Doxa, das Studierendenmagazin der Higher School of Economics Moskau, veröffentlicht einen Leitfaden für Diskussionen im Privaten über den Krieg in der Ukraine: Sie sammeln knappe, präzise und gut recherchierte Antworten auf siebzehn der häufigsten Argumente zur Rechtfertigung des Krieges.
Vorwort zur Übersetzung
Während die Menschen außerhalb der Ukraine mit Schrecken die Nachrichten verfolgen, werden viele, besonders in Russland selbst, damit konfrontiert, im Privaten, im Alltag, im Berufsleben über den Krieg diskutieren und den Rechtfertigungen der Gegenseite etwas entgegensetzen zu wollen und müssen. Mit Verwandten, die an eine Notwendigkeit der ‘Spezialoperation’, wie der Krieg in Russland unter Androhung von bis zu 15 Jahren Haft (KoAP §20.3.3.1-2, geändert 06.03.2022) genannt wird und werden soll, glauben. Mit Arbeitskolleg_Innen, die aus politischem Desinteresse passiv bleiben wollen. Mit Freund_Innen, die aus Angst vor den seit Kriegsbeginn stetig härter werdenden Repressionen (Einschränkung des privaten Raums, Polizeigewalt, Berufsverbot, (sexuelle) Belästigung, Untersagung medizinischer Hilfeleistung oder juristischen Beistands usw.) keine Position beziehen wollen. Ihnen allen versucht das Magazin Doxa Hilfe anzubieten.

Über Doxa:
2017 wurde das Magazin von Studierenden der Higher School of Economics in Moskau gegründet. Der Titel leitet sich etymologisch ab vom Altgriechischen: δόξα dóxa ‚Meinung‘. Ursprünglich als Studierendenmagazin mit reinem Universitätsbezug, nimmt sich Doxa immer stärker sozialpolitischer Inhalte an. Themen der Berichterstattung waren unter anderem sexuelle Belästigung in Universitäten sowie Proteste gegen Putins Regime. 2019 wurden während Massenprotesten in Moskau auch zwei Doxa-Journalist_Innen verhaftet. Neben staatlichen Repressionen folgte daraufhin bereits Ende 2019 auch die Streichung der Finanzierung des Studierendenmagazins durch die HSE Moskau.
Auf sämtlichen sozialen Netzwerken ist das Team von Doxa ununterbrochen aktiv. In der aktuellen Situation versuchen sie, den Krieg innerhalb der russländischen Bevölkerung hörbar zu machen. Ein Fokus liegt dabei auf der Dokumentation des Widerstands in Russland: Doxa berichtet über die landesweiten Demonstrationen, einzelne Protestaktionen, Akte der Zensur, Gewalt und Repressionen.
Webseite von Doxa, mit einer Zeitleiste aktueller Ereignisse:
https://news.doxajournal.ru/
Doxas-Telegram-Kanal:
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Doxa finanziell unterstützen:
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Anmerkung:
Die in der nachfolgenden deutschen Übersetzung enthaltenen Verlinkungen zu Quellmaterialien wurden dem russischen Original entnommen und sind entsprechend hervorgehoben.
Der Text steht in russischer Sprache und dieser deutschen Übersetzung zum Download zur Verfügung.
Ein Handbuch für
Antikriegsargumente
zum Gebrauch in Diskussionen,
zu Hause und am Arbeitsplatz
17 Antworten auf die häufigsten Argumente
zur Rechtfertigung des Krieges
Text: Ruslan Lenin, A. P. Vogt, Saša B., I. S., sliva
Veröffentlicht am 27. Februar 2022
In diesen Tagen besteht unsere Hauptaufgabe darin, eine Atmosphäre der kompletten Ablehnung der russländischen Militäraggression in der Ukraine zu schaffen. Aber in Gesprächen mit Kolleg_Innen, Freund_Innen, Bekannten und der Familie werden wir oft von Emotionen überwältigt, die es uns nicht erlauben, unsere Argumente in Ruhe zu formulieren. An uns gerichtete Fragen und Thesen frustrieren: Meinen sie das wirklich ernst? Im besten Fall endet das Gespräch, obwohl es einen Bruch in den Beziehungen hätte verhindern und zu einem Konsens gegen den Krieg hätte beitragen können.
Wir haben die häufigsten Äußerungen derjenigen gesammelt, die nicht bereit sind, die russländische Militäraggression eindeutig zu verurteilen, und haben auf sie geantwortet. Wir haben Leute befragt, die wir kennen, haben die Argumente aufeinander abgestimmt und getestet und sie bis zum letzten Moment immer wieder umgeschrieben. Wir möchten Euch daher ermutigen, sowohl neue Fragen als auch Eure eigenen Argumente einzubringen.
