Propagandistische Kriegslexik – Verschiebung der Sprachnormen

Der vorliegende Essay ist ein Versuch, die Rhetorik der russischen Regierung der letzten Jahre und ihre Aggressivität aufzuzeigen. Der Verfasser ist russischer PhD-Student der Psycholinguistik in Polen und zutiefst bestürzt über den Krieg und das Funktionieren der Propaganda in seinem Land. #нетвойне

 

Der vorliegende Text ist die Übersetzung von Susanne Frank des Ursprungsbeitrags: „Пропагандистский военный лексикон – смещение языковых норм“ von Danil Fokin.

 

Der Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar ist nicht nur eine Verletzung des Völkerrechts und der Souveränität eines anderen Landes, sondern auch ein Beweis für den Zusammenbruch der grundlegenden Funktionen der Sprache als Gestaltungs- und Kommunikationsmittel, Medium der Diplomatie und des Vertrags. Der dadurch initiierte Krieg schockierte Millionen von Menschen auf der ganzen Welt. Sie sahen sich mit der Ohnmacht der Sprache konfrontiert, mit der Unmöglichkeit, in verständlicher Weise zu beschreiben und auszudrücken, was sie über das Geschehene empfanden. Es hat sich herausgestellt, dass die Worte fehlen, dass Worte die tiefen Gefühle nicht angemessen erfassen können, die auf den Trümmern des Sprachvertrags, der Sprache der Vernunft, entstanden sind.

С. Pinker argumentiert, dass Sprache in erster Linie ein Werkzeug ist, um “Gedanken auszudrücken“, eine Art zu denken. Mit ihrer Hilfe kann unser Gehirn seine Denktätigkeit stabilisieren, erklären und analysieren und so als eine Art „rettende Insel“ dienen, ein Balanceakt. Ohne Sprache würde unsere Spezies höchstwahrscheinlich ihren tierischen Instinkten, unmoralischem Verhalten und minderwertigen Bedürfnissen erliegen. Dazu gehört u.a. die Lust am Totschlag. Sprache ist ein evolutionärer Abschreckungsmechanismus (keine Atomwaffe), der auf Kooperation und Koexistenz ausgelegt ist.

 

Es wäre falsch, den 24. Februar als Ausgangspunkt der Veränderungen in der russischen Sprache zu betrachten, er ist vielmehr ein Höhepunkt. Die in den letzten Jahren (wenn nicht Jahrzehnten) betriebene Propaganda ist zu einem Indikator einer sprachlichen Degradierung geworden, die  immer schneller voranschreitet. In den letzten Wochen wurden sogar die Grundlagen der russischen Rechtschreibung verändert, indem das kyrillische „З“ durch das lateinische „Z“, das Symbol der Operation in der Ukraine, ersetzt wurde. Solche Ersetzungen wurden sowohl in den Namen einiger regionaler Publikationen und Zeitungen als auch im Telegrammkanal des Föderalen Dienstes für die Überwachung von Kommunikation, Informationstechnologie und Massenmedien („KuZbas“, „РоскомнадZор„, „Zабайкалье„) vorgenommen. Auffallend ist auch der Grad der sprachlichen Aggression, der einen noch nie dagewesenen Höhepunkt erreicht hat. Ein weiteres Beispiel dafür ist die Administration des Tisul Gemeindebezirks: КуZбасс — Zа Родину“ (tisul.ru).

 

„Nationalsozialismus“, „Entnazifizierung“, „Völkermord“, „Ausrottung“, „Bestrafer“, „militante Nazis“, „ihre Kinder verschlingen“ (während der Revolution) und „volksfeindliche Junta“ – all diese geschwärzten, grausamen und unmenschlichen Audrücke bombardieren seit zehn Jahren die Hörer der staatlichen Fernsehsender. Leider denken nur wenige von ihnen kritisch über die Informationen nach, die sie erhalten. Wenn wir versuchen, den Grund für diese unverhohlene sprachliche Aggression, Gewalt und hasserfüllte sprachliche Provokation zu analysieren, werden zwei Ziele deutlich. Im Prinzip liegen sie auf der Oberfläche.

