Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Selbst­ent­blö­ßung einer rus­si­schen Dichterin

.„[…] Hier ‚im Exil‘ bin ich – unbrauchbar, dort ‚in Russ­land‘ bin ich undenkbar.“ Dieses Zitat stammt aus den Unver­öf­fent­lichten Schreib­heften von Marina Zweta­jewa [Cve­taeva], einer der bedeu­tendsten rus­si­schen Dichter_innen des 20. Jahr­hun­derts. Sie flüch­tete aus der russ­län­di­schen Heimat, ver­brachte 17 Jahre im Exil und kehrte Ende der 1930er Jahre doch wieder zurück in das Land, das nun aller­dings Sowjet­union hieß. Kurz vor ihrer Rück­kehr fasste die Dich­terin eine Aus­wahl ihrer pri­vaten Schriften in Schreib­heften zusammen. Publi­ziert wurden sie indes erst 1997 und lösten nach ihrer Ver­öf­fent­li­chung in der heu­tigen Rus­si­schen Föde­ra­tion welt­weit eine Sen­sa­tion aus. Als eine Art lite­ra­ri­sches Tes­ta­ment sind die Svodnye tetradi nun end­lich auch ins Deut­sche über­setzt worden und ermög­li­chen einen ganz beson­deren Ein­blick in die Welt­wahr­neh­mung der Dichterin.

 

Absolut unge­schützt werden Gedich­t­ent­würfe, Träume, Gedanken, Dia­loge und Beschrei­bungen ihres ärm­li­chen All­tags im Exil prä­sen­tiert. Die ersten beiden Schreib­hefte stammen aus den Jahren 1932–33, die letzten beiden aus dem Jahr 1938. Die Auf­zeich­nungen weisen keine zeit­liche Chro­no­logie auf, sind sehr kurz, maximal ein bis zwei Seiten lang, gat­tungs­tech­nisch dis­parat und teil­weise nach­träg­lich, bei der Zusam­men­fas­sung der Schriften, mit Kom­men­taren von Cve­taeva selbst ver­sehen. Trotz des schein­baren Chaos, sind „sti­lis­ti­sche Unter­schiede oder gar Brüche […] in den Heften kaum aus­zu­ma­chen“, hebt der Über­setzer Felix Philipp Ingold hervor.

 

 

Durch die ‚Selbst­ent­blö­ßung‘ der Dich­terin ent­steht eine intime Bezie­hung mit der/dem Leser_In, indem Ein­blick in ihrer Seele Innerstes gewährt wird. Dieses ist reich an Sorgen, Leid und Wider­sprü­chen, aber auch an inniger Freude und Hoff­nung auf ein bes­seres Leben. So hielt sie in den Schreib­heften humor­volle Dia­loge mit ihren Kin­dern, Freunden und Bekannten, wie auch heiß­blü­tige, nie abge­schickte Briefe fest. Es war wohl anfangs Cve­taevas Ziel, sich selbst und die Welt ringsum durch das Nie­der­schreiben zu ver­stehen. Mit dem spä­teren Zusam­men­fassen der Schriften ver­folgte sie jedoch dar­über hinaus offenbar die Absicht, nun­mehr auch den Leser_Innen ihr inneres Wesen und ihre Dicht­kunst ver­stehen zu lassen.

 

Cve­taeva galt bereits in jungen Jahren als hoch­be­gabt und kom­pro­misslos, aber auch als exzen­trisch und mythoman. In ihren Auf­zeich­nungen hebt sie die Ein­sam­keit und ihre Rolle einer emo­tio­nalen Außen­sei­terin immer wieder hervor. Das Dich­tertum the­ma­ti­siert sie als etwas „Über­zeit­li­ches“ und „Über­per­sön­li­ches“, der Dichter stelle näm­lich das „Medium der Sprache“ dar. Sie liebte die Seele und suchte die See­len­ver­wandt­schaft ‒ ihre Brief­freunde Rainer Maria Rilke und Boris Pas­ternak ver­ehrte sie lei­den­schaft­lich aus der Ferne. Sie lebte in pre­kären Ver­hält­nissen in der Tsche­cho­slo­wakei und Frank­reich und obgleich es die poli­ti­sche Situa­tion war, die sie zur Flucht zwang, posi­tio­nierte sie sich im Exil poli­tisch nie ein­deutig. Leben und Lite­ratur waren bei ihr aufs Engste mit­ein­ander ver­woben und viel­leicht war es gerade in den unheil­vollen Jahren des Exils die Nähe zum Leser_innen, die sie in der ent­blö­ßenden Nie­der­schrift ihrer Gedanken suchte. So, als sei dies eine Art Schutz bei der bevor­ste­henden Rück­kehr in eine für sie nun fremde Heimat.