Inhalt
- „Richten sich die Angriffe der russländischen Armee nicht nur gegen militärische Ziele?“
- „Wie kann man überhaupt irgendetwas glauben? Hier findet ein Informationskrieg statt.“
- „Hatte der Donbass nicht acht Jahre lang Angst? Hat der Rest der Ukrainer_Innen all die Jahre an sie gedacht?“
- „Und wer wird den Donbass vor Beschuss schützen?“
- „Und wo wart Ihr (russländische Bürger_Innen, die den Krieg verurteilen) all die 8 Jahre?“
- „Putin will diesen seit acht Jahren andauernden Krieg beenden.“
- „Retten wir nicht die Ukraine und Russland vor Neonazis?“
- „Die Ukrainer_Innen selbst fordern Putin dazu auf, zu intervenieren, um alle zu retten.“
- „Putin schützt Russland nur vor der NATO.“
- „Putin schützt Russland vor der nuklearen Bedrohung durch die Ukraine.“
- „Wir hätten schon während des Maidan Truppen einsetzen sollen, dann hätte es einen echten Krieg nicht gegeben.“
- „Putin mag im Unrecht sein, aber man darf sich nicht wünschen, dass seine Armee besiegt wird.“
- „Die Ukraine verbietet Russ_Innen, Russisch zu sprechen.“
- „Was ist mit dem niedergebrannten Gewerkschaftshaus in Odessa – werden sie das jetzt mit allen Russ_Innen machen?“
- „Das geht mich nichts an – ich habe selbst genug Probleme.“
- „Kann unsere Meinung etwas bewirken?“
- „Es ist sinnlos, auf die Straße zu gehen. Alle werden auseinandergetrieben und deportiert. Die Belaruss_Innen haben versagt.”
1. „Richten sich die Angriffe der russländischen Armee nicht nur gegen militärische Ziele?“
Leider nein. Trotz ständiger gegenteiliger Beteuerungen seitens der Behörden und des Verteidigungsministeriums haben russländische Granaten in den letzten Tagen Wohngebiete und auch bereits Krankenhäuser und Kindergärten getroffen. Am 25. Februar explodierte ein Geschoss in der Nähe eines Krankenhauses in der Stadt Ugledar in der Region Donec’k. Am selben Tag schlug eine Rakete in einem Kindergarten in der Stadt Achtyrka in der Region Sumy ein. Es überrascht nicht, dass Krankenpfleger_Innen in einem Krankenhaus in Dnipropetrovsk gezwungen waren, Neugeborene in Kellern vor Raketenangriffen zu schützen. Am Vortag hatten russländische Granaten bereits ein Wohngebiet in der Stadt Chuhuyiv in der Region Charkiw zerstört. Am 26. Februar wurden Wohnhäuser in Tschernihiv bombardiert. Solche Angriffe gibt es nicht nur in den Grenzregionen oder im Südosten des Landes, sondern auch in der Hauptstadt. Wir wissen dies sowohl von den vielen Augenzeug_Innen und Fotograf_Innen, die Bilder von den Geschehnissen machen, als auch von unabhängigen Menschenrechts- und Ermittlungsorganisationen. Wir wissen es auch von unseren Freund_Innen und Verwandten, die jetzt in der Ukraine sind. Viele von ihnen sind verängstigt, sie erzählen uns, dass sie einen Teil des Tages in Luftschutzkellern verbringen und Schüsse hören. Wir glauben diesen Menschen und ermutigen sie, auch mit Angehörigen in Russland zu sprechen. Solche Angriffe sind nicht Teil normaler Kriegsführung, sondern sind Verstöße gegen internationale Vereinbarungen und stellen Kriegsverbrechen dar.
2. „Wie kann man überhaupt irgendetwas glauben? Hier findet ein Informationskrieg statt“.
Es ist wirklich schwer, zuverlässige Informationen zu finden. Statt zu widersprechen, hilft es, hier darauf hinzuweisen, was am wenigsten glaubwürdig ist. In einem Briefing nach Tag 1 des Krieges gab ein Vertreter des russländischen Verteidigungsministeriums bekannt, dass die russländische Armee keinen einzigen Verlust zu beklagen habe. Ähnliche Berichte des Verteidigungsministeriums erschienen auch in den folgenden Tagen. Es fällt schwer, dies zu glauben, denn zweifelsohne verläuft keine Militäroperation ohne Verluste. Die Tatsache, dass Roskomnadzor (Staatliche Aufsichtsbehörde im Bereich der Kommunikation, Informationstechnologie und Massenkommunikation) den russländischen Medien praktisch eine Zensur auferlegt hat, die jede Erwähnung von Informationen über die „Sonderoperation“ verbietet, die nicht vom Verteidigungsministerium stammen, macht sie auch nicht glaubwürdiger. In Anbetracht der Tatsache, dass das Verteidigungsministerium nur sehr wenige Informationen herausgibt, sollte dies als Versuch gewertet werden, eine Blase der Unwissenheit über die Vorgänge in der Ukraine zu schaffen. Im Unterschied dazu liefern unabhängige russländische Medien (auf die Gefahr hin, geblockt zu werden) kontinuierlich online so viele verifizierte Informationen wie möglich – Meduza und Mediazona zum Beispiel bieten solche detaillierten Zusammenfassungen. Auch das ukrainische Verteidigungsministerium informiert regelmäßig über die Lage, unabhängig davon, ob die Meldungen für die ukrainische Seite positiv ausfallen – dies macht sie weitaus glaubwürdiger als die Berichte der russländischen Seite.
Wir sind der Meinung, dass es in einer solchen Situation sinnvoll ist, den oben genannten Quellen zu vertrauen, aber immer daran zu denken, sich aus verschiedenen Quellen zu informieren und Informationen zu überprüfen.
