Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Von den Rän­dern her: „Poetry & Per­for­mance. The Eas­tern Euro­pean Per­spec­tive” in Zürich

Bereits bei der Aus­sprache des Titels werden die Besucher_innen dieser Aus­stel­lung auf einen beson­deren Umgang mit Sprache ein­ge­stimmt: die drei Ps, die drei Plo­sive, erin­nern aus heu­tiger Sicht ein wenig ans Beat­boxen. Der Titel steht für das von Tomáš Glanc und Sabine Hänsgen rea­li­sierte Kon­zept, das als ein­zig­ar­tige Instal­la­tion vom 15. Sep­tember bis 28. Oktober 2018 in der Shed­halle Zürich zu sehen war.

 

Der weisse Raum

RCNSK, Filip Kosek und Jan Říčný aus Prag, den Aus­stel­lungs­ar­chi­tekten, ist es mit beschei­denen Mit­teln gelungen, eine mul­ti­me­diale Aus­stel­lungs­si­tua­tion zu schaffen. Der Raum ist ganz weiss gehalten; die Arbeiten selbst sind an den Wänden, in Vitrinen, in Audio­du­schen oder Video­boxen prä­sen­tiert. Somit kommt der spie­le­ri­sche Umgang der Künstler_innen mit den unter­schied­li­chen Medien zur Gel­tung. Ein High­light sind die sieben weissen, papie­renen Kuben oder Boxen, in denen die Video­ar­beiten pro­ji­ziert werden. Die Boxen stellen ein „mise-en-abyme“-Verhältnis, also einen Aus­stel­lungs­raum im Aus­stel­lungs­raum her. Beim Begehen dieser Kuben taucht man regel­recht in die kine­ma­to­gra­phi­schen Arbeiten ein. Die­Be­trach­terin ist in den begeh­baren Boxen immer mit der Aus­stel­lung ver­bunden, trotzdem bietet das Papier genug Abtren­nung, um sich in die Video­ar­beiten ver­tiefen zu können. Nach einem ähn­li­chen Prinzip arbeiten die Aus­stel­lungs­ar­chi­tekten mit dem Sound, wel­cher mit­tels Kar­ton­röhren punk­tuell gut hörbar ist, ohne dass die Hin­ter­grund­ge­räu­sche der Aus­stel­lung gänz­lich ver­schwinden. Das Papier asso­zi­iert nicht nur die weisse Seite, son­dern sorgt für Leich­tig­keit und Fragilität.

 

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Aus­stel­lungs­an­sicht Shed­halle, 2018. © Jan Říčný, RCNKSK

 

Die auf­fä­chernde Per­spek­tive der Ausstellung

Über 50 Künstler_innen von den 1960er-Jahren bis in die Gegen­wart haben die Kurator_innen Tomáš Glanc, Daniel Grúň und Sabine Hänsgen aus­ge­wählt und so eine „ost­eu­ro­päi­sche Per­spek­tive“ auf Poetry und Per­for­mance ermög­licht. Dieser sorg­fäl­tigen Werk­aus­wahl liegt eine immense For­schungs- und Recher­che­ar­beit der Kurator_innen zugrunde. Die ein­zelnen Arbeiten sind sechs Berei­chen zuge­ordnet: in Schreib- und Lese­per­for­mances, Audio-Gesten, Inter­ven­tionen im öffent­li­chen Raum, kine­ma­to­gra­phi­sche Poesie, Body Poetry und in Sprach­spiele. Die ein­zelnen Bereiche stehen immer im Dialog, medial, durch ein­zelne Prak­tiken, aber auch regional.

