Die junge Autorin Ivana Sajko schreibt in ihrem Debütroman Rio Bar über kaum zu ertragende Befindlichkeiten im Nachkriegskroatien
Eine junge Frau sitzt in einer kroatischen Strandbar und trinkt, um zu vergessen. Doch vergeblich. Vor dem Koma kommt immer das schmerzhafte Erinnern und der unbestechlich deliriöse Blick auf die trostlose Gegenwart. Das Unglück nahm in der Hochzeitsnacht seinen Lauf, als der beginnende Krieg in die Feiergesellschaft einschlug und den Bräutigam aus den Armen seiner Frau riss. Im Bunker dienten die Fetzen des reinen Brautkleids als Bandagen und Damenbinden. Im Flüchtlingslager belauscht die Protagonistin unfreiwillig den Sex in den Nachbarräumen: „Die Massenkarambolage der Liebe erschüttert das ganze Flüchtlingscamp.“ Die Suche nach ihrem Liebsten bleibt vergeblich. Auch nach dem Krieg scheitert sie in den Labyrinthen der Bürokratie mit ihren Bergen von Vermisstenakten. Immerhin hat sie den Krieg überlebt: „Ich habe nur mein Haus, meine Menstruation und meinen Sinn für Humor verloren. Ich darf mich nicht beklagen.“
Ihr neues Umfeld im Küstenort, in dem sie gestrandet ist, gibt jedoch auch wenig Anlass zu Optimismus. Prügeleien, Schießereien, politisch-mafiose Morde gehören zum Standardrepertoire ihrer täglichen Umgebung. An der Oberfläche gibt man sich touristisch offen, man möchte wieder an gute alte Zeiten anknüpfen. Doch die Touristen sind auch nicht mehr die alten. Statt Sonne, Spaß und Sex wollen sie jetzt günstig Immobilien kaufen. Viele Häuser stehen wegen Tod und Vertreibung leer und sind billig zu haben. Die politische Klasse beweihräuchert sich mit Festtagsreden und übertüncht mit verlogenem Patriotismus die eigenen Gräueltaten der jüngsten Vergangenheit. Vor diesem Hintergrund erleben wir eine zutiefst erschütterte Frau, die vergeblich nach Halt sucht.
Für diesen schmerzhaften Zustand hat Ivana Sajko, die sich bereits als experimentierfreudige Theaterautorin einen Namen gemacht hat, einen kongenialen Erzähl- und Sprachstil gefunden. Das 175-seitige Buch ist in 23 Kapitel unterteilt, die nicht logisch aufeinander aufbauen. In diesen Abschnitten verwendet sie verschiedene Zeitebenen und Erzählperspektiven, die kaleidoskopisch die Facetten des Ungeheuerlichen eröffnen. Das Fragmentarische, das den Leser der Hoffnung auf etwas stimmiges Ganzes beraubt, reproduziert auf der formalen Ebene den Zustand der Protagonistin und verstärkt ein betroffenes Unbehagen. Auch sprachlich überzeugt das Buch in Tempo und Ausdruck, das von Alida Bremer aus dem Kroatischen übersetzt wurde. Schnell und abwechslungsreich, nah an der gesprochenen Sprache und dennoch komplex findet der Text für Wut, Trauer, Schmerz und Einsamkeit stets eindringliche Worte: „Ich zische, zerberste, schlage, zerreiße, donnere und bringe meinen Hochgeschwindigkeitsmotor auf Touren, ich sause durch Feuer und Detonationen, ich summe mit den Granatsplittern und stoße Benzin auf, so dass ich mich frage: Bin ich betrunken, oder ist der Mensch wirklich ein Tier, das sich an alles gewöhnt und die Tatsache zu genießen beginnt, dass nichts, aber wirklich nichts mehr genauso ist wie früher und dass man nichts zurückholen kann zu jenem Punkt, an dem alles begann“.
Eine Besonderheit sind die 14 Fußnoten in dem Roman, die am Ende des Buches unter der Überschrift „Anmerkungen über den Krieg“ auf 14 Seiten ausgeführt werden. Diese Anmerkungen liefern akribisch genau und sachlich Hintergrundinformationen zum Kriegsgeschehen in Kroatien. Auf diesen Seiten erhält man insbesondere viele Informationen über die zweifelhafte Aktion ‚Sturm’ der kroatischen Armee, die einerseits die Besetzung Kroatiens beendet hat, aber andererseits – insbesondere aufgrund der Vertreibung der serbischen Zivilbevölkerung – selbst ein Kriegsverbrechen darstellte und dennoch von der internationalen Gemeinschaft weitgehend toleriert wurde. Nicht zuletzt der Hinweis auf die internationale Gemeinschaft sowie der lakonische Satz „Ein Krieg wie alle anderen Kriege auch“ zu Beginn der Anmerkungen verwehren dem mittel- und westeuropäischen Leser jede Ausflucht zu meinen, hier handele es sich um ein spezifisch kroatisches Buch.
Ivana Sajko, 1975 in Zagreb geboren, gehört zu der Generation, die im Jugendalter den Krieg im ehemaligen Jugoslawien erlebt hat und einen kritischen Blick sowohl auf ihr Land als auch auf die internationalen Staatengemeinschaften wirft. Auch ihre Theatertrilogie Archetyp:Medea/Bombenfrau/Europa, die seit 2008 auf Deutsch vorliegt und bereits auf verschiedenen internationalen Bühnen aufgeführt wurde, ist in diesem Kontext zu sehen. Die Texte dekonstruieren gekonnt einige Grundfesten des westlichen Selbstverständnisses und zeugen von der hohen literarischen Qualität dieser bemerkenswerten Autorin.
Sajko, Ivana: Rio Bar. Meandar. Zagreb 2006.
Sajko, Ivana: Rio Bar. Aus dem Kroatischen von Alida Bremer. Matthes & Seitz Berlin. Berlin 2008.