3. „Hatte der Donbass nicht acht Jahre lang Angst? Hat der Rest der Ukrainer_Innen all die Jahre an sie gedacht?“
Zunächst einmal müssen wir aufhören, von allen Menschen in der Ukraine als einem einzigen Akteur zu sprechen, der entweder etwas getan oder nicht getan hat. In all den Jahren haben die Menschen in der Ukraine unterschiedliche Positionen zum Krieg im Donbass eingenommen. Einige haben für die kompromisslosesten Kandidat_Innen und Parteien gestimmt, andere für die Diplomatie. Das Programm des derzeitigen Präsidenten, für den die Mehrheit bei der Wahl 2019 gestimmt hat, zielte auf eine friedliche Lösung, den Austausch von Gefangenen und den Abzug der Waffen.
In anderen Teilen der Ukraine haben Menschen jahrelang Flüchtlinge aus dem Donbass aufgenommen und unterstützt. Berichten der Vereinten Nationen zufolge wurden in den Jahren 2014-16 mehr als eine Million Menschen aus den Regionen Donec’k und Lugans’k in andere Regionen der Ukraine vertrieben. Im Jahr 2016 wurde das Ministerium für die Wiedereingliederung der vorübergehend besetzten Gebiete der Ukraine geschaffen, um den von den Kriegshandlungen im Donbass betroffenen Menschen koordiniert Unterstützung zu bieten, z.B. bei Wiederansiedlung und Arbeitssuche. Außerdem wurden Projekte ins Leben gerufen, um den Zurückgebliebenen im Donbass zu helfen: Donbass SOS, Vostok SOS, Krajina vilnych ljudej, Proliska.
Gleichzeitig war das Haupthindernis dafür, friedliche Problemlösungen zu finden: die Frontlinie. Wenn Raketen über den Donbass fliegen, ist es nicht verwunderlich, dass viele Einheimische wollen, dass wer auch immer es sein mag komme und das Ganze stoppe. Wenn die ukrainische Verfassung den Donbass als Teil des ukrainischen Territoriums festschreibt, obwohl er in Wirklichkeit von der „LDNR“ und russländischen Truppen kontrolliert wird, ist es naheliegend zu erwarten, dass der interne Dialog in der ukrainischen Gesellschaft auch diejenigen einschließt, die glauben, dass die Regierung das Recht hat, den Donbass mit militärischen Mitteln wieder zu kontrollieren.
Der Donbass hatte acht Jahre lang Angst? Dann sollten wir uns als russländische Bürger_Innen fragen, welche Rolle unser Land bei diesen Ereignissen spielt.
Die Russländische Föderation unterstützt die „LDNR“ (Abkürzung zur Benennung beider Separatistengebiete, der DNR, russ. Doneckaja Narodnaja Respublika, dt. Volksrepublik Doneck, und der LNR, russ. Luganskaja Narodnaja Respublika, dt. Volksrepublik Lugansk) seit vielen Jahren sowohl mit Ressourcen als auch mit Truppen, was bedeutet, dass sie bereits eine Konfliktpartei ist und eine bestimmte Seite vertritt. Wir müssen uns also fragen, wie unser Land den Waffenstillstand im Donbass so schnell wie möglich unterstützen kann? Russland ist eine Konfliktpartei im Donbass, aber das macht Russland keineswegs zu einem vollwertigen Teilnehmer am internen politischen Prozess in der Ukraine. Wie könnte es den Konflikt lösen, anstatt das politische System der gesamten Ukraine durch eine militärische Invasion zu verändern?
Und wenn die Regierung in Russland demokratisch wäre und wir durch reale Vertreter_Innen sowohl den diplomatischen Prozess als auch die Aktionen der Truppen und den Einsatz von Ressourcen beeinflussen könnten, welche Maßnahmen würden wir dann ergreifen? Im Gegensatz dazu: Solange Russland von einem Präsidenten regiert wird, der jetzt an der Verwirklichung seiner geopolitischen Ambitionen interessiert ist (wie er mit Äußerungen über „Risiken für Russland“ und darüber, dass die ukrainische Souveränität ein historischer Irrtum Lenins sei, direkt unterstreicht), wird er diesen Zielen Vorrang vor allen anderen einräumen, einschließlich des Friedens im Donbass. Die eigentliche Frage ist: Was würde passieren, wenn aufgehört würde, sich Putins Zielen anstelle der Sorgen des Donbass zu widmen?
4. „Und wer wird den Donbass vor Beschuss schützen?“
Aktuell hilft die russländische Armee nicht der Zivilbevölkerung im Donbass, sondern greift die Ukraine von drei Fronten aus an, mit dem Ziel der vollständigen Einnahme. Duma-Abgeordnete der Kommunistischen Partei der Russländischen Föderation haben bereits erklärt: „Als ich für die Anerkennung der DNR (russ. Doneckaja Narodnaja Respublika, dt. Volksrepublik Doneck) und LNR (russ. Luganskaja Narodnaja Respublika, dt. Volksrepublik Lugansk) gestimmt habe, habe ich für den Frieden gestimmt, nicht für den Krieg. Russland sollte als Schutzschild dienen, damit der Donbass nicht bombardiert wird, und nicht, damit Kyjiv bombardiert wird. Gleichzeitig gaben Putin und andere Vertreter der Behörden alle möglichen Rechtfertigungen für ihr Eingreifen: die Wiederherstellung der „historischen Einheit“ der Völker, die Wiederherstellung der historischen Grenzen, die Reaktion auf die von der Ukraine und der NATO geschaffenen „Risiken“ für Russlands eigene „Existenz“, oder der Schutz der gesamten Ukraine vor Neonazis. Hilfe für die Zivilbevölkerung im Donbass wird darin kaum erwähnt.