So lassen sich auch gerade Unter­schiede erkennen, denn die künst­le­ri­schen Bedin­gungen waren in den ost­eu­ro­päi­schen real­so­zia­lis­ti­schen Staaten in Sachen Verbot, Zensur, Pro­duk­ti­ons­be­din­gungen, Öffent­lich­keit und Rezep­tion sehr unter­schied­lich. Wäh­rend sich bei­spiels­weise die sowje­ti­schen Künstler_innen im pri­vaten Rahmen orga­ni­sierten, ihre Aktionen/Performances im Wald oder in Woh­nungen statt­fanden, hatten bspw. die tsche­cho­slo­wa­ki­schen Phono-Künst­ler_innen Kon­takt und sogar Aus­tausch mit deut­schen und fran­zö­si­schen Kolleg_innen der expe­ri­men­tellen Szene. Gegen­über den sowje­ti­schen Künstler_innen zeichnen sich die Arbeiten jugo­sla­wi­scher Künstler_innen im Ver­hältnis – prak­tisch unein­ge­schränkt bezüg­lich Zensur – vor allem durch ihr Wirken im öffent­li­chen Raum aus.

Was die Aus­stel­lung beson­ders sichtbar macht, sind ästhe­ti­sche Ähn­lich­keiten der künst­le­ri­schen Arbeiten, obwohl kaum Kon­takt bzw. Aus­tausch zwi­schen den Künstler_innen der jewei­ligen Länder und ihrer Szenen bestanden hatte. Aus­serdem gehen sie v.a. in Bezug auf den „Rück­zugs­grad“ stark aus­ein­ander. Wäh­rend die sowje­ti­schen Künstler_innen buch­stäb­lich im Unter­grund her­me­tisch wirkten und sich orga­ni­sierten, haben die jugo­sla­wi­schen Künstler_innen vor dem öffent­li­chen Raum nicht halt gemacht (Tomislav Gotovac bspw. spa­zierte nackt ent­lang der Zagreber Ein­kaufs­meile, Katalin Ladik war im staat­li­chen öffent­li­chen Fern­sehen zu Gast).

 

Dem Pri­vaten, Her­me­ti­schen entsprungen

Eine der gezeigten Schreib- und Lese­per­for­mances ist die­je­nige des rus­si­schen Dich­ters Lev Rubinš­tejn unter dem Titel Der Dichter und der Pöbel. Die Video-Auf­nahme der Per­for­mance wurde von Sabine Hänsgen 1985 in Rubinš­tejns Küche auf­ge­nommen. Er liest seinen Text von Kar­tei­karten vor, liest, blät­tert, liest. Einige seiner Kar­tei­karten sind in der Aus­stel­lung zu sehen.

Das Beson­dere an diesem Set­ting ist, dass Rubinš­tejn seine Texte einer­seits auf Kar­tei­karten, also einem Format der Ver­wal­tung, schreibt. Auf der anderen Seite werden die Texte in einem pri­vaten Rahmen auf­ge­führt. Hier lässt sich bereits ein beson­deres Ver­hältnis zwi­schen dem Offi­zi­ellen und Büro­kra­ti­schen, also dem poli­ti­schen System, und der Stel­lung dieses Künst­lers und seiner Arbeit erahnen. Dieses Ver­hältnis war bei den Mos­kauer Kon­zep­tua­listen zen­tral. Das Umgehen der Zensur wurde zum Kon­zept; bei Rubinš­tejn liegt es im Umgehen des Buch­for­mats und im Aus­wei­chen auf die Karteikarten.

Aus dem pri­vaten Rahmen, in den die inof­fi­zi­elle Mos­kauer Lite­ra­tur­szene abge­drängt war, ist auch der Sami­zdat, die Selbst­her­aus­gabe und Ver­viel­fäl­ti­gung in Form von Typo­skripten, ent­standen. Ihnen war der Zugang zu öffent­li­chen, also staat­li­chen Ver­lagen und Insti­tu­tionen ver­wehrt. So hat ihr lite­ra­ri­scher Aus­tausch in Form von zir­ku­lie­renden Typo­skripten und häus­li­chen Lesungen statt­ge­funden. Rubinš­tejns Kar­tei­karten-Poesie ist genau vor diesem Hin­ter­grund entstanden.