 

Die Dich­terin stammte aus groß­bür­ger­li­chem Hause in Moskau und war Geg­nerin der Bol­sche­wiken. Nach dem Bür­ger­krieg folgte sie ihrem Mann Sergej Efron, der damals Soldat der ‚Weißen‘ war, gemeinsam mit ihrer 10-jäh­rigen Tochter Ari­adna ins Exil. Erst in die Tsche­cho­slo­wakei, kurz­zeitig nach Berlin und am Ende nach Frank­reich. Ihr Mann begann Mitte der 1930er Jahre mit der Sowjet­union zu sym­pa­thi­sieren und ent­schied sich für eine Rück­kehr. Mit Aus­bruch des Zweiten Welt­krieges kam es auch in West­eu­ropa wenig später zu gewal­tigen Umbrü­chen und Cve­taeva folgte ihm gemeinsam mit ihren Kin­dern erneut ‒ diesmal zurück in die Sowjet­union. Wider aller Erwar­tung wurden ihr Mann und ihre Tochter schon bald nach der Ankunft unter dem Ver­dacht der Spio­nage ver­haftet und in ein Arbeits­lager abtrans­por­tiert. Efron wurde gleich erschossen und Ari­adna ver­brachte, wie auch Cve­taevas Schwester, viele Jahre im Gulag.

 

Ganz auf sich allein gestellt, ver­suchte die Dich­terin sich und ihren 16-jäh­rigen Sohn Georgij eine Zeit lang mit Über­set­zungen über Wasser zu halten. Sie hoffte auf die Unter­stüt­zung des offi­zi­ellen Schrift­stel­ler­ver­bands, erhielt diese aber nie. Am 31. August 1941 ver­ab­schie­dete sich die Dich­terin mit einem letzten Brief und nahm sich in ihrer Aus­weg­lo­sig­keit das Leben. Mit den Zeilen, sie sei in eine „Sack­gasse“ geraten, endet die bedrü­ckende, wie auch beein­dru­ckende Samm­lung der Unver­öf­fent­lichten Schreib­hefte.

 

Der vom Suhr­kamp Verlag her­aus­ge­ge­bene Band ist der erste einer geplanten Buch­reihe zu Marina Cve­taeva. Er wurde aus dem Rus­si­schen ins Deut­sche über­setzt, wobei fran­zö­si­sche und deut­sche Notizen der Künst­lerin erst im Anhang erläu­tert werden. Sichtbar sind dadurch die Mehr­spra­chig­keit und Mul­ti­kul­tu­ra­lität sowie die damit ver­bun­dene Rolle Cve­taevas als Kul­tur­ver­mitt­lerin. Der Pro­zess der Über­set­zung und die damit ver­bun­denen Schwie­rig­keiten werden von Felix Philipp Ingold in einer Nach­be­mer­kung am Ende auf­schluss­reich beschrieben. Für die Kon­tex­tua­li­sie­rung sind dem Buch zudem noch ein Lebens­lauf sowie kurze Anmer­kungen als Erläu­te­rungen für die deut­schen Leser_innen zu mög­li­cher­weise unver­ständ­li­chen, wich­tigen his­to­ri­schen Ereig­nissen, Begriff­lich­keiten und Per­sön­lich­keiten beigefügt.

 

Zweta­jewa, Marina [Cve­taeva, Marina]: Unsre Zeit ist die Kürze. Unver­öf­fent­lichte Schreib­hefte. Aus dem Rus­si­schen und Fran­zö­si­schen über­setzt und her­aus­ge­gegen von Felix Philipp Ingold. Berlin: Suhr­kamp Verlag, 2017.

Zweta­jewa, Marina [Cve­taeva, Marina]. Neiz­dannoe. Svodnye tetradi. Moskau: Ellis Lak, 1997.