Ein Bündnis mit der „LDNR“ ist indessen bei weitem nicht die naheliegendste Form einer solchen Unterstützung. In diesem Zusammenhang sei auch an die Baza-Untersuchung erinnert, die den geflüchteten ukrainischen Oligarchen Serhij Kurčenko – der mit hochrangigen Beamten und Mitgliedern der russländischen Sicherheitsdienste zusammenarbeitet – als einen der Hauptprofiteure des Krieges im Donbass nennt. Während des Kriegs im Donbass übernahm er die Kontrolle über die meisten Kohle- und Stahlunternehmen der „LDNR“. Während Kurčenko sich selbst bereichert, wurden den Beschäftigten der Unternehmen im Jahr 2021 für Monate Löhne in einer Gesamthöhe von zehn- bis zwanzigtausend Rubel vorenthalten. Es stellt sich die Frage, warum die russländische Armee im Donbass und ihre Unterstützung für die Streitkräfte der „LDNR“ überhaupt benötigt werden.
5. „Und wo wart ihr (russländische Bürger_Innen, die den Krieg verurteilen) all die 8 Jahre?“
Einige von uns waren Teenager, einige von uns hatten noch keinen Standpunkt und kein Interesse an Politik, und einige von uns waren gegen den Krieg mit der Ukraine. Das Wichtigste ist nicht die Vergangenheit, sondern wie wir jetzt handeln.
In Russland gingen nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 bis zu 20.000 Menschen von allen Enden des politischen Spektrums auf die Straße, um gegen den Krieg zu protestieren. Der Countdown begann auf der Krim und nicht im Donbass – das sollte man sich merken, um Angriff und Selbstverteidigung nicht zu verwechseln.
Antikriegsslogans waren auch bei vielen anderen Kundgebungen zu hören: zum Beispiel bei den Trauermärschen für Boris Nemcov, an denen vor der Pandemie durchschnittlich 60.000 Menschen teilnahmen. Ablehnung der Ansprüche auf die Krim und den Donbass und eine deutliche Verbesserung der Beziehungen zur Ukraine – das ist eine Position, die nie ganz von der Tagesordnung der Proteste und der Opposition verschwunden ist, auch wenn sich das Hauptaugenmerk auf die großen internen Probleme Russlands – manipulierte Wahlen, Verfolgung politischer Gefangener, Umweltkatastrophen und die Rentenreform etc. – verlagert hat.
Doch während wir gegen den Autoritarismus in der Russländischen Föderation kämpften, kämpften wir auch für die Möglichkeit, die Regierung zu wechseln und eine aggressive Außenpolitik aufzugeben. Also auch für die Möglichkeit, die Gefechte mit ukrainischen Truppen und die Unterstützung von Einheiten, die gegen die ukrainische Armee kämpfen, einzustellen. Dies und unser volles Vertrauen in die ukrainische Zivilgesellschaft, ihre internen Probleme zu lösen, könnten den Frieden im Donbass bringen.
6. „Putin will diesen seit acht Jahren andauernden Krieg beenden“.
Putin und andere russländische Regierungsbeamte haben stets erklärt, dass Russland nicht an den Feindseligkeiten im Donbass beteiligt ist. Aus seiner Sicht hat er also den Krieg erklärt, nicht beendet.
Tatsächlich kämpfte die russländische Armee bereits 2014 auf ukrainischem Gebiet gegen die ukrainische Armee – zum Beispiel in der Nähe von Ilovajs’k. Der Krieg dauert bereits seit acht Jahren an.
Die Beendigung des Krieges ist ein sehr gutes Ziel. Es erklärt jedoch nicht, warum man ein anderes Land besetzt und versucht, die Kontrolle über dessen politische Institutionen zu übernehmen. Und Putin hat mehr als einmal behauptet – zum Beispiel am 25. Februar, als er versuchte, das ukrainische Militär zu einem Militärputsch zu überreden: „Nehmt die Macht in eure eigenen Hände; mit euch wird anscheinend einfacher zu verhandeln sein als mit dieser Bande von Junkies und Neonazis, die in Kyjiv das gesamte ukrainische Volk als Geisel genommen haben.“
Letzten Endes haben wir in den vergangenen Tagen statt dem Wunsch, den Krieg zu beenden, nur neue Ausreden von den russländischen Behörden erhalten – siehe Punkt 4.
7. „Retten wir nicht die Ukraine und Russland vor Neonazis?“
Wer überwacht faschistische Aktivitäten in der Gesellschaft, und zwar am gewissenhaftesten? Antifaschist_Innen. Es sind antifaschistische Vereinigungen, die sich systematisch faschistischen und neonazistischen Organisationen entgegenstellen. Ukrainische Antifaschist_Innen erklären regelmäßig, dass Putins Propaganda den Einfluss der extremen Rechten auf die ukrainische Gesellschaft und den Staat übertreibt. Antifaschist_Innen würden das Ausmaß der „Nazifizierung“ nicht herunterspielen. Wenn die russländischen Behörden und die staatlichen Medien sie höher einschätzen als die Antifaschist_Innen – die sich im Land und im Kontext befinden – ist das ein klares Zeichen dafür, dass erstere lügen. Außerdem haben Antifaschist_Innen erklärt, dass sie an der Seite der ukrainischen Armee gegen die russische Invasion kämpfen werden – offensichtlich halten sie das nicht für faschistisch.