Karteikartenserie „Sobytie“ (dt.: Ereignis) von Lev Rubinštejn, 1981. © Archiv der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen

Kar­tei­kar­ten­serie „Sobytie“ (dt.: Ereignis) von Lev Rubinš­tejn, 1981. © Archiv der For­schungs­stelle Ost­eu­ropa an der Uni­ver­sität Bremen

 

Rubinš­tejns „mini­ma­lis­ti­sche Per­for­mance“ besteht aus dem Her­vor­holen, Ablesen und Zurück­legen der ein­zelnen Karten. Dabei kommt der Pause eine beson­dere Bedeu­tung zu: sie wird zur Sub­stanz des Textes. Die Situa­tion des Textes steht im Vor­der­grund und löst sich dabei von der Insti­tu­tion (insti­tu­tio­na­li­sierten Buch­form) und unter­wan­dert diese. Sabine Hänsgen und Georg Witte schreiben dazu: „Lew Rubin­stein treibt dabei mit seinen ‚Kar­to­theken’ eine frap­pie­rende Para­doxie hervor, indem aus­ge­rechnet das ste­rile, autor­lose Genre des Kata­logs zum Medium einer poe­ti­schen Atmo­sphäre wird“ (Won­ders, Hirt 2003: 20). Rubinš­tejns Kar­tei­karten liegt also eine Ambi­va­lenz zugrunde: Einer­seits sind sie intime „Bil­letts“, ande­rer­seits kommen sie in ihrer Auf­ma­chung und Beschaf­fen­heit Ver­wal­tungs­texten gleich. Sie bre­chen das Korpus Buch auf und machen das Frag­ment taktil erfahrbar. Seine Texte sind Reflexe einer regis­trierten, klas­si­fi­zierten, inven­ta­ri­sierten Ord­nung der Welt. „Sie wie­der­holen diese Ord­nung in einer ganz wört­lich ver­stan­denen Mimesis“ und „repro­du­zieren sie im büro­kra­ti­schen Medium selbst“ (Won­ders, Hirt 2003:19).

 

Kol­lek­tive Aktion und Archiv

Eine wei­tere Arbeit der Mos­kauer Kon­zep­tua­listen und Frag­ment dieser Zeit, welche durch eine Foto­grafie einer Losungs­ak­tion in der Aus­stel­lung ange­deutet wird, ist die­je­nige der rus­si­schen Gruppe Kol­lek­tive Aktionen. Auf der aus­ge­stellten Foto­grafie ist eine ver­schneite Land­schaft zu sehen, auf einer Anhöhe zwi­schen zwei Bäumen ist ein rotes Trans­pa­rent gezogen, auf dem in weißen Buch­staben Fol­gendes steht: „Ich beklage mich über nichts und mir gefällt alles, unge­achtet dessen, dass ich noch nie hier war und nichts über diese Gegend weiss.“ Es han­delt sich beim Slogan um ein Zitat aus Andrej Monastyr­s­kijs Buch Nichts geschieht. Für die Aktion ist die Gruppe an die Ränder Mos­kaus bzw. in die Peri­pherie gefahren. Zur losen Gruppe der „Kol­lek­tiven Aktionen“, deren Name pro­gram­ma­tisch war, gehörten unter­schied­liche Künstler_innen und Schriftsteller_innen, Musiker_innen, Theoretiker_innen und Kritiker_innen.

 

 „Ich beklage mich über nichts, und mir gefällt alles, ungeachtet dessen, dass ich noch nie hier war und nichts über diese Gegend weiss.“ Kollektive Aktionen, „Losung“, 1977. © Kollektive Aktionen

„Ich beklage mich über nichts, und mir gefällt alles, unge­achtet dessen, dass ich noch nie hier war und nichts über diese Gegend weiss.“ Kol­lek­tive Aktionen, „Losung“, 1977. © Kol­lek­tive Aktionen

 