Das erste ist die offensichtliche Aufstachelung zu Hass und Feindschaft (Artikel 282 des russischen Strafgesetzbuches); es handelt sich um die Erweckung einer „blinden Wut“ in den Menschen, bei der eine Person oft nicht in der Lage ist, ihre Handlungen zu kontrollieren. Für die meisten Menschen in der Welt sind die Begriffe „Nazismus“ und „Völkermord“ stark negativ gefärbt. Sie sind mit einer Vielzahl negativer Assoziationen verbunden, die unmenschliche Bilder von den Verbrechen des Faschismus heraufbeschwören. Für Russen sind die Themen „Nazismus“ und „Völkermord“ aus bekannten Gründen besonders schmerzhaft. Der Zweite Weltkrieg hielt Einzug in fast alle Haushalte und Familien. Die rücksichtslose Manipulation dieser Begriffe kann nur darauf abzielen, Bilder des Zweiten Weltkriegs in unseren Köpfen wieder aufleben zu lassen und als Auslöser für negative Assoziationen und Schreckensbilder zu dienen, die mit diesem Krieg verbunden sind. Wir neigen dazu, auf emotional gefärbte Konzepte stärker zu reagieren. Aber mit ihnen sickert auch der giftige Kontext, der sie umgibt, ins Bewusstsein. In der Propaganda wird der Antagonist ausgetauscht. Das „Weltböse“ ist nicht mehr Nazi-Deutschland, sondern die Ukraine. Und alle begleitenden Zusammenhänge und Darstellungen drehen sich um die „Nazi-Ukraine“.

 

Die Verbrechen des Faschismus werden in Russland in Schulen und Universitäten gelehrt, und seine Schrecken werden in vielen Büchern und Augenzeugenberichten beschrieben. Leider gibt es nur wenige Überlebende des Zweiten Weltkriegs. Deshalb sind wir (sowohl in Russland als auch im Ausland) mit Tausenden von „individuellen“ Wahrnehmungen des Nationalsozialismus konfrontiert. Diese Wahrnehmungen sind je nach Lesestufe und Kenntnis des Themas unterschiedlich, aber in einem Punkt sind sie sich einig: Der Nationalsozialismus ist gnadenlos, entsetzlich und unmenschlich. Indem die Propaganda an solche Bilder und damit an das kollektive Gedächtnis appelliert, stürzt sie die Menschen in Angst und Schrecken. Nur wenige Durchschnittsbürger „überprüfen“ die Begriffe auf ihre wahre Bedeutung, nur wenige sind sich bewusst, was tatsächlich geschieht. Infolgedessen sind viele von der Richtigkeit und Notwendigkeit einer Militäraktion überzeugt, weil sie auf die Vernichtung der „Nazis“ abzielt. Propaganda ist Indoktrination und Druck, dem diejenigen unterliegen, die nicht in der Lage sind, die Welt kritisch zu betrachten.

Das zweite Ziel, das sich teilweise aus dem ersten ergibt, ist die Aufrechterhaltung von Angst und Unterdrückung der Bevölkerung. Eine solche Sprache greift kompromisslos einen unempfänglichen Geist an. Das schüchtert ein und macht Angst. Beispiele der letzten Jahre: „Bestrafer“, „Nationalisten“, „Rechter Sektor“ (2014), „militante Nazis“, „sie sind nicht der Staat“, „ihre Kinder verschlingen“ (während der Revolution), „Selbstradikalisierung“, „Gräueltaten des Regimes“ (2016); „Schikane“, „Völkermord“, „blutige Verbrechen“, „Nazis“, „volksfeindliche Junta“ (2022) oder eben „Wir werden die gesamte Ukraine einnehmen“ (2018). Dies ist die Sprache der Kraft, der Macht und der Überlegenheit. Aus der Ansprache V. Putins an die ukrainischen Soldaten: „Eure Großväter und Urgroßväter haben nicht gegen die Nazis gekämpft und unser gemeinsames Mutterland verteidigt, damit die heutigen Neonazis die Macht in der Ukraine übernehmen können. Sie haben einen Treueeid auf das ukrainische Volk geschworen und nicht auf die volksfeindliche Junta, die die Ukraine ausraubt und schikaniert.“ Es ist schwierig, solche direkten Aussagen zu ignorieren und nicht darauf zu reagieren. Diese Begriffe gehören nicht zum aktiven Wortschatz der meisten russischen Muttersprachler (Häufigkeit des Wortes „Nazismus“ = 2,3 per Mio.; „Junta“ = 1,3 per Mio.; aber das Wort „Frieden“ = 714 per Mio.). Sie liegen auch außerhalb des alltäglichen Sprachcodes der Sprecher, der zur Kommunikation unter verschiedenen Umständen und an verschiedenen Orten verwendet wird. Die endlose Wiederholung dieser Worte bleibt jedoch wie ein Kriegsmantra ‚im Kopf hängen‘. Früher oder später werden sie zu aktiven Einheiten im Wortschatz des Sprechers, wodurch sich sein mentaler Wortschatz verändert. Eine solche Rhetorik demonstriert unter anderem die „Stärke“ und „Macht“ des Staates. Bei den Sprechern schafft es sogar Vertrauen in die Sicherheit.