Es gibt militante Neonazi-Gruppen, die gegen die ukrainischen Streitkräfte und auf der Seite der „LDNR“ und der russländischen Armee operieren, und deren Vertreter haben sich in den letzten Jahren mit Putin getroffen. Beispiele für solche Formationen sind die Einheiten Rusich und Ratibor. Der Historiker und Politikwissenschaftler Vjačeslav Lichačev, der die Rolle von Neonazis auf beiden Seiten des Konflikts untersucht (und anerkennt), schrieb: „Mitglieder rechtsextremer Gruppen haben auf der russländischen Seite des Konflikts eine viel größere Rolle gespielt als auf der ukrainischen.
Die für ihre nationalistischen Ansichten bekannte Partei „Pravyj Sektor” (Dt.: Rechter Sektor) hat keinen einzigen Sitz in der derzeitigen Werchowna Rada gewonnen. Im Wahlprogramm von Zelenskyj, der bei einer Wahlbeteiligung von 61,37 Prozent, also fast 13,5 Millionen Menschen, 73 Prozent der Stimmen erhielt, gab es keinen einzigen nationalistischen Slogan. Stattdessen stand da: „Wir müssen all diejenigen vereinen, die unabhängig von Geschlecht, Sprache, Glauben oder Nationalität schlicht die UKRAINE LIEBEN!“
Und zuletzt muss festgehalten werden, dass die Taliban, die europäischen Staaten und Israel die russländische Aggression verurteilen – also eine sehr große Bandbreite von politischen Kräften. In Russland wurde eine Überlebende der Leningrader Blockade bei einer Antikriegskundgebung festgenommen. Menschen und Völker, die wirklich unter dem Nationalsozialismus gelitten haben, stehen nicht auf Putins Seite.
8. „Die Ukrainer_Innen selbst fordern Putin dazu auf, zu intervenieren, um alle zu retten“.
Zunächst stellt sich die Frage, vor wem Putin die Bürger_innen der Ukraine retten würde. Wir haben bereits erwähnt, dass die Bedrohung durch neonazistische Kräfte von den russländischen Behörden in zynischer Weise aufgebauscht wird, da sie nicht der Meinung sind, dass es sich lohnt, den Antifaschismus der ukrainischen Gesellschaft selbst anzuvertrauen.
Selbst wenn einige Briefe besorgter Ukrainer_Innen auf Putins Schreibtisch liegen, ist davon auszugehen, dass die Zahl der Hilfesuchenden nicht größer ist als die der Ukrainer_Innen, die den russländischen Medien vertrauen – etwa 3 %. Gleichzeitig liegt das Vertrauen der Ukrainer_Innen in ihre eigene Armee bei 70 %. In den Straßen der ukrainischen Städte stehen die Menschen Schlange, um sich für die Freiwilligeneinheiten zu melden.
Ukrainer_innen werden durch den amtierenden Präsidenten und das Parlament vertreten. Selbst in den Regionen Donec’k und Lugans’k erhielt der amtierende Präsident einen erheblichen Anteil der Stimmen. In der ersten Runde der Wahlen 2019 erhielt Zelenskyj in diesen Verwaltungsbezirken mehr als 20 % der Stimmen und lag damit knapp hinter Porošenko. In der zweiten Runde überholte er Porošenko und gewann.
Diese ukrainischen Institutionen rufen nun zu Frieden und Verhandlungen auf. Woher die Hilferufe kommen ist jedoch nicht bekannt. Es sei darauf hingewiesen, dass der Kreml selbst keine Argumente für die Illegitimität der derzeitigen Regierung vorbringt: Weder Beweise für die Zerstörung des politischen Wettbewerbs noch Beweise für Wahlbetrug. Putin selbst hält sie für illegitim, weil sie „ein Haufen Junkies und Neonazis“ sind. Wem sollten wir bei der Beurteilung der Legitimität der ukrainischen Regierung vertrauen – Putin oder den Bürger_innen der Ukraine?
Und selbst wenn wir uns vorstellen können, dass es eine Minderheit gibt, die dringend Hilfe von außen benötigt, ist es logischer, diese aus dem Land zu bringen, als einen Krieg gegen das ganze Land zu entfesseln.
9. „Putin schützt Russland nur vor der NATO“.
Warum greift Putin dann die Ukraine an und nicht die NATO-Länder selbst? Die Ukraine gehört nicht dazu. Die Idee, dass es in Ordnung sei, die Ukraine zum „Schutz vor der NATO“ anzugreifen, beruht auf der Vorstellung, dass die Ukraine eine Erweiterung Russlands ist, nur ein Verhandlungsgegenstand in der Konfrontation der Imperien. Diese Haltung ist unmenschlich gegenüber den Bewohner_Innen der Ukraine.