Bei einer Reihe der Aktion war auch die Kura­torin Sabine Hänsgen selbst dabei. Ange­sichts des eph­emeren Cha­rak­ters der Aktionen geht Häns­gens Teil­nahme über die Zeit­zeu­gen­schaft hinaus: Ins­be­son­dere bei der Aus­stel­lungs­füh­rung fun­giert ihre Zeu­gen­schaft als eine Art „Archiv“. Das Archi­va­ri­sche dieser Arbeiten liegt somit in den Händen der Teilnehmer_innen. Alle Teil­neh­menden der Aktionen wurden als Autor_innen auf­ge­führt, in der Regel jedoch wurde der/die  Initiator_in zuerst auf­ge­führt. Die in der Aus­stel­lung gezeigte Foto­grafie, als Andeu­tung einer der Aktionen, unter­schreibt Monastyr­skij als Initiator. Diese Aktionen kom­men­tieren die thea­trale Atmo­sphäre der dama­ligen ideo­lo­gisch und rituell geprägten Praxis, die in Paraden und Fei­er­lich­keiten ihren Cha­rakter des Mas­sen­spek­ta­kels aufzeigte.

Für die Durch- und Auf­füh­rung ihrer mini­malen Aktionen machte sich die Gruppe an die Ränder, ins Mos­kauer Umland auf, im Kon­trast und in Sub­ver­sion zur bereits durch die ideo­lo­gisch geprägten Mas­sen­an­lässe mar­kierten Stadt. Oft haben unbe­rührte Schnee­felder als Aus­tra­gungsort gedient, als quasi ‚leeres Feld’, und dazu ein­ge­laden ‚beschrieben’ zu werden. Der Gang an die Ränder der Stadt hatte grenz­über­schrei­tenden Cha­rakter, ja den­je­nigen eines Initia­ti­ons­ri­tuals. „Die ‘Kol­lek­tiven Aktionen‘ über­setzen das Muster eines archai­schen Initia­tions- bzw. Über­gangs­ritus, das in der ritua­li­sierten sowje­ti­schen Kultur immer wieder zur Bestä­ti­gung einer kol­lek­tiven Iden­tität aktua­li­siert wird, in die Dimen­sion der ästhe­ti­schen Erfah­rung“, so Hänsgen. Der kör­per­liche und zeit­liche Auf­wand sei­tens der Teilnehmer_innen und Initiator_innen hinter den Aktionen stand in einem Miss­ver­hältnis zu dem Ästhe­ti­schen, dem Mate­ri­ellen bei den Aktionen selbst – vor allem aber im Gegen­satz zu den mäch­tigen und prunk­vollen Reden bei offi­zi­ellen Anlässen in der Stadt.

 

Ein kurzer Moment von zen­traler Bedeu­tung: Phono-Kunst am Rande der Tschechoslowakei

Auch die „Phono-Gesten“ führen an die Ränder der Tsche­cho­slo­wakei: nach Liberec, eine Stadt in Ober­böhmen, in der es im Juni 1969 zu einem beson­deren Ereignis unter dem Titel „Semester des expe­ri­men­tellen Schaf­fens“ kam. Dabei spielte Liberec’ „Rand­stel­lung“ eine wich­tige Rolle für die Ent­ste­hung einer expe­ri­men­tellen Poesie in der Tsche­cho­slo­wakei. Die ‚Nor­ma­li­sie­rung’, die Wie­der­her­stel­lung des status quo ante des Prager Früh­lings, der sich 1968 ereig­nete, war bereits im Gange, als das „Semester des expe­ri­men­tellen Schaf­fens“ im Juni 1969 statt­fand. Durch Liberec’ Rand­stel­lung wurde das dor­tige Auf­nah­me­studio erst mit Ver­zö­ge­rung von den Repres­sa­lien der ‚Nor­ma­li­sie­rung’ erfasst. Die Pro­duk­tionen, die in der Aus­stel­lung zu hören sind, sind quasi im letzten Moment entstanden.

