­phic Novel? – unter dem Mikro­skop beob­achtet. Minu­tiös beschreibt er die Mahl­zeiten seiner Helden. Diese Nah­auf­nahmen för­dern Düs­teres zu Tage: Auf den Tel­lern wartet der Tod. Einen Vor­ge­schmack auf das unap­pe­tit­liche Ende dieser Geschichte erhalten wir schon ganz zu Beginn: Oljas Affäre Volodja etwa isst nicht nur ein­fach, er „rammte die Gabel in das harte Fleisch, schnitt ein ordent­li­ches Stück ab“, wäh­rend­dessen „durch­bohrte“ Vitka am anderen Ende des Tisches „hastig ein paar wider­spens­tige Erbsen“, schließ­lich landet die Nah­rung „zwi­schen eier­gelben Lippen“. Ledig­lich Oljas Ess­ge­wohn­heiten wirken grazil, bei­nahe unschuldig. Der Mensch ist, wie er isst, und „Olja aß gemäch­lich“. Womög­lich ist das der Grund, wes­halb Bur­mis­trov am Ende dieser Zug­fahrt vor ihr auf die Knie geht und sie anfleht, ihr von nun an einmal im Monat beim Essen zusehen zu dürfen.

 

Erin­ne­rungs­fetzen eines dahin­sie­chenden Bewusstseins

Jaroslav Švar­cš­tejn [Yaroslav Schwarz­stein] hat Sor­okins Text mit Zeich­nungen illus­triert. Sie halten das Erzählte in Moment­auf­nahmen fest, die zwi­schen Pop-Art und Expres­sio­nismus mäan­dern, immer das Unan­ge­nehme, Unap­pe­tit­liche im Men­schen her­vor­he­bend. Blut­un­ter­lau­fene Augen, abste­hende Strähnen, tal­gige, ver­schwitzte Wangen und Spei­chel­fäden in den Mund­win­keln vor ver­schwom­menem, braun-röt­li­chem Hin­ter­grund. Die kan­tigen Gesichter sind nicht selten zu alp­traum­haften Gri­massen ver­zerrt, selbst dann, wenn sie lachen. Und wenn Olja träumt, ist plötz­lich alles grau-blau. Das kon­ta­mi­niert die Fan­tasie, bricht viel­leicht sogar ein Stück weit die Illu­sion, ließe sich ein­wenden. Aber eine klas­si­sche Erzäh­lung zu ver­fassen, war ganz offen­sicht­lich nicht Sor­okins Ziel. Dieser Ein­druck stellt sich bereits ein, wenn man das klo­bige Exem­plar der deut­schen Aus­gabe erst­mals in den Händen hält, das wohl allein durch seine Form, ein unhand­li­ches Rechteck-Format, ein State­ment gegen Bus- und Bahn­lek­türe setzen will. Man könnte Jaroslav Schwarz­steins Illus­tra­tionen als vom Adre­nalin zer­setzte Erin­ne­rungs­fetzen eines dahin­sie­chenden Bewusst­seins betrachten, in dem sich das Erlebte gleichsam in einer Wort- und Bil­der­flut auf­löst. Rea­lität und Traum ver­schwimmen mit­ein­ander in düs­teren Farb­im­plo­sionen. Viel­leicht also eine Neu­auf­lage des lite­ra­ri­schen Bewusst­seins­stroms? Die schrillen Farben, die bei­nahe ins Absurd-Komi­sche über­spitzten Bilder der Gewalt, die Zeit­sprünge – diese Geschmacks­träger hin­ter­lassen einen Hauch von Taran­tino oder Frank Miller. Die Frage ist, ob diese Bild­äs­thetik ohne Wei­teres mit Lite­ratur kom­bi­nierbar ist, ohne dass dabei ein Bil­der­buch für den Tank­stellen-Grab­bel­tisch her­aus­kommt. „Pulp Fic­tion“ – ein Gro­schen­roman eben.