Eine Führungspersönlichkeit, die die Welt zum Frieden und zur Entmilitarisierung führen will, würde zuallererst die Vorstellung zurückweisen, dass die Souveränität von Nachbarländern ein historischer Fehler ist. Aber Putin hat – zum Beispiel in einer Fernsehansprache am 21.02.22 – genau das Gegenteil getan. Sowohl durch seine imperialistische Rhetorik als auch durch seinen Angriff auf die Ukraine stärkt Putin die Militärlobbys in anderen Ländern. Dies führt nur dazu, die Militärausgaben anderer Länder zu erhöhen und die ganze Welt von einer umfassenden Entmilitarisierung abzubringen.
Schließlich haben laut Grigorij Judin sogar einige russländische Generäle erklärt, dass für Russland derzeit keine Gefahr einer militärischen Bedrohung durch die NATO besteht.
10. „Putin schützt Russland vor der nuklearen Bedrohung durch die Ukraine.“
Das Budapester Memorandum von 1994 verpflichtet die unterzeichnenden Staaten (einschließlich Russland), „die Unabhängigkeit, Souveränität und die bestehenden Grenzen der Ukraine im Gegenzug für die nukleare Abrüstung des Landes zu respektieren“. Bis heute hat die Ukraine keine Atomwaffen. Volodymyr Zelenskyj kündigte die Möglichkeit einer Wiederaufrüstung erst im Februar dieses Jahres an. Denn Russland hat bereits sein Versprechen gebrochen, die „bestehenden Grenzen“ der Ukraine zu respektieren, und zwar 2014 durch die Annexion der Krim. (Auch wenn die Ereignisse von 2014 in Russland nicht von allen als Annexion verstanden werden, hat die Ukraine diese acht Jahre lang als solche bewertet.) Weiterhin brach Russland mit dem Versprechen, indem es 2022 die Unabhängigkeit der selbsternannten Republiken anerkannte. Das bedeutet, dass es offensichtlich unmöglich ist, die derzeit stattfindende russländische Invasion als Verletzung des Budapester Memorandums durch die Ukraine zu rechtfertigen. Erst jetzt – und nur als Möglichkeit – wurde erklärt, dass die Ukraine über Atomwaffen verfügen könnte. Wir Bürger_innen Russlands sollten in erster Linie das aggressive Vorgehen unserer Regierung für diese Aussage verantwortlich machen. Erst dieser Angriff auf ein komplettes Land – wie aus der Weltkriegsgeschichte bekannt – hat die Weltgemeinschaft dazu gebracht, sich auf einer Seite des Krieges zu positionieren. Dies erhöht das Risiko des Einsatzes von Atomwaffen.
11. „Wir hätten schon während des Maidan Truppen einsetzen sollen, dann hätte es einen echten Krieg nicht gegeben.“
Die Truppen wurden eingesetzt. Das russländische Militär wurde zuerst für Übungen in Alarmbereitschaft versetzt und dann auf die Krim und in die „LDNR“ geschickt. Das russländische Militär in der „LDNR“ entfernte alle Abzeichen der nationalen Zugehörigkeit, ebenso wie das Militär auf der Krim. In der Region Pskow in Russland gibt es einen Soldatenfriedhof. Alle dort starben 2014, höchstwahrscheinlich im Südosten der Ukraine. Schon damals hätte man verstehen müssen: Die Ukraine ist kein abstraktes Territorium, in dem nur die russländische Armee Ordnung schaffen könne, sondern ein Land, in dem Widersprüche herrschen wie in jeder anderen Gesellschaft, ein Land, das sich verteidigen und die russländische Armee nicht als Ordnungsmacht, sondern als Instrument der Okkupation betrachten wird.
Aber das Wichtigste ist, dass der Krieg nicht von selbst kommt. Die Entscheidung, den aktuellen Angriff zu starten, wurde von einer bestimmten Person getroffen, die dies nicht hätte tun müssen, wenn sie es nicht gewollt hätte.
12. „Putin mag im Unrecht sein, aber man darf sich nicht wünschen, dass seine Armee besiegt wird.“
Als Erb_Innen des Landes, das den Faschismus besiegt hat, liegt Patriotismus für uns in der Verteidigung der Würde unseres Heimatlandes und nicht darin, die Regeln der Offizierswürde zu befolgen. Um unsere Menschenwürde zu wahren, dürfen wir Kriegsverbrechen und das Töten von Soldat_Innen und Zivilist_Innen in einem Land, das uns nicht bedroht, nicht zulassen. Der direkteste Weg, eine Niederlage zu vermeiden, besteht darin, seine Energie nicht auf die Solidarität mit einer Armee zu verschwenden, die gegen Menschen vorrückt, die ihr Land verteidigen. Sondern sofort am Aufbau einer Antikriegsbewegung für den Abzug der Truppen aus der Ukraine zu arbeiten. In der Beteiligung an solchen Debatten und Entscheidungen liegt die bürgerliche Freiheit und der Sinn des Lebens.
13. „Die Ukraine verbietet Russ_Innen, Russisch zu sprechen.“
Zunächst einmal muss gesagt werden, dass man die Übernahme eines Landes nicht damit rechtfertigen kann, dass man mit seiner internen Sprachpolitik nicht einverstanden ist.