In der Tsche­cho­slo­wakei der 1960er-Jahre waren die Pro­duk­ti­ons­mög­lich­keiten für die Phono-Künst­ler_innen sehr beschränkt. Der Zugang zu einem pro­fes­sio­nellen Auf­nah­me­studio und damit der Grund­lage für audi­tive expe­ri­men­telle Poesie, war den radi­kalen Sprachkünstler_innen wie Ladislav Novák, Boh­u­mila Grö­gerová, Josef Hiršal oder Václav Havel, dem spä­teren Prä­si­denten Tsche­chiens, kaum gegeben. Es gab zwar in der Tsche­cho­slo­wakei der 1960er-Jahre expe­ri­men­telle Poesie, sie ist jedoch halb-offi­ziell und abseits des regis­trierten Rund­funk­be­triebs entstanden.

 

Tonbänder und Schachteln. 1965 – 1969. Bohumila Grögerová / Josef Hiršal @ Pavel Novotný Collection, Liberec.

Ton­bänder und Schach­teln von Boh­u­mila Grö­gerová und Josef Hiršal, 1965 – 1969. © Pavel Novotný Coll­ec­tion, Liberec

 

Dadurch, dass das Studio in Liberec abseits des zen­tra­li­sierten Rund­funk­be­triebs lag, gab es keine Ein­träge über die Auf­nah­me­fre­quenz. So ent­stand dort vieles halb­of­fi­ziell und es herrschte – nach Zeit­zeu­gen­be­richten – eine bohe­mi­en­hafte, lockere Atmo­sphäre. Im Ver­gleich mit dem Prager Rund­funk­be­trieb sei das Libe­recer-Studio eine wahre Oase gewesen. „Para­do­xer­weise ent­stand gerade in dem Libe­recer Studio – in einem am Stadt­rand lie­genden neu­ro­man­ti­schen Schlöss­chen in der Alšova – die meisten jener Werke, die heute als zen­tral für die tsche­chi­sche audi­tive Poesie der 60er-Jahre anzu­sehen sind.“ (Novotný 2016: 141). Das Studio gibt es längst nicht mehr und auch kein Archiv. Bei den Pro­duk­tionen, die in der Aus­stel­lung zu hören sind, han­delt es sich um Kopien, die über pri­vate Wege erhalten wurden.

Im Libe­recer Studio ist es zu einem wich­tigen Zusam­men­treffen tsche­chi­scher Phono-Poeten und einer Grösse der expe­ri­men­tellen deutsch­spra­chigen Poesie, Ger­hard Rühm, gekommen. Geplant waren eigent­lich meh­rere Gäste aus dem „Westen“, geklappt hat es letzt­lich nur mit Rühm als aus­län­di­schem Gast. „Das Zusam­men­treffen wurde mit der klaren Absicht ver­an­staltet, den Autoren end­lich ein pro­fes­sio­nelles Studio zur Ver­fü­gung zu stellen.“ (Novotný 2016: 142). Die dabei ent­stan­denen Kom­po­si­tionen zählen heute zum Kanon der euro­päi­schen Neo­avant­garde. Alle Ori­gi­nal­auf­nahmen sind der „Nor­ma­li­sie­rung“ zum Opfer gefallen. Die tsche­chi­sche expe­ri­men­telle Szene wurde durch die „Nor­ma­li­sie­rung“ erbar­mungslos abge­schafft bzw. in den Unter­grund getrieben. Von der „Nor­ma­li­sie­rung“ war vor allem die audi­tive Poesie betroffen, denn es gab von da an keine Pro­duk­ti­ons­mög­lich­keiten mehr, da der Zugang zu einem Auf­nah­me­studio nicht mehr gegeben war. Aus­serdem wurden die krea­tiven inter­na­tio­nalen Kon­takte vor allem zu deutsch- und fran­zö­sisch­spra­chigen Autoren gekappt, zu denen bis 1970 reger Kon­takt und Aus­tausch bestanden hatte. Ab 1970 wurde das Studio zur „Zen­trale für die Erzie­hung der Rund­funk­kader“ umfunk­tio­niert, ganz im Dienste der „Nor­ma­li­sie­rung“.