 

Das Chaos auf den Tel­lern spie­gelt das Chaos der Außenwelt

Folg­lich dürfte man die Beschäf­ti­gung mit „Pfer­de­suppe“ an dieser Stelle beenden, wäre das alles. Aber Sor­okin hat noch ein wenig mehr „Meta-“ in petto. Seine Erzäh­lung galop­piert durch die 80er und 90er Jahre wie eines jener kasa­chi­schen Wild­pferde, über­springt Jahre in Zei­len­kürze, und hält nur kurz zum Durch­atmen inne, um sich den Treffen der beiden Prot­ago­nisten zu nähern, bei denen der Anblick Oljas beim Essen bei Bur­mis­trov orgas­mi­sche Krämpfe aus­löst. Bei keinem der beiden han­delt es sich um den idealen Sowjet­men­schen. Er hat wegen seines unter­neh­me­ri­schen Natu­rells ein­ge­sessen, sie strebt nach Status, kifft und erkundet ihre Sexua­lität. Der soziale Auf­stieg der beiden Figuren ent­wi­ckelt sich analog zum Abstieg des sozia­lis­ti­schen Sys­tems. Es ver­wun­dert des­halb nicht, dass sie zu Beginn der Neun­ziger zum exklu­siven Zirkel der­je­nigen Russen gehören, die aus dem Zusam­men­bruch zu pro­fi­tieren wissen. Olja als Frau eines Beam­ten­sohnes und Bur­mis­trov als das, was sie in Russ­land wohl als „Vor“ (Dieb) bezeichnen würden.

Mit dem fort­schrei­tenden Chaos in der Außen­welt, steigt auch das Chaos auf den Tel­lern. Einst sorg­fältig nach Bei­lagen und Haupt­ge­richt getrennte Speisen ver­mi­schen sich zu einem unde­fi­nier­baren Brei, werden weniger, bis Olja eines Tages nur noch Luft löf­felt. Eine bril­lante Wen­dung der Erzäh­lung zum modernen Mär­chen ergibt sich, als die von ihrem neuen Leben in der High Society geblen­dete, und von ihrem merk­wür­digen Weg­ge­fährten gelang­weilte Olja beschließt, ihre Treffen zu schwänzen. Statt­dessen bricht sie zu einer Luxus­reise mit Ehe­mann durch die Schweiz auf. Dort sitzt sie eines Nachts vor einem Hummer, und merkt, dass sie nichts mehr essen kann. Von den Tel­lern dünstet ihr nur noch Ver­we­sung ent­gegen. Über­stürzt macht sie sich auf den Rückweg, um Bur­mis­trov zu finden.

 

Oljas Fluch ist der Fluch eines Staates

Solche Bilder lassen sich zu mäch­tigen Alle­go­rien wei­ter­spinnen. Ein wenig König Dros­sel­bart steckt in der Geschichte, aber vor allem Sozi­al­kritik. Oljas Fluch ist auch der Fluch eines Staates, dessen Bevöl­ke­rung wäh­rend der 90er Jahre in tiefer Armut schmach­tete, wäh­rend einige wenige es durch den Aus­ver­kauf staat­li­chen Besitz­tums zu absurdem Reichtum brachten. Fern­seh­bilder von sich prü­gelnden Men­schen­mengen vor aus­ver­kauften Lebens­mit­tel­re­galen nebst Cock­tail­partys in Gold. Der flie­gende Wechsel von kom­mu­nis­ti­scher Plan­wirt­schaft und Helden der Arbeit zu Raub­tier­ka­pi­ta­lismus, Konsum als Sta­tus­symbol und maro­die­renden Ver­bre­cher­banden dürfte nicht Wenigen als die end­gül­tige Nie­der­kunft des Nihi­lismus vor­ge­kommen sein. Er blin­zelt einem zuletzt aus den Zwi­schen­räumen der Zeilen ent­gegen. Manche mögen sie gar bis in die Gegen­wart verspüren.

 

Das sind schwer genieß­bare Zutaten. Aber Wla­dimir Sor­okin ver­steht es, sie zu einem wür­zigen Süpp­chen auf­zu­ko­chen. Man wünscht guten Appetit.

 

Sor­okin, Vla­dimir, Švar­cš­tejn, Jaroslav [Yaroslav Schwarz­stein]: Pfer­de­suppe. Aus dem Rus­si­schen von Doro­thea Trot­ten­berg. Berlin: Ciconia Ciconia Verlag, 2017.

Sor­okin, Vla­dimir: Lošadnyj Sup. Moskva: Zacharov, 2007.