Jüngsten Umfragen zufolge wird Russisch von einem beachtlichen Teil der Bevölkerung gesprochen: So wurde beispielsweise im Jahr 2020 in Kyjiv im Internet häufiger Russisch als Ukrainisch verwendet. Zwei Drittel der Ukrainer sind der Meinung, dass die derzeitige Sprachenpolitik beibehalten werden sollte (siehe das Gesetz über die Staatssprache); 20 % sind dagegen. Wir sind weder Polizisten noch Mentoren für die ukrainische Zivilgesellschaft. Wir müssen von vornherein darauf vertrauen, dass die Bevölkerung und die Einwohner der Ukraine selbst ihr Schicksal demokratisch gestalten können, einschließlich der Fortsetzung einer bestimmten Sprachpolitik. Es geht darum, ihnen zu vertrauen, dass sie eine Wahl treffen, die den verschiedenen Regionen und Gruppen gerecht wird.
Im Gegenteil: Wir können eine friedliche demokratische Entscheidung verhindern, wenn wir dafür sorgen, dass die russische Sprache automatisch mit der Sprache der Aggressoren und Besatzer gleichgesetzt wird.
14. „Was ist mit dem niedergebrannten Gewerkschaftshaus in Odessa – werden sie das jetzt mit allen Russ_Innen machen?“
Die Mission des UN-Menschenrechtsbüros, dessen Vertreter_Innen die Ereignisse direkt beobachteten, berichtet, dass eine detaillierte Untersuchung des Vorfalls im Gange ist. Es ist bekannt, dass beide Seiten bewaffnet und gewalttätig waren, wobei die Gegner_Innen des Maidan – diejenigen, die der Meinung waren, dass die Ereignisse auf dem Maidan zur Benachteiligung der Einwohner_Innen der Südostukraine führen würden – die ersten waren, die Molotowcocktails warfen.
Die Gruppe, die sich ihnen entgegenstellte, wehrte sich heftig und zwang sie, sich in das Gewerkschaftshaus zu flüchten. Beide Seiten setzten weiterhin Molotowcocktails und Schüsse ein, das Gebäude fing Feuer und die verbarrikadierten Personen kamen im Feuer um.
Hier können wir nur unseren gemeinsamen Standpunkt wiederholen. Wir Russ_Innen sind keine Polizist_Innen oder Mentor_Innen für die ukrainische Zivilgesellschaft. Wir sollten den Einwohner_Innen der Ukraine a priori zutrauen, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, einschließlich der Lösung interner Konflikte, die in jedem Land möglich sind und ganz unterschiedlich ausfallen können. Ein unvollständig untersuchter Einzelfall einer Konfrontation zwischen bewaffneten Gruppen, von denen keine aus gewählten Vertreter_Innen des gesamten ukrainischen Volkes bestand, kann kein ernstzunehmendes Argument für die Diskussion über eine umfassende Bedrohung sein.
Der erste hilfreiche Schritt bei einem solchen Transformationsprozess besteht darin, diesen nicht von außen zu behindern. Wir als Bürger_Innen Russlands müssen uns die Frage stellen: Wollen wir neue Gründe für den Hass auf uns selbst schaffen (wie es Putin jetzt offensichtlich mit dem Angriff auf die Ukraine tut) oder nicht? Wollen wir mit unseren Aktionen Misstrauen und Feindseligkeit zwischen den Menschen in den verschiedenen Teilen der Ukraine schüren oder nicht? Was wir jetzt für den inneren Frieden tun können, ist, mit aller Kraft zu zeigen, dass die Bürger_Innen Russlands die inneren Widersprüche nicht dazu nutzen wollen, die Macht über irgendeinen Teil des Landes zu übernehmen.
Im Gegenteil, die russländischen Behörden nutzen Verweise auf die Tragödie im Gewerkschaftshaus auf zynische Weise, um die Menschen, die davon wissen und sich daran erinnern, auf ihre Seite zu ziehen, während sie immer wieder die „Risiken für die Existenz Russlands“, die die Ukraine geschaffen hat, zu den wahren und wichtigsten Ursachen des Krieges zählen.
15. „Das geht mich nichts an – ich habe selbst genug Probleme“.
Das russländische Verteidigungsministerium macht noch immer keine Angaben zu den Opfern, während das ukrainische Verteidigungsministerium von Tausenden getöteten russländischen Soldaten spricht. Das ukrainische Verteidigungsministerium gibt Informationen über die Gefallenen, Gefangenen und Verwundeten (mit Fotos und Passdaten) weiter, damit Angehörige, die nicht wissen, wo ihre Söhne, Ehemänner und Brüder sind, diese finden können. Sehr viele Menschen in diesem Krieg sind keine Berufssoldaten, sondern Wehrpflichtige. Bis vor ein paar Tagen hätten sie vielleicht nicht geahnt, sich bald im Krieg zu befinden. Die russländische Führung versucht seit Tagen, Kyjiv um fast jeden Preis einzunehmen, und Putin will aus einer starken Position heraus verhandeln. Wenn dem jetzt nicht Einhalt geboten wird, wird der Preis für diese Entschlossenheit die Verlegung von mehr SoldatInnen sein. Immer mehr unserer Bekannten und Verwandten werden direkt in dem Krieg verwickelt sein.
Die Russländische Föderation ist Teil der Weltwirtschaft. Je tiefer unser Regime Russland in den Krieg hineinzieht, desto ernster werden die Sanktionen werden, da ausländische Regierungen nur bereit sind, solche (d.h. nicht-militärische) Methoden anzuwenden, um Putin zur Beendigung des Krieges zu zwingen. Der Zusammenbruch des Rubels wird die Preise aller Waren im Land, die bereits in den letzten Monaten gestiegen sind, drastisch erhöhen. Die Umstrukturierung der Wirtschaft für die Kriegsführung bedeutet das Ende aller Hoffnungen für die einfachen Menschen, sich ein eigenes, friedliches Leben aufzubauen – in Wissenschaft, Industrie, Landwirtschaft, Kunst.