Zwei der poli­tisch-kri­ti­schen Libe­recer Auf­nahmen, die in der Aus­stel­lung zu  hören sind, sind Václav Havels Čechy krásné Čechy (Wun­der­volles Böhmen, mein Böhmen) und Ger­hard Rühms Zen­su­rierte Rede. Sie nehmen beide direkten Bezug auf die dama­lige poli­ti­sche Situa­tion: Havels Arbeit ent­hält auch eine Reak­tion auf die sowje­ti­sche Okku­pa­tion. Rühms Zen­su­rierte Rede, bei der aus jedem ein­zelnen Wort alle Laute bis auf Anlaut und Aus­laut her­aus­ge­schnitten wurden, the­ma­ti­siert ganz grund­sätz­lich Zen­surme­cha­nismen in der mate­ri­ellen Dimen­sion der Sprache.

 

Katalin Ladiks künst­le­ri­scher Umgang mit Transkulturalität 

Es fällt auf, dass meh­rere Werke der Aus­nah­me­künst­lerin Katalin Ladik, die auf der letzten Docu­menta ver­treten war, aus­ge­stellt sind: eine Phono-Arbeit, „Pho­no­poe­tica“ von 1976; dar­über hinaus sind Body-Poetry-Bilder von ihr zu sehen, als Teil des Künst­ler­kol­lek­tivs Bosch + Bosch, sowie Fotos ihrer Per­for­mance Ufo-Party. Auch Katalin Ladiks künst­le­ri­sche Aus­gangs­si­tua­tion führt an die Ränder Jugo­sla­wiens bzw. des heu­tigen Ser­biens nahe der unga­ri­schen Grenze. Das Arbeiten an der Grenze hatte jedoch einen anderen Grund. Sie wurde nicht an den Rand gedrängt, ihr Schaffen war nicht von staat­li­cher Repres­sion bzw. Zensur betroffen, sie wollte viel­mehr eine grenz­über­schrei­tende Poesie schaffen, die sowohl mit dem Körper als auch mit den Spra­chen arbeitet. Sie fühlte sich weder der jugo­sla­wi­schen noch der unga­ri­schen Szene ganz zuge­hörig. Des­halb hat Ladik aus dieser Posi­tion heraus etwas Drittes erschaffen: mit­tels Klang­poesie werden die Spra­chen über­wunden, ver­mischt und neben­ein­ander gestellt, gesungen und geschrien.

 

„UFO Party“ von Katalin Ladik, 1970. © Katalin Ladik, acb Gallery, Budapest

„UFO Party“ von Katalin Ladik, 1970. © Katalin Ladik, acb Gal­lery, Budapest

 

Zudem äus­sert und insze­niert sich in Ladiks Arbeiten in der jugo­sla­wi­schen Öffent­lich­keit erst­malig eine weib­liche Per­for­merin, die mit der Insze­nie­rung ihrer Stimme und ihres Kör­pers kri­tisch und iro­nisch sozia­lis­ti­sche und künst­le­ri­sche Geschlechts­iden­ti­täten hin­ter­fragt. Aber auch in der unga­ri­schen Neo-Avant­garde war Ladiks „weib­liche Posi­tion“ anfangs der 1970er Jahre ein Novum, sie wurde als „Yoko Ono of the Bal­kans“ betitelt.

 