Gleichzeitig wird man durch das Fehlen dieser Begriffe im aktiven Wortschatz von dieser Rhetorik erschlagen und überwältigt; man kann nicht vollständig verstehen, was diese Wörter etymologisch bedeuten und wie sie verwendet werden sollen. Man verlässt sich also nur auf die eigene Erfahrung, die von vielen Faktoren abhängt: Breite und Tiefe des Wissens, Bildung, persönliche Einstellung und Familiengeschichte. Es wird zum Beispiel davon abhängen, ob der Träger in der Lage ist, sein Wissen über die Militärjunta in Myanmar zu übertragen und festzustellen, dass das ukrainische Staatssystem nichts mit ihr gemein hat. Oder um zum Beispiel zu berücksichtigen, dass ein Jude unwahrscheinlich ein Nazi sein könnte.

Die Häufigkeit der Verwendung der oben genannten Begriffe hat in den letzten Jahren drastisch zugenommen, und viele Hörer/Leser kennen diese Schlüsselwörter bereits und reagieren darauf. Dies war ein weitsichtiger Plan der russischen Rhetorik – eine systematische, schrittweise Steigerung der Aggression und sprachliche Angriffe von allen möglichen Plattformen aus. Infolgedessen bildet Russland einen sprachlich geschaffenen künstlichen Raum, eine Art Grauzone, in der verblüffte und deprimierte Menschen, die von der Richtigkeit des Krieges überzeugt sind, als Geiseln gehalten werden. Und dieser Raum ist extrem angespannt und negativ geladen, weil seine Bewohner ihre Wut nur mit den sprachlichen Mitteln, die ihnen die Propaganda zur Verfügung stellt, zum Ausdruck bringen können. Die Schlagworte bleiben dieselben, die Rhetorik wird sich nicht ändern.

 

Die Menschheit ist logozentrisch. Wir leben innerhalb bestimmter Sprachcodes und verwenden eine sozial geschichtete Sprache. So sprechen beispielsweise die Menschen in Großstädten meist eine Sprache, die nicht mit der Sprache der Kleinstädte identisch ist, und Wissenschaftler und Universitätsprofessoren sprechen nicht die gleiche Sprache wie ungebildete Muttersprachler. Aber jetzt gibt es eine Spaltung der etablierten individuellen Sprachnormen. Es gibt eine Intervention von Begriffen, die der Alltagssprache fremd sind. Die aggressive Einführung von Konzepten, die grundsätzlich anders, kulturell und emotional negativ bestimmt sind, schafft ein Ungleichgewicht. Das gewohnte Sprachschema wird zerstört, und da der Sprecher das Bedürfnis hat, sich in der „Sprache als Mittel des Denkens“ zurechtzufinden, werden hasserfüllte Begriffe in die Alltagssprache integriert, wodurch sie ihre kulturelle, historische und etymologische Bedeutung für den Sprecher verlieren. Es ist nicht auszuschließen, dass bald sowohl Deutschland als auch die Ukraine erwähnt werden, wenn es um den Nazismus in Russland geht.

Zusammenfassend lässt sich mit Bedauern feststellen, dass nicht nur der Krieg, die dadurch bedingte – bzw. vom Westen als Antwort herbeigeführte – beispiellose Wirtschaftskrise und die sich als Konsequenz aus dem Angriffskrieg verbreitende negative Einstellung gegenüber ganz Russland die russische Gesellschaft für immer verändern werden. Auch die Sprache une der Denkart werden sich ändern, und aufgrund der beispiellosen Propaganda werden verzerrte und verdrehte Begriffe in sie einfließen. Sie werden sich in den Köpfen der Menschen festsetzen. Und nach dem Krieg werden ihre negativen Bedeutungen dort fest verwurzelt sein. Dies ist eine weitere Katastrophe, die über die Sprecher der russischen Sprache hereinbrechen wird, die sich dieser aggressiven Infiltration nicht widersetzen können.

 

*Während dieser Artikel zur Veröffentlichung vorbereitet wurde, begann das Symbol “Z” überall erscheinen und die Propaganda nimmt jetzt die gesamte Sendezeit im Fernsehen ein. Was mich am meisten überrascht, dass das “Z” – der lateinische Buchstabe ist, d.h. der Teil der westlichen Sprache und Kultur, gegen die die Propaganda zu kämpfen versucht. Allerdings, fällt niemandem dieser offensichtlichen Zufall ein.    

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