Und als gewöhnliche Menschen werden wir jahrzehntelang gewöhnlichen Ukrainern begegnen – in Russland, in der Ukraine, im Internet, überall auf der Welt. Und spüren ihr Misstrauen und ihre Feindseligkeit uns gegenüber, nur weil wir aus Russland kommen. Indem wir heute unseren Standpunkt zum Ausdruck bringen, unterstützen wir sowohl die Ukrainer als auch unsere Beziehungen zu ihnen für die kommenden Jahre. Die Ukrainer_innen werden nicht nur wissen, dass Putin den Krieg begonnen hat und nicht die einfachen Russ_Innenen, sondern auch, dass es uns kümmerte, als es passierte. Nur dann haben wir eine Chance, uns selbst zu respektieren.
16. „Kann unsere Meinung etwas bewirken?“
Es sind die einfachen Bürger_Innen, die hier zur Rechtfertigung des Krieges benutzt werden. Putin sagt, er erwarte eine „konsolidierte patriotische Position“, während Peskov sagt, die Regierung solle „ihre Position besser erklären“, wenn jemand anderer Meinung ist. Das Schweigen schafft einen Anschein von Unterstützung, mit dem die Regierung den Krieg legitimiert. Nur ein aktiver Protest kann dies ändern. Am Morgen des zweiten Kriegstags wandte sich Volodymyr Zelenskyj an die russländischen Bürger_Innen, die am Abend des 24. Februar auf die Straße gegangen waren, um zu protestieren: „Wir sehen euch. Das bedeutet, dass Sie uns gehört haben. Das bedeutet, dass Sie beginnen, uns zu glauben. Kämpfen Sie für uns, kämpfen Sie gegen den Krieg“. Auf diese Weise zeigen wir durch unsere Proteste unsere Unterstützung für die Ukrainer_Innen und die ukrainische Bevölkerung und stärken so deren Kräfte.
Das (Nicht-)Schweigen betrifft auch die Armee. Putin und die Führung des Landes sind nicht in der Lage, einen einzigen, klaren und präzisen Grund für den Beginn des Krieges zu nennen. Wenn man vom Feind verzweifelt bekämpft wird, wenn man auf fremdes Territorium vordringt und obendrein nicht weiß, wofür man kämpft, ist es viel schwieriger, lange zu kämpfen. Wenn dann noch die Verurteilung des Krieges in den Heimatstädten hinzukommt, können die Soldat_Innen und Offizier_innen zunehmend zögern und ihr Eifer kann nachlassen.
17. „Es ist sinnlos, auf die Straße zu gehen. Alle werden auseinandergetrieben und deportiert. Die Belaruss_Innen haben versagt.
Während die Bedrohung durch die Sicherheitskräfte unbestritten ist, sind regelmäßige und massenhafte friedliche Straßendemonstrationen ein notwendiger Hebel, um Druck auf das System auszuüben. Eine relativ sichere Form des Protests, die auch zur Öffentlichkeitsarbeit beiträgt, ist die Aktion #тихийпикет.(tichij piket; dt.: Streikposten; Mahnwache) Die Teilnehmer_Innen und Besucher_Innen tragen in ihrem Stadtalltag sichtbare Antikriegsaufnäher auf ihren Taschen oder ihrer Kleidung. Dies lenkt die Aufmerksamkeit anderer auf den Krieg, die sich dem Protest anschließen können.
Straßenproteste sind jedoch nicht die einzige mögliche Taktik. Sich symbolisch in die Repressionsmaschinerie zu begeben ist nicht immer die beste politische Aktion. Die Aktivist_Innen erinnern uns daran, dass die größten Proteste den Krieg im Irak nicht verhindert haben. Es gibt noch weitere Taktiken des Widerstands gegen den Krieg, angefangen von öffentlichen Streiks (das Streikrecht ist durch Artikel 37 der Verfassung geschützt) bis hin zum Krankheitsurlaub, der jetzt, während einer Pandemie, sogar noch einfacher zu bewerkstelligen ist (jetzt genügt es, die Symptome einer akuten Atemwegsinfektion zu melden und sich für sieben Tage krankschreiben zu lassen). Selbst die Verbreitung kritischer Themen kann zu Spannungen führen – und den Preis einer militärischen Aggression erhöhen. Es lohnt sich, sich den fast 1.000.000 Unterzeichner_Innen der Petition anzuschließen – es wird helfen, die Botschaft zu verbreiten.
In Belarus wurde ein friedlicher Protest mit Gewalt niedergeschlagen. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass dies mit aktiver Unterstützung von Putin geschah. In Russland würden angesichts der Massenproteste im ganzen Land die Mittel zur Unterstützung der Streitkräfte schnell erschöpft sein. Lukašenko hatte Putin, Putin hat keinen eigenen Putin. Ein Teil der Bereitschaftspolizei und der Kräfte der Nationalgarde wurde in den Krieg verlegt. Das Regime verfügt nicht über unbegrenzte Mittel, um eine wirklich massenhafte Antikriegsbewegung zu unterdrücken