Die Aus­stel­lung als Basis für wis­sen­schaft­liche Erkenntnisse

Die Los­lö­sung von der bis dahin kon­ven­tio­nellen Poe­sie­form und ihrer ver­trauten Prä­sen­ta­ti­ons­form Buch sowie die poli­ti­schen (repres­siven) Umstände, welche die meisten Künstler an den Rand, den Unter­grund oder ins Halb­of­fi­zi­elle drängten, bilden die grosse Klammer der gezeigten Arbeiten. Analog dazu ist auch die Aus­stel­lung selbst zu fassen: der Aus­stel­lungs­raum ersetzt vor­erst eine Buch­pu­bli­ka­tion, die all diese Künstler_innen zwi­schen zwei Buch­de­ckel bannen würde und unter Umständen die Situa­tion, das momentan Erfahr­bare, was die Aus­stel­lung bietet, schmä­lern würde. Die Ent­schei­dung der Kura­toren für den (Ausstellungs-)Raum, die Simul­taneität und das Eph­emere, wür­digt die Arbeiten ganz beson­ders, denn die Aus­stel­lungs­si­tua­tion lässt Mög­lich­keiten der Gleich­zei­tig­keit zu, der sinn­li­chen Erfahr­bar­keit, welche die Buch­form schlicht nicht bieten kann. Die künst­le­ri­schen Arbeiten werden durch die Räum­lich­keit der Aus­stel­lung erfahr‑, begehbar. Die Aus­stel­lung bietet eine Art Basis für neue Erkennt­nisse. Genau die auf­fä­chernde Per­spek­tive stellt gleich­zeitig ein Labo­ra­to­rium für neue Fra­ge­stel­lungen dar und lässt Thesen zu, denen es sich lohnt, weiter nachzugehen.

 

White Cubes und Sound-Duschen. @ Jan Říčný, Copyright RCNKSK

Aus­stel­lungs­an­sicht Shed­halle, 2018. © Jan Říčný, RCNKSK

 

Die Kura­torin Sabine Hänsgen meinte im Inter­view mit dem schwei­ze­ri­schen online-Portal „Repu­blik“, dass mit den drei Ps  im Titel, ‚Poetry & Per­for­mance’ sowie ‚Per­spek­tive’ auf die beson­dere Bezie­hung zwi­schen Poesie und Per­for­mance in Ost­eu­ropa auf­merksam gemacht werden sollte: „Wäh­rend die Per­for­mance in West­eu­ropa und Nord­ame­rika als Reak­tion auf die spät­ka­pi­ta­lis­ti­sche Waren­kultur mit einem Über­fluss an mate­ri­ellen Dingen ver­standen werden kann, bedeutet die Per­for­mance in den ost­eu­ro­päi­schen Kul­turen vor allem eine Aus­ein­an­der­set­zung mit der poli­tisch-ideo­lo­gi­schen Kultur als einer Kultur der Texte, Mani­feste, Instruk­tionen und Losungen.“

 

Aus­stel­lungs­orte:
Nach Žilina und Bel­grad war Zürich bereits die dritte Sta­tion der Aus­stel­lung, wei­tere werden folgen: Ab 11. April 2019 ist die Aus­stel­lung in Dresden (Moto­ren­halle Pro­jekt­zen­trum für Zeit­ge­nös­si­sche Kunst) zu sehen; ferner sind Liberec und Buda­pest in Pla­nung. Hier finden Sie wei­tere Infor­ma­tionen zu geplanten Standorten.

 

Kürti, Emese: Screa­ming Hole. Poetry, Sound and Action as Inter­media Prac­tice in the Work of Katalin Ladik. Buda­pest 2017.
Novotný, Pavel: „Semester des expe­ri­men­tellen Schaf­fens“. Zur tsche­chi­schen audi­tiven Poesie der 1960er-Jahre im inter­na­tio­nalen Kon­text. In: Schenk, Klaus, Hultsch, Anne, Staš­ková, Alice (Hg.), Expe­ri­men­telle Poesie in Mit­tel­eu­ropa. Texte – Kon­texte – Mate­rial – Raum. Göt­tingen 2016.
Won­ders, Sascha, Hirt, Günter (Hg.): Lew Rubin­stein. Pro­gramm der gemein­samen Erleb­nisse. Kar­to­thek. Münster 2003.

 

Wei­ter­füh­rende Links

Hänsgen, Sabine: Event and Docu­men­ta­tion in the Aes­the­tics of Moscow Conceptualism.

Sylvia Sasse im Gespräch mit Tomáš Glanc und Sabine Hänsgen: Wenn Buch­staben ihre Mus­keln zeigen. 2018.

“Poetry & Per­for­mance” auf der Web­site des Pro­jekt “Per­for­mance Art in Eas­tern Europe” an der Uni­ver­sität Zürich.

Reportage_„Poetry and Per­for­mance. The Eas­tern Euro­pean Perspective“_Onlineversion